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VI
ОглавлениеSchon bevor die amerikanischen Panzertruppen den Main erreichten, hatten sich der Wehrwirtschaftsführer und Reichstagsabgeordnete Friedrich Wilhelm Ritt in ein kleines Jagdhaus im Taunus zurückgezogen, das von ihm heimlich und vorsorglich erworben worden war, da er auf eine Flucht in die angebliche Festung Alpenland verzichten wollte: Ritt sagte sich richtig, daß die Alliierten, so sie Frankfurt nähmen, in kurzer Zeit auch Oberbayern überrollen würden.
Er hatte sein Versteck mit Behaglichkeit ausgestattet, soweit ihr die Umstände nicht Grenzen zogen; hier wollte der alte Ritt die Wirren des Zusammenbruchs überleben.
Er wußte nicht, daß er gleich beim Einmarsch von einem Kameraden gemeldet worden war, der kein schützendes Schlupfnest hatte und ins Lager mußte. So wurde Ritt schon ein paar Tage später von einem Jeep überrascht, der den Waldweg entlangrollte und vor dem Jagdhaus hielt. Drei GI’s umstellten es mit der Waffe im Anschlag; der vierte hämmerte mit dem Gewehrkolben gegen die Holztür.
Mit zitternden, erhobenen Händen und einem Gesicht, das von Angst verzerrt war, trat der Hausherr aus der Tür.
Die US-Streife fand bei der Durchsuchung des Blockhauses ein üppiges Lebensmittellager, abenteuerliche Zivilkleidung, falsche Ausweispapiere und einen vorbildlichen Weinkeller, über den die Soldaten herfielen, weshalb sie vermutlich ein Bündel mit Dokumenten übersahen, die Ritt zu einer neuen Zukunft im Ausland verhelfen sollten: diese Papiere wären nicht nur ein Braunbuch seiner Vergangenheit gewesen, sie hätten auch dem Alliierten Militärtribunal Aufschlüsse über Untaten abzuurteilender Verbrecher geben können.
Die GIs sahen in dem Verhafteten mehr einen schwächlichen Sonderling als einen gefährlichen Nazi. Sie schafften ihn mit anderen Gefolgsleuten des Führers, die von allen Seiten zusammengekarrt wurden, in ein Internierungslager. Die Elite von gestern bezog morsche, verschmutzte Baracken, die sie zuvor für russische Kriegsgefangene hatte errichten lassen, woran sie nicht dachte, als sie sich über die unwürdige Unterkunft beschwerte.
Diese Gefolgsleute des Führers erwiesen sich nicht mehr als seine alte Garde, die durch Nacht zum Licht marschierte, sondern als eine Horde verwirrter, mißtrauischer oder weinerlicher Männer, die zuviel voneinander wußten und noch mehr preisgaben.
Viele der Herrenmenschen hatten wieder zu ihrer kleinbürgerlichen Herkunft zurückgefunden. Unter den ältesten Kämpfern der Bewegung gab es nach dem Zusammenbruch die erfolgreichsten Denunzianten. Der Verrat wurde im Lager fett wie ein Mastschwein; man tat es aus Angst oder aus Liebedienerei, für eine Zigarette oder einen zusätzlichen Schlag Suppe. Man verkaufte die Kameraden, den Vorgesetzten, den Mitkämpfer; die Internierten unterschrieben wilde Anklagen gegen den Stubengenossen, mitunter auch falsche.
Die verschworene Gemeinschaft, die Friedrich Wilhelm Ritt immer gepredigt hatte, erlebte er nun in der Praxis: Gestern war ihm ein Kanten Brot gestohlen worden, heute fehlte ein Stück Seife. Er hinkte, weil er, als er sich nach der Zigarettenkippe eines Wachtpostens bükken wollte, von einem alten Kameraden gegen einen Zementpfosten geschleudert worden war.
So paradox es schien: körperlich ging es ihm seit seiner Festnahme besser als zuvor. Er arbeitete in frischer Luft; der Entzug des Alkohols und das einfache Essen bekamen seiner Leber; sein zerlaufenes Gesicht wurde fester und verlor die Blässe.
Selbst die Angst, die ihn anfänglich nachts gequält hatte, verlor sich allmählich.
Es geschah nicht viel im Lager.
Eigentlich, dachte Friedrich Wilhelm Ritt, sind diese Amerikaner ganz anständige Burschen. Gewiß, das Essen war schlecht, und viel militärische Disziplin zeigten die Wachtposten auch nicht. Aber da war doch, so meinte er, unverkennbar das angelsächsische Element, die nordische Verwandtschaft: Sauberkeit, Haltung, Ordnung.
Das Lager zerfiel in Cliquen, die einander bekämpften.
Einige Internierte wurden als Zeugen nach Nürnberg gerufen, andere als Angeklagte zu den Kriegsverbrecherprozessen nach Dachau überstellt. Die ersten deutschen Anwälte besuchten die Häftlinge, und die ersten Insassen wurden entlassen.
Vom Blockleiter bis zum Gauleiter wurde die Verteidigung für das zu erwartende Entnazifizierungsverfahren vorbereitet. So sinnlos es schien: selbst hier unter den alten Kämpfern bedachten sich die Männer, die einander denunziert hatten, mit »Persil-Scheinen«; mit Attesten, die sie sich ausstellten, um einander zu entlasten.
Unruhe entstand, als ein neuer Captain in das Lager kam, den noch kein Internierter bisher gesehen hatte. Ein junger, aufgeschlossener Offizier, an die Dreißig, mit dunklen gewellten Haaren und einem alerten Gesicht.
In den Unterkünften der Gefangenen wurde dieses Ereignis heftig erörtert. Der frühere Reichstagsabgeordnete war in einer Viererstube, die außer seinem alten Kampfgefährten Silbermann von der Gauleitung noch zwei weitere Gefangene teilten: Dr. Link, Vorsitzender eines Sondergerichts, ein magenkranker hagerer Mann mit faltigem Hals, schlaffem Karpfenmund und kleinen runden Fischaugen, die früher den Angeklagten vor dem Sondergericht gequält hatten, und Hanselmann, ein rotgesichtiger kahlköpfiger Mann, der im bürgerlichen Leben den Beruf des Henkers versehen und die von Link verhängten Todesurteile an Hunderten von Schwarzsehern, Schwarzhörern, Schwarzschlächtern und Schwarzhändlern vollstreckt hatte.
Dr. Link hielt es für eine amerikanische Zumutung, mit einem Burschen vom Niveau Hanselmanns eingesperrt zu sein. Den moralischen Unterschied sah er nicht, im Gegensatz zu dem US-Lagerkommandanten, der sie bewußt zusammengelegt hatte.
Zwischen den beiden kam es zu ständigen Zusammenstößen, die unterhaltsam für die anderen Lagerinsassen waren, wenn die Internierten auch meist auf Seite des Sonderrichters standen, der heute, in der Hoffnung, von Hanselmanns Gesellschaft erlöst zu werden, die Meinung vertrat, der neue Captain würde der neue Kommandant des Lagers.
»Dazu ist er noch zu jung«, sagte Silbermann. Sein aufgeschwemmtes Gesicht war hohl geworden; der Birnenkopf schrumpfte. Doch dieser Mann, vor kurzem noch die rechte Hand des Gauleiters, wirkte gefaßter als die anderen drei in der Barackenstube.
Friedrich Wilhelm Ritt hatte es inzwischen aufgegeben, hinter Gerüchten herzujagen. Er war mit seinem kleinen Leben soweit ganz zufrieden. Einmal würde die Schranke hochgehen, und wenn er sich auch über die Zukunft der Ritt-Werke mit den Erben von Lessing & Kahn vergleichen müßte: schließlich hatte er immerhin elf Jahre Arbeit in die Firma investiert. Kahns hatte er geholfen; an Lessing freilich dachte er lieber nicht.
Jetzt bereute der Internierte auch, daß er für Martin, seinen Sohn, nichts unternommen hatte. Er war ganz sicher, daß er ihn gerettet hätte, wäre ihm nur bekannt gewesen, wie harmlos sich letztlich der Zusammenbruch abspielen würde. Zu dumm, daß Martin tot ist, dachte er. Ich war nicht herzlos, nur meine Nerven hatten versagt, und so ist der Junge noch kurz vor Torschluß ein Opfer des Krieges geworden, der ohnedies nicht nötig gewesen wäre, wie sich mittlerweile herausgestellt hatte …
Der Lautsprecher ächzte. Alle vier sahen zu dem Gerät über der Tür. Es dauerte immer ein paar Sekunden, bis es warm wurde. So lang war im Raum die Stille synthetisch und die Luft brackig; so lange spürten sie jeweils die Spannung im Nacken wie einen Strick, so lange hofften sie, daß er sich um den Hals des anderen legen würde, nicht um den eigenen; so lange schwitzten die Hände an den Innenflächen; so lange hörte man den eigenen Atem.
Die vier warteten mit flackrigen Augen. Der Karpfenmund des Sonderrichters bewegte sich stumm. Seine Augen wirkten noch kleiner, fern, als verteidigte sich der Mann, der die Köpfe rollen ließ, wieder gegen seine stummen Ankläger.
Hanselmann betrachtete ihn hämisch. Immer hatte er sachlich gewaltet, ohne Zorn und ohne Eifer hingerichtet, bestrebt, es so rasch und schmerzlos wie möglich zu machen, wie es sein Handwerk befahl. Würde man ihn erneut in seinem Beruf einsetzen, würde Hanselmann in gleicher sachlicher Manier weitertöten. Welches Recht, so dachte er, hat dieser Link, mich zu verachten, weil ich seine Schmutzarbeit besorgte, obwohl ich doch auch lieber weiter Vertreter für Haarwasser und Hautcreme geblieben wäre?
«Friedrich Wilhelm Ritt zur Lagerleitung!« kam die Durchsage.
Dr. Link war erleichtert, Hanselmann enttäuscht.
»Bestimmt eine Lappalie«, munterte Silbermann seinen alten Kameraden auf.
Ritt nickte stumm. Er hatte Angst, wollte sie verbergen und entblößte sie dadurch. Er ging mit den Schritten eines Blinden, der nicht erkennen lassen möchte, daß er nicht sehen kann.
»Vielleicht wirst du verlegt – oder gar entlassen«, rief ihm Silbermann nach.
Seine Stimme log, man konnte es hören. Nur Ritt erfaßte es nicht mehr, weil er zu erregt war. Er folgte dem Posten mechanisch.
Ritt betrachtete den fremden Offizier, über den die Stubenkameraden gesprochen hatten. Jetzt hoffte auch er, daß dieser Neue den Kommandanten ablösen und den Kurs im Lager erleichtern würde.
Der unbekannte Captain war von lässiger Eleganz in den Bewegungen, kühl und doch lebhaft. Einer der vielen Yankees, dachte Ritt, die Gummi kauen, Baseball spielen und einhändig essen.
»My name is Ritt«, sagte der Internierte in poliertem Schulenglisch und stand sicherheitshalber vor dem jungen Captain stramm.
Der fremde Offizier taxierte ihn aus der Distanz. Seine dunkelblauen Augen schillerten metallisch.
»Sie können mit mir deutsch sprechen«, erwiderte er gedehnt.
Der frühere Reichstagsabgeordnete zog hörbar die Luft ein; er spürte einen Schwindel im Kopf und ein Brennen im Mund, er wollte diesen Metallaugen ausweichen, aber er konnte es nicht.
»Was ist los mit Ihnen?« fragte der Offizier.
»Ich weiß nicht – Sie – ich meine – haben wir uns nicht schon einmal …?«
»Komme ich Ihnen bekannt vor?« fragte der Captain.
»No, Sir.«
»Sprechen Sie deutsch, Ritt. Ich bin kreuz und quer mit dem Jeep durch Deutschland gefahren, um Sie zu finden.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe mindestens zwanzig solcher Lager durchkämmt. Ich habe an die tausend Fragebogen geprüft, ich habe mit Hunderten von Menschen gesprochen.« Der Ton wurde brüsk: »Es hat sich rentiert, Herr Ritt.«
Der fremde Offizier wandte sich an den Lagerkommandanten, nickte ihm zu: »I’ll take him with me.«
»Okay, Felix, but sign this paper please.«
Der alte Ritt spürte sein ganzes Gewicht auf den Kniekehlen; sie zitterten wie seine Hände. Er hatte begriffen, daß er in ein anderes Lager kommen sollte, und er betrachtete den Captain genau, der kaum älter war, als Martin jetzt wäre – und Felix hieß …
Auf einmal spürte er einen rasenden Wirbel im Hinterkopf. Er atmete schwer, wußte sich umgeben von Flammen, spürte die Hitze, roch den Qualm, hielt sich mühselig am Schreibtisch fest, während der US-Offizier einen halben Kopf kleiner und dreißig Jahre älter wurde, während sich seine Haare weiß färbten …
»Ganz recht«, sagte der Captain, »ich heiße Lessing.«
Ein Posten hatte den Internierten auf dem Weg zum Jeep gestützt. Ritt kauerte auf dem Rücksitz, sah dem Offizier in den Nacken, der vorn neben dem Fahrer saß. Welches Schwein hat mich verraten? überlegte er, während die Landschaft an ihm vorbeiflog, die ihm keine Antwort gab.
Der junge Lessing sagte kein Wort; es war dem alten Ritt recht, aber im Bodensatz der Erleichterung trieb die Angst vor der Zukunft. Ich wollte das doch gar nicht mit seinem Vater, sagte sich der Gefangene, gewiß, eine Abreibung – doch nicht so. Ich bin doch selbst erschrokken, als der Jude entseelt und entstellt am Boden lag, mit offenem Mund und gebrochenem Blick – ein Mann, mit dem man sich vielleicht heute noch arrangieren könnte –, nicht einer wie dieser Offizier, einer aus Martins verdammter Generation …
Der Wagen rollte nach München. Felix Lessing lieferte den Internierten im Gefängnis der Militärpolizei ab.
»Ich möchte«, sagte Ritt, als er merkte, daß der Mann noch immer nicht mit ihm sprechen wollte, »ich möchte mit Ihnen reden – hören Sie, ich muß das …«
»Wir werden uns bestimmt noch sprechen«, entgegnete der Captain.
Felix Lessing spürte, daß er nicht schlafen konnte. Zu lange hatte er auf diesen Tag gespart, an dem er ohne weiteres einen Haftbefehl gegen den alten Ritt erhalten hatte – und alles andere würde sich finden. Felix war entschlossen, den Mann mit der gleichen Präzision zu vernichten, sachlich und rationell, mit der man widerliches Ungeziefer beseitigt.
Er besuchte einen Offiziersklub, aber er traf keine Bekannten, erfuhr, daß sie in einer requirierten Villa im Münchener Norden eine »Schwabinger Nacht« veranstalteten. Er hatte keine Lust auf Liebe, aber er brauchte Menschen, Lachen, Gesellschaft, Ablenkung.
Als er ankam, waren die meisten schon betrunken. Mädchen liefen lachend und halb nackt durch die Räume, verfolgt von Amerikanern, die sie tolpatschig jagten. In diesem Stadium war das Vergnügen mehr komisch als orgiastisch.
Die Offiziere gehörten zu einer amerikanischen Dienststelle mit deutschem Personal, die ihren Stenotypistinnen eine amerikanische Mahlzeit und eine Bescheinigung für das Arbeitsamt bieten konnten. So kamen immer mehr Favoritinnen hinzu.
»Hallo, Felix«, rief eine Platinblonde, aber der Captain ging weiter, ohne sich um sie zu kümmern.
»Laß ihn stehen!« rief ein anderes Mädchen, »du siehst doch, daß er schlechte Laune hat.«
Felix hatte sonst nichts gegen diese Fräuleins einzuwenden, aber er wollte den Tag, auf den er so lange gewartet hatte, nicht entweihen. Er legte Platten auf und trank, sah sich um dabei: Nicht nur der Hunger treibt sie zu Paaren, dachte er, die meisten wollen weniger candies oder Schnitzel, als mit einem Mann zusammensein und keine Feldpostbriefe schreiben. Sie wollen nachts zärtliche Musik hören und nicht auf das Rauschen der Bomben warten. Lieber tanzen und flirten als bangen und sterben. Deshalb nehmen sie diese kräftigen, harmlosen GIs mit den Stifteköpfen in ihre Liebesschule – und diese unverdorbenen Burschen aus den matriarchalischen Staaten lassen sich von ihren Fräuleins für die Nacht abrichten wie Hunde für die Jagd: Hunde, die eifrig apportieren …
Felix wollte den anderen den Abend nicht verderben und ging. An der Tür begegnete er einem jungen frischen Mädchen, das er hier noch nie gesehen hatte, das verloren dastand und, einen Brief in der Hand haltend, ratlos dem lärmenden, tanzenden Treiben zusah.
Eine Betrunkene faßte die Widerstrebende am Arm und versuchte, sie in den Raum zu ziehen.
»Nun komm schon, Susanne – sei nicht so zimperlich!«
Felix erkannte sofort, daß es sich hier um ein Mädchen und nicht um ein Fräulein handelte, das man unter einem Vorwand in die Falle einer Wohnung locken wollte.
»Lessing«, er verbeugte sich knapp. »Das hier ist nichts für Sie. Kommen Sie, ich bringe Sie nach Haus.«
»Ja – aber, ich kann doch …«
»Kein Aber«, entgegnete er.
»Wenn der Brief…«
»Und auch kein Wenn«, setzte er hinzu, während er das Mädchen Susanne zu seinem Wagen führte.