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XI

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Die Militärregierung residierte am Stadtrand; der Volksmund nannte die Straße, die zu ihr führte, die Bücklingsallee. In Scharen pilgerten Supplikanten zu den weiträumigen Gebäuden wie zu einem Wallfahrtsziel – freilich nicht wie Gläubige zum Gnadenort, eher wie Hungrige an die Futterkrippe.

Die amerikanische Residenz war ein schmuckloser Betonklotz, der an eine Kaserne erinnerte, was auch daher kommen mochte, daß die Hausherren ausnahmslos Uniform trugen. Das riesige Gebäude hatte ihrer Wahl, nicht jedoch ihrem Geschmack entsprochen: weil es zentral beheizt werden konnte, intakt war und genügend sanitäre Einrichtungen besaß, war der weißgraue Komplex schließlich zu einem Hauptquartier innerhalb des Vier-Zonen-Deutschlands aufgerückt.

Die Hausherren waren Offiziere, aber keine Buchhalter. Sie waren als Sieger gekommen und nicht als Kalfaktoren. Viele von ihnen wußten, wie man einen Atlantikwall durchbricht, wenige aber, wie man einen Trümmerhaufen verwaltete, was sie nunmehr besorgen sollten, da aus dem Kreuzzug in Europa ein Kreuzweg in Germany geworden war.

Martin näherte sich dem Portal. Er trug einen neuen Anzug aus Zellwolle, der grau war und an den Schultern scheuerte, Bezugsscheinware, dazu schwarze Halbschuhe, ein weißes Hemd mit amerikanischem Kragen, eine dunkelrote Strickkrawatte und deutliche Lust am Leben. Er ging mit saloppen Schritten wie einer, der Zeit hat und Geld, die Not nicht sieht, den Hunger nicht kennt und den Hausarzt nicht fürchtet.

Er betrat die Portiersloge, als erobere er sie; der Pförtner hatte eine gerötete Glatze, eine wichtige Miene und eine selbstgedrehte Zigarette.

»Was wollen Sie?« fragte er in strengem Ton.

»Ich möchte zu Captain Lessing.«

»Haben Sie eine Vorladung?«

»Nein.«

»Dann müssen Sie sich schriftlich anmelden.« Der Pförtner reichte Martin einen Fragebogen. Er sah, daß der ungeladene Besucher ihn gleich ausfüllen wollte, und sagte: »Sie müssen das mit der Post schikken. Sie erhalten schriftlichen Bescheid, so rasch geht das bei uns nicht.«

Martin war erfahren im Umgang mit Behörden und mit Hausverwaltern, die sich wie Hausherren aufführten; er wies seinen Ausweis als Verfolgter des Regimes vor. Ein durchschlagender Erfolg blieb ihm zunächst versagt, denn sehr viele, die hier ein und aus gingen, waren politisch verfolgt worden – oder wollten es gewesen sein.

»Trotzdem«, entgegnete der Portier.

»Außerdem bin ich ein Freund von Captain Lessing.«

»Ein Freund? Von Mr.…«, er hob die Stimme, denn der amerikanische Mister-Rang hatte derzeit den deutschen Doktortitel abgelöst, »von Mr. Lessing?« Er griff zögernd zum Telefonhörer, war noch immer mißtrauisch und telefonierte mit dem Vorzimmer. Um von den Gesuchen der Besetzten nicht überschwemmt zu werden, benutzten die Besetzer die Vorräume als Schleusen. »Captain Lessing ist zu einer Besprechung beim Gouverneur. Warten Sie hier«, sagte der Portier. Er deutete auf eine Bank.

Der Gouverneur war am Ende seiner täglichen Konferenz. Sie hatte wie meist der politischen Säuberung sowie der Verbindung zwischen den alliierten Dienststellen gegolten. Da die örtlichen Militärkommandanten wie absolute Fürsten regierten – Washington war weit, und das Pentagon hatte sich mehr mit dem Sieg als mit der Verwaltung des Sieges beschäftigt –, war je nach Format, Herkunft, Temperament und Auffassung der regionalen Regenten die Anwendung der Kontrollratsgesetze verschieden, so daß zwischen den einzelnen Dienststellen ein Gefälle entstanden war, das viele der Besetzten zu nutzen wußten; es konnte in der Praxis dazu führen, daß Deutsche, die man in Bayern eingesperrt hätte, in Hessen als Hilfsbeamte der Militärregierung fungierten oder umgekehrt.

Der Gouverneur, ein bärbeißiger Colonel der Panzertruppen, hatte im Konferenzraum seinen Ressortchefs einige Beispiele der letzten Zeit berichtet, die von den Offizieren mehr belustigt als erschüttert aufgenommen worden waren. Im übrigen verfügte der Oberst über viele Kriegsauszeichnungen und wenig Verwaltungserfahrungen. Er trug kurze graue Haare zu einem jungen Gesicht, und er war guter Laune, da ihm die beantragte Versetzung von der US-Army bereits zugesichert war.

Captain Lessing saß am Fenster auf der Heizverkleidung und verfolgte mit übereinandergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen die tägliche Konferenz.

Er war vielleicht einer der klügsten, sicher aber einer der unbeliebtesten Offiziere im Haus. Er kümmerte sich so wenig darum wie um den Whiskydunst, der von ihm ausging. Seit einigen Monaten hatte er sich angewöhnt, schon am frühen Morgen mit dem Trinken zu beginnen. Felix verbarg es nicht, sondern betonte es noch, denn sein Gesuch um Versetzung war noch nicht genehmigt worden, da der Gouverneur selbst auf einen trinkenden Captain Lessing nicht verzichten wollte, zumal der Alkohol ihn nicht verdummte, sondern seinen Verstand schärfte.

Dann verfiel Felix in der Officers Mess in den peitschenden, süffisanten Ton, der seine Kameraden verärgerte. Aber lieber mochten sie ihn noch berauscht als nüchtern; in diesem Zustand fürchteten sie seine Art, wenig zu sagen und viel zu wissen, sein spöttisches Zucken um die Mundwinkel, seine knappen Gesten; dann wurden sie unsicher.

»Also, haben wir uns verstanden, Gentlemen?« rief der Gouverneur und beendigte die Besprechung.

Seine Männer nickten ihm zwanglos zu. Ein langer Major sagte zu Felix: »Let’s take a drink!«

»That’s a good idea«, erwiderte Felix. Er ging mit einigen Offizieren zurück in sein Office.

Es lag im zweiten Stock und gehörte zur Informationsabteilung, die die Pressefreiheit in Wort und Schrift kontrollierte. Von einer Militärdiktatur auf dem Verwaltungsweg angeordnet, konnte sie zunächst nicht viel mehr sein als ein gutwilliger, aber gebrechlicher Versuch, den die Papierzuteilung der Besatzung künstlich nährte. Es gab keine Vorzensur mehr – diese seit der braunen Diktatur anrüchige Maßnahme hielt die Militärregierung für überflüssig, denn wenn die deutschen Redakteure ihren Weisungen nicht nachkamen, drohte ihnen die Entlassung.

Susanne, die Dolmetscherin im Vorzimmer des Captains, hörte ihn kommen und erriet aus den Schritten, daß er wieder Besuch mitbrachte. Sie kannte und fürchtete diese Nachsitzungen. Sie sah Felix bekümmert entgegen, der ihr zunickte; drei, vier Offiziere, die ihm folgten, riefen:

»Hallo, Susan!« und betraten lärmend sein Büro.

Er hat wieder einen schlimmen Tag, dachte die Zwanzigjährige. Sie wußte, für Felix war der Alkohol eine Droge gegen die Krankheit Leben. War Felix betrunken, gab er sich brutal, um sich danach um so zärtlicher zu entschuldigen. So wie Susanne ihn haßte, wenn er trank, liebte sie ihn, wenn er nüchtern war.

Sie litt an ihren Gefühlen für ihn. Sie nahm sich vor, ihn zu verlassen, wußte aber, daß sie es nicht konnte, denn sie spürte, wie sehr er sie brauchte, weil er sie liebte und dagegen ankämpfte. Es war, als wolle er die Haß-Liebe zu dem Land, in dem er geboren war, auf Susanne übertragen.

»Die Konferenz ist beendet!« rief der Portier Martin zu. »Gehen Sie zur Anmeldung im zweiten Stock. Wenn die Sie vorlassen …«

Martin stand auf und hastete über den Gang. Das Unbehagen, das sich verbreitete, je mehr er sich der zweiten Etage näherte, war ihm nicht anzusehen. Ob Felix weiß, wer in der Kristallnacht seinen Vater ermordet hat? überlegte er.

Ob er es mir nachträgt? Unsinn! Sippenhaftung.

Das Haus roch nach Maisbrei, Chlor und Lippenstift. Martin kam an Mädchen mit prallen Busen und leeren Gesichtern vorbei; passierte langbeinige, langhaarige Geschöpfe mit üppigen Lippen und wissenden Augen, traf auf Gängen, unter den Türen, in den Vorzimmern naive, kokette, hochmütige, sachliche, reizvolle Mädchen, die appetitlich und gepflegt wirkten, ein lustiges Englisch sprachen und ihren amerikanischen Dienstherren die saloppe Ungezwungenheit abgesehen hatten.

Nicht wenige spielten Amerikanerin und wollten es durch Heirat werden.

Sicher geben sich einige als Pompadours und nutzen ihr befristetes Regime, dachte Martin, aber alle haben Brüder, Väter, Freunde, die etwas brauchen, und wenn sie schon in den Vorzimmern der Macht sitzen, warum sollten sie sie nicht nutzen? Hier kommen wohl auf 200 Amerikaner 2 000 Deutsche, vorwiegend weiblichen Geschlechts, und so schaffen diese Mädchen der Militärregierung, Dolmetscherinnen, Telefonistinnen und Sekretärinnen, zwischen den Siegern, die zuviel, und den Besiegten, die zuwenig haben, einen natürlichen Ausgleich und kurbeln damit die Volkswirtschaft an …

Er hatte den zweiten Stock erreicht und sah sich nach dem Anmeldeschalter um.

»Was möchten Sie?« fragte eine klare Stimme.

Er betrachtete die Zwanzigjährige mit der klugen Stirn, dem knappen Mund und den hellen Augen.

»Zu Captain Lessing«, antwortete er.

»Oh«, sagte Susanne, »wenn Sie Geduld haben. Ich will es versuchen. Warten Sie bitte.« Auch sie deutete auf eine der Bänke.

Sie standen überall längs der Gänge, und auf ihnen saßen die Wartenden wie Hühner auf der Stange während eines Unwetters.

»Grüß Gott«, sagte ein kleiner bescheidener Mann, der aussah, als warte er schon drei Tage. Er trug einen dicken Anzug mit Knickerbokker.

Martin setzte sich neben ihn. Er hoffte, daß er durch die Tür gehen und Felix einfach auf die Schulter klopfen könnte. Aber er hatte auch nichts gegen eine Verzögerung.

Er hörte Stimmengewirr von drinnen, er sah deutsche Angestellte hin und her hasten, sah Besucher kommen und gehen. Manche wirkten, wenn sie mit den amerikanischen Offizieren sprachen, als bückten sie sich beständig, um mit dem Kopf nicht gegen eine unsichtbare Decke zu stoßen.

»Flachbauer, mein Name«, sagte der Mann in den Knickerbockern, »wollen Sie auch eine Lizenz?«

»Für was?«

»Na, heutzutage braucht man doch für alles eine Lizenz, und die Amerikaner sind Bürokraten, kann ich Ihnen sagen, schlimmer als unsere.«

»So long, Felix«, rief ein Bariton von drinnen.

Flachbauer brach das Gespräch ab und sah gespannt zur Tür, aus der vier Offiziere kamen. Der Mann auf der Bank stand auf und grüßte einen von ihnen; doch die Amerikaner gingen an ihm vorbei, als hätten sie ihn nicht gesehen.

Felix Lessing saß in seinem Büro mit angezogenen Beinen. Auf seinem Schreibtisch stand die Whiskyflasche. Susanne sah, daß sich seine Pupillen verfärbten, violett wurden wie Eis im Föhn, und sie wußte, daß sein Gesicht in Stunden wieder aussehen würde wie ein vertrocknetes Flußbett.

»Kann Flachbauer jetzt kommen?« fragte sie.

»Kann warten«, erwiderte der Captain und lehnte sich zurück.

Die Tür zum Vorzimmer stand offen. Felix sah Susanne, verfolgte ihre sicheren, geschickten Bewegungen. Er kannte ihr kurzes Leben auch aus den Akten. Der Fragebogen war in dieser Zeit Beichte wie Visitenkarte. Er wußte, daß Susanne aus einer katholischen Familie kam, daß ihr Bruder gefallen und ihr Vater politisch farblos und unbelastet war: kein Nationalsozialist und kein Antifaschist, ein braver Bürger.

Sie hatte nie mit ihm über ihre Familie gesprochen, nie etwas von ihm gewollt, und selbst wenn sie ihm zürnte, versuchte sie es zu verbergen. Er begriff, daß sie ihn richtig nahm, daß er ihre Passion war, während er Susanne doch nur als Episode ansehen wollte.

Felix trank. Er sah Susannes schweigenden Vorwurf und hielt ihr die Flasche vor wie ein rotes Tuch.

»Willst du etwas?«

»Nein.«

»So du etwas wolltest«, sagte er mit harter Stimme, »wäre es besser, du würdest es sagen.«

Sie überging seine Worte. Ihre Lippen schlossen sich wie eine wattierte Tür.

»Okay«, sagte Felix, »dann ruf diesen damned guy« herein.«

Flachbauer trat mit einer Verbeugung ein.

»Mr. Lessing«, begann er, »leider kann ich nicht englisch, und so muß ich Sie bitten …«

»Zur Sache, bitte!« unterbrach ihn Felix. Ungeduldig setzte er hinzu: »Sie haben Ihre Unterlagen doch schriftlich eingereicht?«

»Ja – und außerdem …«

»Gleich«, sagte der Captain.

Er ließ sich von Susanne den Akt Flachbauer bringen, schlug den Leitzordner auf, ohne den Mann zu betrachten, der seine Schuhspitzen besah. Sie glänzten vor Sauberkeit. Alles war reinlich an diesem Besucher, selbst sein Fragebogen. Felix Lessing konnte in fünf Minuten fünfzig Jahre Leben überblicken.

Er sah diesen Mann in den Knickerbockern als Sekretär einer konfessionellen Organisation vor sich, einen harmlosen Menschen, der nach der Machtergreifung ein paar Tage lang für seine Religion in Haft kam – während sich seine Kirche bereits, wenn auch nur zeitweilig, mit Hitler arrangiert hatte –, er sah die Familie Flachbauer, die Zweizimmerwohnung, roch Bohnerwachs und Mottenpulver, hörte das Klavierspiel der Tochter und das Schulgedicht des Sohnes, klappte den Aktendeckel zu und vergaß den Mann, der auf der anderen Seite des Schreibtisches auf dem Stuhl saß, wie alle anderen Supplikanten vor ihm, die viel mehr von dem US-Offizier verlangt hatten als eine Lizenz für farbige Ansichtskarten.

Felix Lessing bemerkte Flachbauers besorgte Miene nicht. Dieses Mal hatte er es leicht. Bei diesem Besucher brauchte er sich nicht zu fragen, ob er ihm ein Stück künftiger Pressefreiheit anvertrauen könne. Er mochte die Entscheidung nicht, die er zu treffen hatte, weil er den fatalen Gedanken nicht loswurde, daß viele Berufene, die das Dritte Reich überlebt hatten, lieber schwiegen, als den Weg über die Bücklingsallee anzutreten.

Am leichtesten hatte es Felix mit Männern, die er rufen ließ, weil sie nicht freiwillig kamen. Schwieriger war es mit anderen, die sich an ihn herandrängten. Er war kein Diogenes. Er brauchte auch in vielen Fällen keine Laterne, weil sich manche seiner Gäste selbst ins Licht setzten.

Während der Captain dasaß, rauchte, nach Whisky roch und Susannes knappe Bewegungen verfolgte, mußte er seine Besucher auf weiße, graue oder schwarze Listen setzen und zuhören, wie sie die Lücken ihres Lebenslaufes füllten, um gute Vergangenheit in genutzte Gegenwart zu verwandeln.

Felix Lessing war draußen gewesen, in Übersee, weit weg vom Mord, und sollte nun hier rasch und ex cathedra entscheiden, welche seiner Besucher Menschen wie seinen Vater verfolgt oder ihnen heimlich geholfen hatten.

Nicht nur diese Verantwortung drückte. Weil der Militärregierung, oft in bester Absicht, Fehler unterliefen, versuchte er, in seinem Ressort gründlich zu arbeiten.

Er wußte, daß aus den Leuten, denen er heute eine Lizenz gab, die Mächtigen von morgen werden konnten.

Felix versuchte verzweifelt, die richtige Wahl zu treffen, jagte die Aspiranten durch ein umständliches und gefürchtetes Clearing-Verfahren, ließ von Ermittlern ihr Leben umgraben wie ein braches Feld, fand meistens nichts und irrte doch oft.

Wie gestern, da er einem Verleger die Lizenz abnahm, weil der Mann seine Mitarbeit an der braunen Presse mit Erfolg verheimlicht hatte. Jetzt mußte der Captain binnen kurzer Zeit einen anderen Kandidaten suchen, sich dabei der Gefahr aussetzend, durch Zeitnot einen noch größeren Fehler zu begehen.

Felix betrachtete den Mann mit der durchsichtigen Vergangenheit: Er wollte wenig. Das sprach für ihn. Er hat kein Format, dachte Felix, aber saubere Hände. Ist es nicht besser als umgekehrt?

»Also, Sie wünschen eine Lizenz?« fragte der Captain.

»Ja, Mr. Lessing – für handkolorierte Ansichtskarten.«

»Aber deswegen brauchen Sie doch nicht zu mir zu kommen«, erwiderte Felix zerstreut.

»Es ist eine Verordnung der Militärregierung.« Der Mann mit den Knickerbockern schaute auf den Boden, um den US-Offizier nicht der Unkenntnis seiner eigenen Order zu bezichtigen.

»Warum sind Sie eigentlich so bescheiden?« fragte Felix. »Warum begnügen Sie sich mit Postkarten?«

»Es würde ausreichen für meine Existenz.«

»Vielleicht hätte ich etwas anderes für Sie.« Der Captain lächelte über sich. Ja, er hatte es satt, die Wortreichen zu lizenzieren, und außerdem soufflierte seinem spontanen Einfall der Alkohol: »Eine Lizenz für einen Zeitungsverlag.«

Der Besucher verstand ihn nicht; er bangte um seine Ansichtskarten.

»Ich suche noch jemanden für den Tageskurier«, sagte Felix. »Es ist eine der Lizenzen frei, vielleicht für Sie. Was halten Sie davon?« Felix verfolgte jede Regung im Gesicht Flachbauers, bereit, sein Angebot sofort als Scherz abzutun, falls sich sein Besucher als zu gierig, zu töricht oder zu schlau erwies.

Der Bewerber antwortete überhaupt nicht. Er kannte das Projekt Tageskurier, aber es war ihm zu groß.

»Na, was meinen Sie?«

»Ich habe zwar früher schon für eine Zeitung gearbeitet«, antwortete der Mann in den Knickerbockern, »aber ich verstehe vielleicht doch zu wenig davon.«

Felix erläuterte Flachbauer, daß man in Aufgaben hineinwachsen könne und die derzeitige Presse ohnedies von dér Improvisation lebe. Er lächelte über die vertauschte Rolle: statt daß er sich beschwatzen ließ, versuchte er, einem Besucher eine Lizenz aufzureden, von deren Wert der Mann wahrscheinlich keine Ahnung hatte.

Schließlich wollte der Captain ungeduldig die Postkartenerlaubnis ausstellen, als ihm der Mann, der jetzt nervös wirkte, aber doch wohl seine Chance erfaßte, sagte:

»Bitte, verstehen Sie, Mr. Lessing, eine so große Sache möchte ich mit meiner Familie – vor allem mit meiner Frau besprechen.«

»Gut«, sagte Felix lachend, »fragen Sie Ihre Frau; und kommen Sie wieder.«

Flachbauer verließ das Vorzimmer des Captains so rasch, als sei er bedroht worden. Sein Gesicht war zerstreut. Er debattierte innerlich wohl schon mit seiner Frau und ging so achtlos an Martin vorbei wie vorher die amerikanischen Offiziere an ihm. Martin brauchte nicht erst zu fragen, ob er Erfolg gehabt hatte; aber er konnte nicht ahnen, wie reich dieser unscheinbare Flachbauer durch eine Unterschrift seines Freundes binnen weniger Jahre werden würde.

Das Lächeln entspannte den Captain. Susanne war dem Mann mit den Knickerbockern dankbar dafür. Sie betrachtete Felix und sah, daß die Iris seiner Augen nicht mehr violett war, sondern blau, und der Blick auch nicht starr, sondern lebhaft.

Er zog Susanne kurz an sich. Seine Hände streichelten ihre Haare. Sie sah überrascht zu ihm auf, denn sie wußte, daß er Zärtlichkeiten im Office nicht mochte.

»Es ist noch ein Besucher da«, sagte sie.

»Schluß für heute! Der Nachmittag gehört uns.«

»Er hat schon so lange gewartet.«

»Oder willst du nicht?« fragte Felix und spielte mit der Flasche. Er sah Susanne dabei an, als hinge es von ihrer Antwort ab, ob er weitertrinke.

»Doch – aber drei Minuten bloß«, bat sie.

»Eine«, erwiderte er. »Wie heißt denn der Kerl?«

»Ritt«, antwortete sie.

Die Flasche knallte auf den Schreibtisch. Felix Lessings Stimmung kenterte wie ein Boot im Sturm. Sein Gesicht wurde hart, sein Kinn spitz, seine Nase weiß, und seine Augen waren auf der Flucht.

»Den gibt es doch nicht mehr«, sagte er, »den haben wir doch aufge …«

Er stand benommen auf und ging mit schwankenden, taumelnden Schritten zur Tür. Seine unsichere Hand lag schwer auf der Klinke. Dann drückte er sie nach unten.

Die beiden Freunde standen einander mit dem gleichen unsicheren Lächeln gegenüber.

»Martin!« stieß Felix leise hervor; seine Stimme schien sich im Nebel von Landsberg zu verlieren.

Die wilden Jahre

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