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IV

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Drei Tage oder drei Wochen vor Martins Erschießung – der Tod war sicher, doch die Stunde ungewiß – betrat ein seltener Gast sein Verlies: Richter fütterten zwar das Gefängnis mit Schicksalen, aber es war nicht üblich, daß sie hinterher ihre Opfer auch noch besuchten.

Das Grauen hing in der Zelle wie ein schlechter Geruch, an den sich der degradierte Hauptmann Ritt inzwischen gewöhnt hatte. Er stand gleichmütig im Halbdunkel, als Dr. Schiele den Raum betrat.

»Kennen Sie mich noch?« fragte der Mann mit den Basedowaugen.

»Allerdings«, antwortete Martin.

Der Kriegsgerichtsrat zündete sich eine Zigarette an, nahm zwei, drei rasche Züge.

»Stehen Sie bequem«, befahl er dann mit jovialer Kälte. Er nahm die Zigarette noch einmal zur Hand, betrachtete dann Martin, als müsse er sich seine Großzügigkeit noch überlegen, entnahm dann dem Päckchen eine Zigarette, wies sie dem Häftling vor wie einem Hund das Holz, warf sie ihm zu.

Martin apportierte nicht; die Zigarette rollte unter die Pritsche.

»Verwöhnt?« fragte Dr. Schiele.

»Wie man’s nimmt.«

»Für einen Mann, der morgen erschossen wird, sind Sie noch hübsch arrogant, Sie Nichtraucher.«

»Ich habe mir manches hier abgewöhnt.«

Dr. Schiele betrachtete den Mann, dessen Todesurteil er gefällt hatte. Es ärgerte und gefiel ihm, daß er die Würde dieses Gefangenen nicht zerbrechen konnte. Er mochte die anderen nicht, die vor ihm winselten; jetzt aber verdroß es ihn, daß einer anders war.

»Setzen Sie sich, Ritt«, sagte der Kriegsgerichtsrat.

Der Häftling setzte sich auf die Pritsche, unter der die Zigarette lag. Schiele nahm den Hocker und ließ sich breitbeinig darauf nieder.

Wieder sahen sie einander an; dann bot der Richter Martin aus dem Päckchen eine andere Zigarette an. Ritt nahm sie und bedankte sich stumm.

»Ich bin hier, weil ich trotz allem eine Schwäche für Sie habe«, sagte der Kriegsgerichtsrat. »Sie sind der mutigste Feigling, den ich je erschießen ließ. So etwas interessiert mich.«

»Warum?« fragte Martin zerstreut; er versuchte, nicht gierig zu rauchen.

»Ich sagte Ihnen doch schon, daß Sie morgen …«

»Ja, sicher.«

»Ich könnte es verhindern, wenn Sie mich darum bäten.« Er betrachtete den Delinquenten interessiert.

Wenn ich das Gespräch verlängere, überlegte Martin, gibt er mir noch eine zweite Zigarette und vergißt vielleicht die dritte unter dem Bett.

»Also dann nicht.« Dr. Schiele drückte seine Zigarette aus, hielt die Kippe zwischen den kräftigen kurzgliedrigen Fingern wie das Geschick seines Angeklagten, preßte sie aus, zündete sich die nächste an. Seine Lippen, die wie geschlossen wirkten, rauchten genüßlich und lächelten steif.

»Sie interessieren mich«, fuhr er fort, »wie einen Arzt eine medizinische Anomalie. Nehmen Sie an, ich wäre ein Anatom und Sie lebten ohne Herz …«

»Sie haben ein Herz?« unterbrach ihn der Gefangene spöttisch.

»Was erlauben Sie sich?« fragte Schiele ruhig.

»Was soll ich noch fürchten?«

»Sie werden gar nicht erschossen«, erwiderte Dr. Schiele. »Ich habe Sie schon von der morgigen Hinrichtungsliste absetzen lassen.«

Martins Gesicht blieb beherrscht. Er hatte nicht daran geglaubt, daß er am nächsten Tag exekutiert würde, nun wollte er auch nicht daran glauben, daß die Hinrichtung verschoben sei. Er zeigte eine unmenschliche Haltung, aber er wußte, daß sie nicht echt war, daß er sie bald mit siedender, fiebernder Todesangst bezahlen müßte.

»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, sagte Dr. Schiele. »Ich habe mir den Fall noch einmal angesehen. Ich wußte gar nicht, daß Ihr Vater Friedrich Wilhelm Ritt, Wehrwirtschaftsführer in Frankfurt, hoher Parteifunktionär, Standartenführer der Reiter-SS und …«

»DAF-Betriebsleiter, NSKK-Standartenführer, Mitglied des Reichstags, des …« Die Lippen Ritts sprühten die Titel und Namen der Organisationen wie ein Mittel zur Vertilgung von Insekten.

»Danke, genügt«, sagte der Richter, ohne zu lächeln. »Wenn ein Mann wie Ihr Vater etwas für Sie unternimmt, dann kommen Sie noch einmal davon.«

»Vielleicht«, sagte der Delinquent unbeteiligt.

»Weiß Ihr Vater, daß Sie …?«

»Nein.«

»Sie haben ihm das Urteil nicht mitgeteilt?«

»Nein.«

»Verstehe«, sagte Dr. Schiele, »Sie wollen ihm keine Schande …«

»Keine Umstände«, unterbrach ihn der Verurteilte.

»Ich werde ihm also auf dem Dienstweg schreiben«, sagte der Richter. »Sie werden es in einem privaten Feldpostbrief tun.«

»Nein«, erwiderte Martin.

»Warum nicht?« fragte der Kriegsgerichtsrat.

»Sie kennen ihn nicht …«

»Ihr Vater ist mir so wurscht wie Sie. Verstehen Sie. Sie bieten mir eine Chance, einmal einen laufenzulassen.«

»Seit wann so menschlich?«

»Sie sind ein Idiot, Ritt. Alle, die in Ihrer Lage Helden spielen, sind Idioten.«

»Und wenn sich diese Idioten nicht an der Front totschießen lassen, dann besorgen Sie das in der Etappe.«

»Meine Pflicht«, sagte Schiele kalt. »Besser sterben lassen als selbst sterben.«

»Lassen Sie mich endlich in Ruhe.« Martin hatte die Zigarette vergessen. Er spürte erregte Verbitterung, weil er das Gewissen eines Feldrichters aufhellen sollte, der im Krieg ein Durchhaltefanatiker und im Zivilleben womöglich ein Philanthrop war. Er wollte nicht zum lebenden Alibi eines Rückversicherers werden für den Fall, daß ein Krieg verloren werden sollte, den der Richter bis zum bitteren Ende mit Todesurteilen fütterte.

»Ganz recht«, sagte Schiele, »der Endsieg ist weit. Ich glaube auch nicht mehr daran. Das hier«, er lächelte süffisant, »die Todeszelle ist einer der wenigen Orte, wo sich in unserem schrumpfenden Großdeutschland zwei Männer noch offen unterhalten können, zumal, wenn einer auf das Geheiß des anderen bald erschossen wird.«

Seine Eckzähne glänzten. Sie waren aus Gold, dem gleichen Edelmetall, das Schieles braune Auftraggeber aus dem Mund ihrer toten Opfer brechen ließen. Der Führer brauchte Devisen, sackweise. Jeder Sack wog ungefähr sieben Kilo, und je zwei Gramm des Inhalts waren im Durchschnitt ein Leben.

»Sie halten mich für einen Unmenschen. Ich bin nur ein Praktiker. Von mir verlangt man Todesurteile wie von Ihrem Vater Rüstungszahlen. Er liefert Granaten, ich liefere Menschen. Doch ist da ein Unterschied: Ihr Vater ist um jede Granate froh, die er über das Soll hinaus produzieren kann; ich bin dankbar um jedes Leben unter der Norm. Unter der Norm kann ich nur bleiben in besonderen Fällen. Ein besonderer Fall sind Sie. Es ist Ihr Glück, nicht Ihr Verdienst. Sie waren glücklicher in der Wahl Ihres Vaters als zum Beispiel das arme Schwein, das morgen an Ihrer Stelle erschossen wird. Zehn Mann sind zu erschießen. Anordnung von oben. Tut mir leid. Wer Befehle nicht ausführt, landet«, er sah sich in der Zelle um, »hier.«

Martin spürte Zorn, Haß, Spott und Resignation.

»Da stehen Sie nun«, fuhr der Kriegsgerichtsrat fort, »wie Ihr eigenes Denkmal und sehen voller Respekt zu sich hinauf. Vielleicht fallen Sie am Ende doch um. Oder Sie halten es auch durch. Auch solche Narren hatte ich hier schon«, er spuckte das Wort aus, »in meiner feldgrauen Praxis.«

Dr. Schiele stand auf, stieß mit dem weichen Offiziersstiefel den Holzschemel um, sah an der graugekalkten, schmutzigen Zelle entlang, ging probehalber vier Schritte vor, vier Schritte zurück wie sein Delinquent, sah nach oben zu dem winzigen Ausschnitt der Zelle, die auch tagsüber das Licht bemaß, roch nach Kölnisch Wasser, dachte an das Essen und die Brasil hinterher, Friedensware, rümpfte die Nase, verschränkte die Arme, sah Martin Ritt an und sagte:

»Und Sie sind stolz auf sich, Sie Armleuchter, auf was? Sie haben sich in diesem Krieg schließlich genauso einen Dachschaden geholt wie andere ein Holzbein.«

»Vielleicht«, sagte Martin, »vielleicht habe ich aber auch mit meinem Befehl zum Rückzug hundertvierundzwanzig jungen Menschen das Leben gerettet.«

»Selbst da muß ich Sie noch enttäuschen«, sagte der Richter in der grauen Wehrmachtsuniform. »Ich habe mich nach Ihrer Einheit erkundigt. Die gibt’s nicht mehr. Ist bei Kiew aufgerieben worden.« Er lächelte fahl. »Das haben Sie also erreicht, Ritt, nicht mehr.«

»Wann ist mein Bataillon aufgerieben worden?« fragte der Häftling.

»Vor zwei Wochen.«

»Dann haben meine Leute sechzig Tage länger gelebt.«

»Aber wie«, sagte Dr. Schiele. Er gab das Gespräch auf, nickte seinem Opfer zu, klopfte an die Zellentür, ließ sich aufsperren.

Er ging, ohne sich umzudrehen. Ritt hatte nicht auf ihn gesetzt aber, als jetzt das Geräusch seiner Schritte ferner wurde, spürte er eine Hoffnung schwinden.

Dann griff er unter die Pritsche, suchte und fand die Zigarette. Immerhin war ihm von der Begegnung etwas geblieben.

Er zündete sie an, nahm einen tiefen, süchtigen, befriedigenden Zug, zog den Rauch fest in die Lunge, hielt ihn ein paar Sekunden auf, ließ dann einen kleinen Teil durch den offenen Mund, den Rest ganz langsam durch die Nase ziehen; sein ganzer Körper kostete wohlig das Nikotin.

Stiefel wuchteten über den Gang.

Alles war Ritt gleichgültig, außer dem Gift, nach dem jede Pore, jeder Nerv gierten.

Er hörte, daß die Tür aufgesperrt wurde, und tat noch einen raschen Zug, nahm mechanisch Haltung an und sah betroffen, daß der Kriegsgerichtsrat zurückgekommen war.

»Sie können sich also doch noch bücken, Ritt?« sagte der Mann und genoß, wie sich Martins Gesicht mit Scham und Zorn beschlug.

Die wilden Jahre

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