Читать книгу Morbus vitalis - Willi van Hengel - Страница 12

9.

Оглавление

hi ulle,

grüße vom broadway würde ich dir jetzt gerne schicken, du kennst es doch, new york, rechts oben auf der landkarte – ich wäre, hättest du mich damals nicht vor der gangway auf dem flughafen zurückgehalten, sicherlich auf dem weg zur küste, zu diesem riesenweib, du weißt schon, mit dem erhobenen arm und der fackel in der hand, und würde mir wünschen, dass du mir noch ein bier aufmachst, hier neben mir, und ziemlich genervt wärst vom vielen gehen – sollen wir nicht lieber ein taxi nehmen, ich bezahl es auch, würdest du sagen und deinen unmut in dich hineinfressen, nichts weiter sagend, ich weiß, nur schwer atmen, äußerst schwer sogar, um mir ein schlechtes gewissen zu machen, was du immer schon gut konntest … hab ich dich nicht früher schon meister im schlechtegewissenmachen genannt, komm, gib es zu, ach, lass es, darum geht es auch gar nicht.

ich wollte dir eigentlich erzählen, dass ines mich verlassen hat, ein herzschuss von hinten, meuchlings durch den rücken und durch die brust, und nun laufe ich mit einem riesigen loch im körper durch die welt; irgendwie habe ich das gefühl, dass sie (nicht ines, die sowieso nicht, sondern die welt) nichts mehr von mir wissen will; sie hat sich von mir abgewendet, einfach umgedreht und mich stehenlassen; und nun sehe ich ihren rücken und denke mir … ach, eigentlich nichts, also doch, dass ich keinen gedanken fassen kann, der mir irgendetwas bedeutet, mir geht es ganz einfach beschissen, und ich weiß nicht, ob ich es jemals loswerde, dieses scheißgefühl, das alles, wirklich alles aus mir wegsaugt und verschluckt. gestern hatte ich zum ersten mal seit längerer zeit wieder lust, etwas zu essen; ich wäre gerne mit dir zum chinesen gegangen, aber du wolltest ja nicht; wieso eigentlich nicht?

sie hat mich also verlassen; ich hätte sie erdrückt, ihr die luft zum leben, zu ihrem leben genommen; sie sei, so zumindest habe sie sich gefühlt, in das stadium eines kleinkindes zurückgefallen, das noch nicht ich sagen könne.

was soll ich dazu sagen, wenn es so gewesen ist. also ist sie mit einem kleinen psychologiestudenten losgezogen, durch die kneipen und die nächte. irgendwann sah ich auf das damoklesschwert, mit dem sie mich enthauptet hat, und sah mein blut an der scheide kleben und war fürchterlich erschrocken; dann sah ich ein zweites mal hin und erkannte, dass es altes motorenöl war und musste laut lachen; sicherlich kannst du nachempfinden, wie man sich fühlt und welche art von lachen es ist, wenn du mit einem großen loch in der brust herumlaufen musst; und dann glaubst du – immer noch weltlos – auf einer fete zu sein und das feingeschnittene gesicht einer frau zu erblicken, das du nun schon seit drei jahren kennst, plötzlich ganz anders; eva – so war ihr name – küsste mich an diesem abend zum ersten mal auf den mund; als ob man eine büchse aufmacht (so nannte sie es selbst) und dir ein ganz anderer mensch mit einem völlig anderen gesicht entgegenspringt; und nun verstehst du sicherlich, dass ich auf dem broadway herumlaufe, ohne kopf und mit diesem riesigen loch in der brust an einer ampel in der fifth avenue und mir wünsche, wie eine griechische statue im schoße der liebe, der nie die luft ausgehen wird, begraben zu werden, in die trockene, lehmige erde. und ich stelle mir vor, wie auf meinem grabstein der name pygmalion mit allen geburts- und todesdaten, die sein leben bestimmt haben, eingeritzt wird, verstehst du? ich bin es also selbst gewesen, der sich seine himmliche geschnitzt und noch während des schnitzens sich unsterblich in sie verliebt hat.

und nun bin ich es, der sich befreit fühlt (obwohl ines sich befreien wollte) von den fesseln einer liaison, deren in die haut geschnittene enge man meist erst im nachhinein spürt, dann, wenn es fast schon zu spät und der schmerz so groß ist, dass man kaum noch atmen kann. vielleicht sollte ich dir einfach alles erzählen, so lange, bis es mich selber langweilt, dann nämlich habe ich es endlich geschafft und den schmerz überwunden. ich sei in einer stimmung, die man nur als pöömanänt väceischen bezeichnen kann, sagte fabien gestern abend zu mir (wie der hier nach new york gekommen ist und plötzlich neben mir auf einem barhocker gesessen hat, weiß ich nicht); ich tingele von einem café ins andere und sehe mir die schönen spätsommergesichter der frauen an, ihre wie nach hoffnung riechenden körper und ihre manchmal in ein lächeln getauchten blicke.

die zeit summt unentwegt eine melodie; und jeder neue augenblick erzählt sich seine eigene geschichte; das blaue vom himmel: es beugt sich zu mir hinab; manchmal legt es sich sogar sanft auf meine schulter und hebt mich hoch, wie einen schwebenden, eine handbreit über dem boden, fast unbehaust.

in demütigen worten würde ich dir, lieber ulle, meine weltenferne beschreiben wollen, gäbe es da nicht die schönheit genialer köpfe. der menschen worte verstand ich nie – im arme der götter wuchs ich groß. getragen vom wind wie die schweren köpfe roter und weißer pfingstrosen, leicht hin und her schaukelnd in der unendlichen entjungferung eines einzigen zentimeters. du kennst das ja, oder?

mensch, ulle, wie habe ich bisher gelebt, wie habe ich diese ständige erwartungshaltung meines lebens ertragen können, als ob noch etwas großes geschähe, etwas außergewöhnliches, ja weltbewegendes. man träumt von freiheit, nur solange das eigene leben eine tagtägliche flucht vor der inneren leere ist – und man alle kraft aufbringen muss, um nicht im sud der scham vor sich selbst zu ersticken; und es bleibt nur ein traum, ein heiliges wort, solange nämlich der mut fehlt zu trotzen und sich für sich zu verweigern.

nicht nicht dienen, sondern zu nichts dienen! dann erst bist du es, frei für alle gedanken einer welt, die du eh nie kapieren wirst und die dir deshalb irgendwie egal sein muss, wenn du nicht dabei draufgehen willst, verstehst du, gleichgültig und bedeutungslos, um fortan in jeder lüge leben zu können – in jeder lüge (wie gern würde ich kursiv sprechen können). du weißt ja, was ich mit lüge meine, nicht wie du deine mutter immer belogen hast, dass du in die kirche gehst und besonders aufmerksam zuhörst, was der pfarrer sagt, und du stattdessen immer zu mir gekommen bist und wir zusammen sportschau gekuckt haben, nein, lüge nur allein als gegenwort zu wahrheit, die es nicht gibt, niemals und nirgendwo, glaub es mir!

wieder sitze ich in einem café: lass es von mir aus einmal nizza sein, oder wien, oder sevilla, dazu noch ende september, nachmittags gegen vier, den tag vergessen, trinke mein zweites glas rotwein (pernod hätte ich in paris getrunken) und schreibe dir; du musst mir glauben, dass ich für einen moment nicht wusste, welcher wochentag heute ist, welches datum also, heute oder gestern, vorgestern oder morgen. aber so geht es mir ja schon seit einiger zeit. an meinem wackligen tisch sitzen (mit mir?) zwei mädels, nicht mehr mädchen und noch nicht frauen, es gibt einfach kein passendes wort dafür, eine etwas dickliche mit leggins und blutroten kurzen haaren und einem fettigen gesicht, die andere ist ein wenig zierlicher, aber ebenso unansehnlich wie ihre dicke freundin; doch sie hat etwas amüsantes, eine trotzig herabhängende unterlippe, die mich an ein kleines schiff erinnert, das aus dem gesicht segeln will, kaum noch aufzuhalten; sie reden über eine klausur, die sie wohl gerade geschrieben haben, und langweilen mich unendlich damit. aber ich denke nicht, dass ich es ihnen sagen werde.

ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen werden, auf ein bier oder so, um uns dann über deine zukunft zu unterhalten und überhaupt über dein leben, so kann es schließlich nicht weitergehen mit dir (lach nicht!). mögen auch deine kopflastigkeiten zerstreuung finden. die sonne scheint mir auf den buckel, und mir ist, als lägen einige kilo wärme auf meiner schulter, die ich gleich abnehmen und mir ins gesicht (wo ist es überhaupt, manchmal suche ich tagelang danach) schmieren werde. die beiden mädels an meinem tisch reden nun endlich über jungs, aber so leise, dass ich nichts verstehen kann; das kleine schiff ist immer noch nicht aus dem gesicht der etwas hübscheren gefallen; vielleicht ist sie ganz einfach zu trocken.

schlimm, was man alles so denkt, aber, wie es scheint, nicht schlimm genug, um es lächerlich zu finden, aufs schlimmste zu. wie schlimm denn noch?

ich bestelle mir nun noch einen rotwein (oder war es pernod) und lass mich von meinen gedanken tragen, da hin, wo sie mich hintragen wollen, vielleicht sogar ins niemandsland, dort, wo die götter mich umarmen! nun aber grüße und umarme ich dich, ulle, in der hoffnung, dich bald wiederzusehen, vielleicht in prag oder »hier« in new york vor diesem riesenweib. bald, das versichere ich dir, werde ich sie besteigen, und dann werde ich leuchten, werde ich die fackel in ihrer hand sein.


Morbus vitalis

Подняться наверх