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10.

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Ach, Ulle, seufze ich, lehne mich zurück, bestelle ein weiteres Glas Rotwein und sehne mich nach einem Stück Himmel. Ich hätte dir vorgestern noch so viel zu sagen gehabt, von Ines und Eva und Claudia und Helen und Barbara, ja auch von Heiner und Klaus und Fabien und Hans, aber wie soll ich all diese Gedanken zusammenbekommen, wenn mir der Kopf fehlt; der ist einfach so abgefallen vom Hals, ohne sich von mir wieder finden lassen zu wollen.

Weißt du was? Es gibt da eine schöne Geschichte. Es ist die Geschichte der Göttervögel, wie sie von Ramakrishna oder Dschuang Dsi schon erzählt wurde, von den Vögeln, die höher fliegen, als die Gipfel des Himalaya aufragen. Sie heißen Göttervögel, weil sie unsterblich sind. Schweben sie erst einmal in den Lüften, sind sie von den Schwerkräften der Erde entbunden. Sie brauchen keine Nahrung aufzunehmen, da sie sich selbst genügen. Es wären keine göttlichen Vögel, wenn sie einmal auf dem Boden landen würden. Sie halten sich ausschließlich in den höchsten Höhen, über den Grenzen der Wahrnehmung, auf und schlafen auch in der freien Höhe, und lieben sich unter offenem Himmel und über der offenen Erde.

Sie scheinen nichts zu brauchen außer Höhe und Weite, als seien sie imstande, sich durch die Nabelschnur der eigenen Seligkeit zu versorgen. Der einzige Augenblick (aufgeschlagenes Lid, als schlüpfe das Auge heraus) im Leben eines Göttervogels, in dem dieses losgelöste Dasein in Gefahr gerät, gestört zu werden, existiert ganz zu Anfang. Denn als erdentbundene Geschöpfe legen die Göttervögel ihre Eier in die Luft. Während das Ei aus größter Höhe der Erde entgegenfällt, brütet die Sonne es aus. Wenn die Mutter hoch genug geflogen ist, dann ist die Zeit, die bis zum Ausschlüpfen des Jungen vergeht, gerade ausreichend, damit das stürzende Ei noch über der Erde von innen her zersprengt wird – der junge Göttervogel schlüpft in der Luft aus, spürt den Sturzwind in den noch nassen Federn, fängt sich im freien Fall, breitet die Flügel aus und widersteht dem Abgrund, ändert die Richtung (Daumen aufwärtsgestreckt) und wird ein neuer Luftbewohner.

Aber längst nicht alle Jungen schaffen es, noch über der Erde auszuschlüpfen und sich in der Luft zu fangen, ins Leben zu stürzen. Vielleicht haben Wolken die Sonne verdeckt und dem herabstürzenden Kleinen die zum Brüten notwendige Wärme genommen. Jedenfalls geschieht es nicht selten, dass die Zeit für das Götterküken nicht genügt, um sich rechtzeitig zu befreien. Die Schwerkraft ist zu stark, der Sturz zu schnell, die zusammengepresste Gestalt des Vogels bleibt in seinen Kalkkerker eingeschlossen, während der Erdboden sich bedrohlich nähert. Verzweifelt (Leben ist Instinkt) will das Junge heraus, aber es ist zu spät, die Erde saugt mit ungeheurem Sog das stürzende Ei zu sich hinunter – und so geschieht, was sich dem Eigentlichen verwehrt und dem Uneigentlichen sich hingibt: das Ei zerschellt am Boden.

Von Helligkeit und Schwere niedergeschmettert liegt es auf der Erde, flügellahm dem Tod zugewandt, der Zeit ihre Späte ablesend, zu spät; vielleicht ahnt es jetzt, noch, ein letztes und zugleich ein erstes Mal, endgültig – der kleine nasse Körper von den zerbrochenen Schalen aufgespießt –, dass es nie wieder fliegen lernen wird, sich nie wieder aufschwingen wird in göttliche Höhen: Göttervogelhöhen, jetzt im zerbrochenen Gebaren seiner Flügel, lustlos geworden wie jedes Atemversprechen, bis man, hoch oben, höher noch, fast keine Luft mehr bekommt: vor Lebensfreude, Lebenslust, grenzenlos.

Wortverschüttet: wo man endlich keine Sprache mehr nötig hat. Und manchmal kommt es vor, dass sich das Junge aufrafft und überlebt hat, auf der Stelle flattert und fürchterlich resigniert im Bewusstsein, dass ihm nur noch eines, ein einziges übrig bleibt, um nicht völlig aus dem Leben zu scheiden: gehen zu lernen: aufrecht oder nicht: das spielt zunächst keine Rolle: der erste Gedanke, die Verdammnis, steigt auf: die letzte, einzige Möglichkeit, frei zu sein, ausgerechnet in seinem Gegenteil: der Eindimensionalität der Worte, die alle, alle, Flügel haben – nur: wir erkennen sie nicht: es wäre das Lachen schlechthin!

Nahrung? Nur die Reiskörner der Verzweiflung. Ich wusste, dass es so kommen würde. Ihre Frage schnitt uns auseinander, mitten durch uns hindurch. Wir hatten die Frömmigkeit des Sonntagnachmittags niedergewalzt mit unserer guten Laune, erstickt mit Wein und Lachen. Abends – es war der erste Tag, an dem die Uhren diese eine Stunde Sommerzeit wieder hinuntergeschluckt hatten – sind wir etwas essen gegangen, einen großen Salat, ein Steak mit Kroketten, jedoch keine Nachspeise, kein Dessert. Im Dunkeln, draußen, eine kleine Kerze auf dem Tisch: Friedhofslicht, sagte ich irgendwann einmal, aber Eva reagierte nicht. Nachdem wir einen Tequila getrunken und bezahlt hatten, wollten wir spazieren gehen. Aber wir hatten keine richtige Lust, uns durch die dunklen Straßen zu bewegen. Also sind wir ins nächste Café gegangen, ins Pamphlet; man sah durch die große Scheibe hindurch, dass es sehr voll war. Während ich mich nach einem bekannten Gesicht umsah, hatte Eva zwei Hocker gefunden, die wir ans Ende der Theke trugen, wo noch etwas Platz war. Aus dem Blickwinkel beobachtete ich einen Jungen mit einem sehr fein geschnittenen Gesicht, das von schulterlangen dunklen Haaren eingesäumt war; er unterhielt sich mit einem etwas bäuerlich wirkenden Mädchen, das sich sehr für ihn zu interessieren schien. Aufgeregt spielte er mit seinen Fingern am unteren Rand seines Bierglases. Mit der anderen Hand strich er sich immer wieder durchs Haar. Von Zeit zu Zeit führte er das Glas an seinen Mund. Dabei wurde sein Blick ganz starr. Er schien sich dabei ungemein konzentrieren zu müssen und völlig in eine andere Welt abzutauchen. Es erinnerte mich an Fabien. Auch er trinkt wie ein kleiner Junge, so als lerne er es gerade erst. Gespannt bannt er seine Augen auf das große schwere Glas oder die große noch schwerere Tasse, in die er seine Nase weit hineindrängt, als könne er es immer noch nicht fassen, dass plötzlich etwas Flüssiges über seine Zunge rinnt. Es amüsiert mich, ihn dabei zu beobachten. Gleichzeitig macht es mich aber auch unheimlich wütend, weil Fabien währenddessen dann ganz einfach weg ist und einem nicht mehr richtig zuhört. Jedes Mal muss ich das, was ich gesagt habe während er trinkt oder isst, aufs Neue wiederholen, da er völlig versunken ist in die kleine Welt seiner Tasse. Mittlerweile warte ich und sage so lange nichts mehr, bis er wieder da ist und mir einigermaßen zuhört.

Ob ich überhaupt einen Menschen lieben könne, fragte Eva mich plötzlich, ziemlich ernst. Ich war erschrocken, weil sie mich auf dem falschen Fuß erwischte und mit dem Rücken gegen die Wand drückte. Ob sie einen anderen Menschen als mich meine, fragte ich zurück – und sie nickte. Mich störte ihre Frage, eigentlich belästigte sie mich sogar, weil ich mich aufgefordert fühlte, klar Stellung zu beziehen. Das aber wollte ich nicht. Ich konnte ihr aber auch nicht ausweichen. Jedes Wort, das nicht stimmte, hätte sich selbst entlarvt. Ich fühlte mich unwohl. Die laute Musik störte mich genauso wie das schnelle Wechselspiel von hellen und dunklen, blauen und weißen Lichtfetzen, ebenso der miefige Zigarettenqualm und überhaupt die ganzen Leute, die in diesem Moment alle glücklicher zu sein schienen als ich.

Ob ich einen anderen Menschen lieben könne? Ich war in einer Zwickmühle. Egal wie ich reagieren oder was ich sagen würde, es würde gegen mich sprechen. Was also sollte ich machen? Sie ansehen und sagen, dass ich es nicht wisse – oder mein Auge abwenden und nicht verschweigen, dass ich niemanden lieben könne, weil ich mich selbst nicht liebte. Oder sollte ich ihr sagen, dass ich nie gelernt hätte, zu lieben.

Aber das wäre doch viel zu billig. Meine Verlegenheit hätte ich damit nicht abgehängt. Außerdem ging es ja wohl um etwas ganz anderes. Wollte sie mir nicht sagen, dass sie sich nicht geliebt fühlte von mir?! Warum aber stand sie dann nicht auf und ging? Oder hatte sie vielleicht noch nie einen Menschen wirklich geliebt? Und ich dachte, welche ein Glück, dass man manchmal nur vielleicht sagen muss.

Endlich erschien die Bedienung mit einem Tablett voller Bier. Sie schob es auf unseren Tisch und tauschte die leeren mit den gefüllten Gläsern aus, sehr behutsam, ihre zarten Finger umschlossen das Glas wie das Gelenk eines geliebten Menschen. Nichts konnte sie wie es schien aus der Ruhe bringen. Ihr langes dünnes Haar, stechend braun wie ihre Augen, fiel bis zum Gürtel ihrer Jeanshose hinab. Wenn sie ein wenig den Mund öffnete, dann zeichnete sich ein weiches Lächeln in ihr Gesicht, allein durch die weißen Zähne, die sichtbar wurden. Sie war nicht hübsch; aber sehr eigen. Das Funkeln ihrer dunklen Augen nahm mich gefangen: musste zurücklächeln, ob ich wollte oder nicht. Aber ich wollte ja. Nachdem sie auf jeden Deckel einen Strich gezogen hatte, nahm sie das Tablett wieder auf die Hand und ging zum nächsten Tisch. Nun stand sie mit dem Rücken zu uns. Mein Auge glitt wie auf einer Rutschbahn hinab auf ihre Taille, zu den schmalen Hüften und ihren langen dünnen Beinen. Eine zierliche Person war sie, die einem Mann sehr wenig Land bot, auf dem er seine Phantasie spielen lassen konnte.

Schließlich fragte ich Eva, ob sie lieben könne. Noch während ich es aussprach, spürte ich, dass ich gar keine Lust hatte, darüber zu reden. Ich wollte nichts hören, wollte nur ein Glas in der Hand haben, Bier auf der Zunge schmecken und an nichts denken, nur bei ihr sein. Ich spürte, dass sie wusste, dass ich mich in diesem Augenblick über mich selbst ärgerte.

Erinnerst du dich noch daran, als ich dir zum ersten Mal von meiner Trennung von Ines erzählt habe? Du kamst gerade mit einer vollbepackten Korbtasche aus deinem Lieblingssupermarkt, Resi oder so ähnlich, und ich war mit Ines’ Auto unterwegs und hupte dir einen Schreck ein, als ich dich sah. Zuerst gucktest du mich entsetzt und böse an; doch dann, als du mich erkannt hast, versickerte dein strenger Blick in einem aufgehenden Gesicht. Du fragtest mich, wie es mir ginge. Und ich schüttelte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern, so lala, und verriet dir, dass ich mich gestern von Ines getrennt hätte.

Wirklich, fragtest du erstaunt, als wolltest du es nicht glauben. Und ich sah in deine Augen, sah deine Nase, deinen Mund, deine eingecremten Wangen, dein herzhaftes volles Haar und deine Brüste, die sich mir entgegenreckten, als du die schwere Tasche von der einen Schulter auf die andere gehievt hast. Wir haben uns noch einige Zeit unterhalten. Und ich habe dir immer wieder gesagt, dass ich dir alles einmal ausführlich erzählen werde, bei einem Bier, und habe dir dies und jenes und jenes und dieses erzählt, warum ich glaube, dass es so gekommen und vielleicht auch besser so sei und in den letzten Wochen und Monaten die Atmosphäre immer gereizter und unerträglicher wurde.

Wir sind dann doch, obwohl über diese Sache eigentlich nichts mehr zu sagen war, mit dem Versprechen auseinander gegangen, uns auf ein Bier zu treffen. – Demnächst mal ich ruf dich an, hast du gesagt, doch wir haben dieses Versprechen nie eingelöst, nur wir beide an irgendeinem Tisch in irgendeinem Lokal, vielleicht auch draußen unter freiem Himmel, im Sommer bei schönem Wetter, abends, vor einem großen Glas. Erst auf deiner Geburtstagsfeier haben wir uns (lieben wollte ich zuerst sagen, sagte aber dann) näher kennengelernt. Es hat ganz einfach paaf gemacht; wie sagtest du letzt: wie eine Büchse, die man öffnet, und es springt dir eine Papierschlange ins Gesicht.

Über Evas Schulter hinweg sah ich zur Theke, die vielen verschiedenen Schnapsflaschen auf gläsernen Regalen vor einem großen Spiegel. Einsame Rücken und Hinterköpfe, die vor verschränkten auf der Theke liegenden Armen Haltung zu wahren suchten, anekdotenhafte Pärchen, die wie eine auseinander geschnittene Verdammnis aussehen, Symbiosen der Liebe. Aus dem hinteren Raum, vor den Toiletten, kam eine schöne Frau auf uns zu. Sie wollte, wie mir schien, mit ihrer Freundin, die hinter ihr herging, das Lokal verlassen und schlängelte sich durch die vielen Menschen hindurch zur Tür. Mir blieb somit nur wenig Zeit, etwas mehr als nur ihr Gesicht zu erkennen. Zwischen Eva und dem Nebentisch schrieb sich die Möglichkeit meines Blickes für sie ein. Doch es war nur ein kleiner Ausschnitt, und ich wurde gezwungen, mich zu entscheiden.

Ein schönes Gesicht, sagte Eva plötzlich (sie war meinem Blick gefolgt und hatte ihren Kopf zur Seite gedreht).

Ja, äh, glaube schon. Aber ich habe, wenn ich ehrlich sein soll, äh, nur ihren Oberkörper und ihre Beine gesehen, mehr Zeit blieb mir nicht. Um sie ganz sehen zu können, hätte ich ein Auge da (ich tippte mit dem Zeigefinger auf meine Nasenspitze) und das andere Auge: da (mit dem zweiten Zeigefinger tippte ich nun auf meine Stirn) haben müssen, also vertikal.

Eva sah mich etwas verwirrt an und musste laut lachen. Ihre Augen funkelten wie Perlbläschen in blauem Sekt. Und ihre schönen weißen Zähne strahlten über das ganze Gesicht.

Was ich am meisten an ihr liebte, war diese bestimmte Form ihres Mundes, die sich immer herausbildete, wenn sie fröhlich war und lachte. Wie zwei miteinander spielende Wellen bewegen sich dann ihre Lippen, aufbäumend, nur für den Augenblick entworfen, für mehr nicht. Schön. Wenn sie nun in mich hineinsehen könnte, so würde sie mich tanzen sehen, ein Schweigen, das lange Schatten von sich wirft, hinaus an die Oberfläche des Meeres, das Haut ist und Auge, verborgener Geruch und souveräne Selbstauflösung,

Vielleicht tut sie’s ja, vielleicht sieht sie in mich hinein, mit einem anderen Wort als meine Haut oder mein Auge, mein verborgener Geruch oder mein vermeintliches Ich ihr vorschlagen, mich zu sehen, was dann Tiefe genannt zu werden pflegt. Vielleicht lacht sie deshalb, weil sie mich so sieht, tief in mich hinein, und das Licht meiner Schatten erkennt, das sie aufnimmt und erwärmt.

Meine Hand liegt ausgestreckt auf dem Tisch. Sie wartet auf die ihre, die sich auf sie legen mag, auf mich, so, als breite sie eine kuschelige Decke über mich aus, mehr als nur Haut und Fleisch, als nur ihre Haut und ihr Fleisch, es würde nach Seele riechen. Doch sie rührt sich nicht. Sie rührt sich nicht. Doch, sie rührt sich! Aber nicht um meinetwegen. Sie führt das Glas an den Mund und stellt es wieder ab. Und verschwindet unter dem Tisch, wahrscheinlich in ihrem Schoß. Sie wartet auf etwas. Aber auf was. Oder, nein, vielleicht aber doch, will sie gar nicht mehr von mir. Vielleicht hält sie sich zurück, um mir Zeit zu lassen, Zeit, um mich endgültig von Ines zu lösen, und zwar ganz, so könnte sie denken, also jetzt nichts überstürzen, immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass ich nach zwei Monaten wieder zu ihr zurückkehren will; und ein altes Klischee, über das ich früher immer hämisch grinsen musste, zu einer vollends komischen Wirklichkeit, meiner nämlich, geworden wäre, ich also räuspernd und verlegen Hör mal Eva zu Eva sagen würde, Ines und ich, wir … – und sie enttäuscht Jaja erwidern würde, du brauchst mir nichts zu erklären, ich habs geahnt – und mit aller Kraft ihre Tränen zurückhielte.

Ich glaube, es ist so. Aber ich will keine verdorrten Samen verstreuen, dachte ich, lass uns Zeit, vor allem ihr, und sah dem Gedanken zu, wie er hinübersprang zu etwas anderem, hätte ich gesagt, hätte mich jemand gefragt, hinüber zu Malraux, daran, dass Claudine fast krankhaft eifersüchtig gewesen ist, verständlicherweise, da er nicht mit ihr, sondern mit Elaine sterben wollte, und auch mit Elaine gestorben ist, in den Tod gefahren, schnurstracks gegen einen Betonpfeiler auf der Landstraße zwischen Dijon und Brêlet, eine Eisenbahnbrücke, wie in einen Mund, in den man mit seinem ganzen Gesicht, seinem ganzen Leben hineinfahren will, aber, vorerst, an seinem aufgerollten Betonfleisch, den Lippen, hängen bleibt, wie so oft, dem Tod einen Kuss gebend, wie eine Einlösung zum Verschwinden.

Vielleicht haben sie gemeinsam Angst gehabt – wie Kleist vor 200 Jahren mit seiner Ulrike am Wannsee – und dennoch gelächelt, weil, endlich, das Leben einen Sinn hatte, in der Unwiderruflichkeit des Augenblicks, auf den letzten Zentimetern des Seins und die Angst vielleicht umschlägt in eine unheimliche Freude, ja, Liebe zu ihm, dem Tod, Freund Hein, begleitet von lauter Musik aus dem Radio mit der einen Hand das Lenkrad, mit der anderen ihre Finger (sie waren eiskalt) haltend, Händchen haltend in den Tod zu zweit, die unsterbliche nahste Nähe, die je zwischen zwei Menschen möglich sein wird, also das, was Claudine bis aufs Blut ärgerte und auf ewig eifersüchtig machte.

Ich hatte Lust, sie zu berühren, ihre Haut, die in diesem Sommer unberührt geblieben ist, Schnee auf ihrem Körper, warmer Schnee, der nie schmilzt, es sei denn, sie verschwiege sich mir. Ich habe sie noch nicht nackt gesehen; nur berühren durfte ich sie, überall, im Dunkeln. Wir haben uns liebkost und gestreichelt und sind, ohne ineinander zu dringen, nebeneinander eingeschlafen, wie zwei Fragezeichen, beide auf der Seite liegend, ihren Rücken gegen meine Brust und ihren Po gegen mein anschwillendes Glied gepresst. Meine Hand klebte an ihrem Busen, glitt dann ab auf ihren Bauch, geliebte Fettröllchen.

mir liegen reife frauen mit fettröllchen (zu füßen). So begann meine Widmung auf der ersten Seite des Buches, das ich ihr zum Geburtstag geschenkt habe, ein Buch, das mich selbst nicht im Geringsten interessierte, den Titel gleich wieder vergessen, irgendetwas schön Erzähltes, nichts zur inneren Auseinandersetzung, nichts um sich zu quälen, also nichts für seltene Menschen. Fast eine Stunde habe ich in diesem fürchterlichen Buchladen verbracht, in dem nichts nach schönen und interessanten Büchern, sondern alles nur noch nach Geld und Aufmachung roch, sogar die Schnepfen an den Kassen und Informationsständen rochen danach, und es liegt mir oft auf der Zunge, eine von ihnen zu fragen, wie viel sie koste. Fast eine ganze Stunde habe ich nach einem Buch für Eva gesucht, und fast eine ganze Stunde nicht das richtige gefunden. Ein philosophisches Buch wollte ich ihr nicht schenken – sie hätte es sicherlich nur einmal mir zuliebe und sonst nie wieder in die Hand genommen und für die restliche Zeit ihres Lebens ins Regal gestellt; aber ich wollte ihr auch nicht eins schenken, das nur meine Phantasielosigkeit verriet; auch das wäre irgendwo im Regal oder im Bücherschrank gelandet und bei lebendigem Leib von der Gewohnheit des Blicks mehr und mehr zerfressen worden.

Gedichte? fragte ich mich, während ich auf einen roten Einband blickte und Liebesgedichte las. Schon allein das Wort langweilt mich zu Tode; wie fad es klingt: Liebesgedichte, jedes Wort erinnert an das Gähnen eines Nilpferdes, das mitten im Fluss steht, dabei Wasser schluckt und kräftig rülpst. Also ein Roman! Aber nichts Experimentelles! Also eine ganz normale, schön erzählte Geschichte: Subjekt, Prädikat, Objekt. Ich erinnerte mich plötzlich daran, dass Eva einmal sagte, dass sie gerne in eine andere Welt abtauche, in eine schön erzählte Geschichte. Also verließ ich die denkerisch-experimentelle Ecke und ging hinunter ins Parterre, an den kleinen gelben Reclamheftchen vorbei hin zu dem Tisch in der Nähe des Ausgangs, auf dem die schön erzählten Geschichten lagen, also die Bestseller, und nahm das Buch mit dem lächerlichsten Cover in die Hand, nach fast einer Stunde. Wie muss ich diese Frau lieben, hätte ich damals denken müssen, hätte ich es denken und demnach fühlen können, wenn ich fast eine ganze Stunde wegen ihr in einem der fürchterlichsten und ekelerregendsten Buchläden der Stadt verbringe – und das nicht einmal in der philosophischen oder dichterischen Abteilung.

Beim Hinausgehen fiel mir ein, dass ich schon lange nicht mehr in der philosophischen oder dichterischen Abteilung gewesen bin, eigentlich seit meinem Examen, also seit vier Monaten, nicht mehr. Aber jetzt zurückgehen, nach fast einer ganzen Stunde im geistigen Durchschnitt, den kleinen und großen Geschichtenerzählern und Geldverdienern, die ihr mehr oder weniger langweiliges und geschwätziges Leben und Denken aufs Papier bringen, diese Papiermörder und Handlanger der Schrift. Nein, eine Stunde, fast eine ganze Stunde reichte vollkommen, und dazu in einer dieser unendlich vielen geistlosen Abteilungen, der so genannten Belletristik, nicht einmal in der philosophischen oder dichterischen Abteilung. Also da, wo ich nicht im Entferntesten darauf käme, an die Zeit zu denken, nicht nur weil diese Bücher dort nach etwas Bestimmtem riechen und einen besonderen Duft haben, sondern weil dort nicht nur die interessantesten Bücher, sondern auch die interessantesten Menschen, vor allem aber die komischsten herumlaufen.

Dort löscht sich die Zeit von selbst aus. Kaum dass man sich in einen dieser meist dunkelblauen Stoffkorbsessel gesetzt hat, ist man hin und her gerissen zwischen dem Buch in den Händen und den Leuten im Auge. Lesen und beobachten … wie einer nach einem bestimmten Buch sucht und auch nur ein ganz bestimmtes haben will, also nicht zufällig an einem hängen bleibt, und wie ein anderer ein Buch in Händen hält und es behutsam, fast liebevoll aufschlägt, darin herumblättert und die Seiten wie eine Geliebte berührt und es ebenso behutsam wieder zurückstellt.

Ich war froh, ein Buch für sie gefunden zu haben, nach fast einer Stunde, ohne dabei einen interessanten, etwas verdrehten Menschen beobachtet zu haben. Sie sind alle an mir vorbeigegangen, entweder hinauf zur philosophischen oder dichterischen Abteilung oder aber von dort hinunter zur Kasse, die meisten mit einem Buch in der Hand, was mir immer wieder aufs Neue einen Stich versetzt hat. Sie kommen glücklich, ja, fast genießend mit einem philosophischen oder dichterischen Buch in der Hand hinunter, während ich, bis aufs Blut gelangweilt, hier ein Buch für Eva suche und mir die Adern beinahe austrocknen. Ich konnte aus ihren Gesichtern erkennen, wie sie sich darauf freuten, es endlich zu Hause in aller Ruhe aufschlagen und den ersten Satz lesen zu können. Sicherlich freuen die anderen sich auch auf ihr neues Buch. Doch während sie ihre schön erzählte Geschichte auslesen wollen, wollen die interessanten aus der philosophischen oder dichterischen Abteilung kommenden Menschen nie zu einem Ende kommen. Dem Dummkopf gelingen die Vorhaben, die er hat. Der Dummkopf ist ein Verwirklicher. Dem Zweifler zerfällt alles.

Als ich hin und wieder einen einzelnen (sie sind nie zu zweit) aus der philosophisch-dichterischen Abteilung mit einem Buch in der Hand herunterkommen sah, ertappte ich mich dabei, herauskriegen zu wollen, welches Buch es sei, für das sie sich entschieden haben. Ich konnte jedoch weder einen Autor noch einen Titel erkennen. Also versuchte ich mir die Farbe, die Größe und Dicke des Buches einzuprägen, um gleich in die philosophisch-dichterische Abteilung hinaufzugehen und das Buch in seinem Titel und Verfasser zu entdecken.

Interessierte Menschen sind immer auch interessante Menschen. Findest du nicht, Ulle?

Ich glaube, ich habe gerade laut Ulle gesagt. Was, schoss es aus ihr heraus. Sie war ganz in einen Gedanken vertieft und entschuldigte sich, dass sie nicht zugehört habe; sie sei bei sich gewesen, mit einem Gedanken ganz weit weg, irgendwo, wo man keine Sprache braucht. Die schönsten Augenblicke sind die, in denen man träumt, man träumt.

Verstehst du, was ich meine? fragte sie mich. Ich nickte mit dem Kopf und reckte mich über den Tisch, um von ihr geküsst zu werden. Sie lächelte mich an, behielt jedoch ihre Lippen bei sich. Ich wolle einen richtigen Kuss, bedeutete ich ihr, jedoch keinen Lachkuss. Denn es schmeckte nicht, wenn sie lachte und ihre Lippen dabei etwas starr wurden. Dann hätte ich auch einen Lampenpfahl küssen können. Wie in weiches Moos will mein Mund sich in einen anderen legen, ein wenig klebrig, wie von einer Schnecke überfahren, ein leichter feuchter Film, der dir heimlich zuflüstert: ich will dich.


Morbus vitalis

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