Читать книгу Morbus vitalis - Willi van Hengel - Страница 5
2.
ОглавлениеMensch Ulle, was bringt einem eine klare Antwort, wenn man sein Leben eh als einen einzigen und fortwährenden Auflösungsprozess begreift. Schlimm, findest du nicht? Aber pass auf: Das Schlimmste – es kommt nicht erst noch, es ist da, schon lange unter uns, in mir, immerzu, wie Fleischhaken hinter Karnevalsmasken. Xaver sagte es gleich am Anfang unseres Gesprächs. Wir standen nebeneinander, bis zum Bauchnabel von einem Holzzaun getrennt. Fünf Sätze, mehr nicht, und Xaver vermochte mir zu sagen, dass ich die Sache begraben solle, sie (als Sache?) abhaken wie einen erledigten Amtsgang, oder wie die Milch, den Joghurt, das Brot und den Käse, vom Einkaufszettel in den Wagen, abhaken und weiterleben, einfach so. Er machte es sich verdammt einfach, findest du nicht?
Aber, seufzte ich, und mir wurde dabei heiß und kalt, noch heißer, fast zitternder Schweiß, egal, wo ich hinfühlte mit den Fingern meiner Sehnsucht. Die Julisonne brannte auf uns nieder, Gelb auf Rot. Meine Wangen glühten. Einige Grade mehr und ich wäre verdampft. Wer erlebt schon seinen eigenen Tod bei hundert Grad Celsius, durch Aufkochen, an irgendeinem Gartenzaun, nur weil sie, Ines, nicht zu mir zurückkommen will!
Xaver lächelte und überging so meinen tiefen Seufzer. Er schien gar kein Mitleid mit mir zu haben. – Du wirst noch viele Frauen kennenlernen, sagte er nur. Es ist zwecklos, sie zurückholen zu wollen, glaub es mir.
– Was?
– Abhaken.
– Wie? Abhaken.
– Ich weiß, dass du dich dagegen sträubst, sagte er mit gelassener Stimme, sie beruhigte mich, machte mich aber auch verdammt wütend, du wirst sehen, dass es so kommen wird, wie ich es dir jetzt sage! Dieses Mal ist es kein Spiel mit faulen Zitronen wie bei der letzten Schrappnell (oh wie poetisch, du Ironiker, dachte ich), ihr habt euch geliebt, und vielleicht liebt ihr euch immer noch, aber Liebe ohne körperliches Verlangen ist Freundschaft, Punkt, finde dich ab damit, hör auf damit, nur an deinen Schwanz zu denken, du weißt, wie ich es meine, sie als die Schönste und Einzige in deinem Leben zu sehen, mit dem einen Auge, das ihr kein neues Verliebtsein, schon gar keine neue Liebe, aber auch keine neue Umarmung gönnt. Sie wird dich ihr Leben lang nicht mehr vergessen, glaub es mir, sie war nun mal für dich die erste Frau, die dir auf eine weibische und hinterhältige Art – vielleicht ist es sogar dasselbe – gezeigt hat, was eine Harke ist. Steck aber jetzt den Kopf nicht zu tief in den Sand. Sieh nach vorn. Da hinten wartet die nächste. Vielleicht eine viel schönere. Eine Liebe, die scheitert, sagte er dann, so leise, dass ich ihn kaum verstand, ist eine so reiche Erfahrung, dass sie aus einem Friseur einen Konkurrenten des Sokrates macht.
Ich stand wie angewurzelt da, musste mich mit einer Hand am Zaun festhalten und mit meinen Tränen kämpfen. Ich hasste es, so verzweifelt und traurig zu sein. Eine einzige Träne hätte mich in diesem Augenblick ertränkt. So stand ich da, neben Xaver am Zaun, bedrückt von seinen Worten, und spürte, dass er nichts anderes als die Wahrheit sagte. Irgendwann würde ich alles einsehen können. Irgendwann. Nur jetzt nicht. Dafür war es viel zu früh, viel zu verwundet. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals noch einmal lachen zu können.
Xaver legte seine Hand auf die meine und bedeutete mir, mich nicht mehr weiter quälen zu sollen: kein anderer Mensch ist dein Leben. Ich verstand es, brachte aber keinen Ton heraus. Zu sehr war ich damit beschäftigt, meine Tränen zu unterdrücken. Ich presste dabei Luft in meinen Bauch und spannte gleichzeitig sämtliche Muskeln an. Ich hatte große Lust, in diesem Moment mit ihm mein Schweigen zu genießen. Doch ich konnte nicht. Ich wollte ihm noch so vieles sagen, über sie, über mich, uns, der tiefe Fall in das dunkle Loch, in dem ich steckte, aber es ging nicht, ich konnte nicht.
Du weißt ja, sagte er dann – ich hatte ihm schon etliche Löcher in sein dezent buntes Sommerhemdchen gestarrt –, wer zu lange leidet, der bemitleidet sich zuletzt nur selbst. Die Zeit ist dazu da, damit das, was du jetzt durchmachst, irgendwann zur Erinnerung wird. Abgehakt. Und weißt du, wozu Erinnerungen da sind?
Ich schüttelte den Kopf.
Um irgendwann nicht mehr damit umgehen zu können; sie lassen dich nie in Ruhe.
Ich legte meine Hand in seinen Nacken, zog ihn leicht an mich heran und gab ihm einen Kuss auf seine etwas glänzende und nach zu viel Rasierwasser riechende Wange. Du bist der beste Friseur, den ich kenne, sagte ich. Wir lachten beide und verabredeten uns für den nächsten Abend, zu einer Flasche Hennessy, bei ihm zu Hause. Da beobachten uns nicht so viele Nachbarn, sagte er und stahl sich davon.