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13.

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Vielleicht ist es ja gut so. Die kleinen Dinge machen einen verrückt – und misstrauisch. Vorige Woche Mittwoch (meingott, nun liege ich schon eine ganze Woche im Bett) hat Eva mich abgeholt, mit dem alten R4 ihrer Freundin, nachmittags um halb fünf, zum Korrekturlesen. Sie stand vor der Tür und klingelte ein Mal, so wie neben meinem Namen auf der Klingel, unter dem noch der Name meines einzigen Etagennachbarns steht, empfohlen wird – 1x. Sie stand auf dem Bürgersteig vor der verschlossenen Holztür zum Hof, der zu dem kleinen ungemütlichen Anwesen des Vermieters führt. – Trotzdem stand Eva vor der Tür und wartete auf ein Zeichen. Ich reckte meinen Kopf zwischen Schreibtisch und Wand gedrängt zum Fenster hinaus und begrüßte sie mit Hallo Süße. Sie legte den Kopf in ihren Nacken und blickte zu mir hinauf: Kommst du? Ich nickte und schlängelte mich vorsichtig zwischen Schreibtisch und Wand zurück ins Zimmer, zog meine Jacke an, nahm den kleinen weißen Stoffbeutel (könnte auch mal wieder gewaschen werden) in die Hand – sah noch einmal aus dem Fenster, und sah, dass sie gerade ins Auto einstieg. In diesem Moment war meine ganze Laune verdorben. Denn ich war enttäuscht, ziemlich sogar; mitten in den Rücken gesprungen, dachte ich beim Hinuntergehen, ging zum Wagen und setzte mich bockig auf den Beifahrersitz, ohne ihr zur Begrüßung einen Kuss zu geben. Ich hatte erwartet, dass sie vor der Hoftüre auf mich wartet und in den Arm nimmt.

Ich brauchte einige Minuten, um mich aus meiner Enttäuschung herauszuschälen. Erst der Gedanke, dass es vielleicht unhöflich von mir gewesen sei, sie vor der Tür stehen zu lassen, verrieb meinen Unmut. Vielleicht hatte sie ja Angst vor meinem Vermieter, der alle Frauen nur Funz nennt und derart grobschlächtig aussieht, dass man nur an eine hässliche Karnevalsmaske denkt, wenn man seinen Kindermörderkopf auf einem Bullenhals sieht – auch ich habe damals so gedacht, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, dass er sich kleine Jungs abends vom Sportplatz schnappt, mit nach Hause nimmt, mit Alkohol abfüllt und dann vergewaltigt, um sie zuletzt in einzelne Organe zu zerlegen. Bei näherem Hinsehen jedoch erkennt man an ihm ganz liebe, fast kindliche Züge, besonders seine Augen. Das Schlimmste für ihn – und schlimmer könne es nicht mehr kommen, sagte er bei unserer ersten Begegnung, als ich an einem kleinen wackligen Tisch im Hof den Mietvertrag unterschrieb –, war, dass seine Frau ihn verlassen hat, vor acht Jahren, betonte er, acht Jahre, während er den Zeigefinger in die Höhe hob (ein dicker, schwülstiger Wurstfinger, so dick und schwülstig wie alle seine Finger), mir bedeutend, dass seitdem schon acht Jahre vergangen seien und er es immer noch nicht überwunden habe. Wer überwindet, der gewinnt, konnte ich nur noch mit einem blöden Spruch darauf antworten. Doch er hatte es nicht gehört. Zumindest sagte er nichts.

Es ärgerte mich sogar, dass ich sie nicht mit einem Kuss begrüßt habe. Sie hatte es sicherlich erwartet. Doch ich blieb stumm, nicht nur mit meinen Worten, sondern auch sonst wie. Dabei stieg mein Blick leise auf ihre knallroten Lippen. Ich liebte dieses Rot schon immer, vom ersten Augenblick an, obwohl ich es hin und wieder als zu aufdringlich empfand, wie feiste Flammen aus der Hölle; aber vielleicht mochte ich das ja gerade, die verdrängte Wollust, mit so einem Mund all das machen zu können, was du dir vorstellst. Ein solches Rot, was mehr als eine Einladung zum Kuss war, eher ein Befehl, habe ich gedacht, während ich wie ein vereister Wassertropfen neben ihr auf dem Beifahrersitz gesessen und darauf gewartet habe, dass sie die Initiative ergreift, mich an sich heranzieht und küsst. Aber anstatt mich mit ihrem knallroten Lippenstift voll zu schmieren, drehte sie den Zündschlüssel um und fuhr los, mit knatterndem Motor.

Blöde Ziege, dachte ich nur. Aber sie fuhr trotzdem weiter. Kann es sein, dass andere Menschen anders fühlen und denken als ich, habe ich mich gefragt. Ich war mir nicht ganz sicher und gestattete mir keine Antwort. Vielleicht war es auch nur unhöflich, sie vor der Tür stehen zu lassen; vielleicht hat sie sich deshalb sofort ins Auto gesetzt, ohne auf mich zu warten, ohne mich in den Arm zu nehmen und ohne mir einen Kuss zu geben, so wie ich es erwartet hatte. Das Leben ist in keinem Moment gerecht. Später erst, wenn man keine Gefühle mehr hat. Dann kann es mich eh von hinten?


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