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ОглавлениеAllein mit mir hielt ich es nicht aus. Die mir Mut zusprechenden Worte ließen immer noch nicht von mir ab; sie demütigten mich in ihrer Heuchelei. Doch in jedem Moment, auch dem schrecklichsten, dem Tode am nahsten, gärt sein Widerspruch. Als ich meine Hose anzog, hörte ich das Klacken der Briefkastenklappe im Flur, es war der Postbote. Ich erkannte sein gelbes Fahrrad durch das milchige Glas der Haustüre. Ein Brief für mich. Ich spürte es. Nein, nicht von ihr. Schön wär’ es gewesen. Aber enttäuschend. Auch das wusste ich. Aus dem Briefkastenschlitz ragte, wie aus meiner offenen Hose, ein weißer Lappen heraus, von … von … von … hob ihn vom Boden auf und las meinen Namen, den ich immer zuerst lese, erst dann den des Absenders auf der Rückseite des Couverts. Gruß Heiner. Ich bohrte meinen Finger in die vom Speichel unbeleckt gebliebene obere Ecke und riss ihn auf.
Liebe Co-Singularität!
(mensch Heiner, dachte ich, wann wirst du endlich normal –
lass mir bitte meine Unausstehlichkeiten – ja gut, du hast sie verdient.)
Ich sitze hier im Erfrischungsraum (keine einzige Schecke weit und breit, dafür nur krakeelende Afrikaner aus dem gelben Süden, sie scheinen mich umzingelt zu haben). Habe mir gerade mal wieder in der Bibliothek Literatur verschafft (Kimmerle: Das Andere und das Denken der Verschiedenheit) – er will nicht vergehen, der einsame intellektuelle Kampf mit dem Papier, mein Überlebenskampf, der einzig mögliche Sinn: weiterzuatmen.
Ich fühle mich zurzeit ganz gut. Mit anderen Worten: Meine Tiefen sind licht. Ich wünschte, du wärst hier, und wir könnten reden, vielleicht über Baubo, die Amme der Demeter, die über den Verlust der Wahrheit mit der Zuwendung ihrer Möse hinwegtröstet. Sie hält sie dir einfach ins Gesicht. Ich hoffe, du kommst bald wieder hierher, oder willst du nach der Fabrikarbeit noch eine Woche bei deiner Mutter dranhängen? Doch wohl nicht, oder? Was willst du denn noch in deinem Kaff??
(Heiners Worte taten mir gut. Mir war, als umarmten sie mich.)
Meine Beziehung zu Frauen ist eine Mischung aus unendlicher Bewunderung und höllischer Verachtung. Ich glaube, so geht es vielen. Mich aber unterscheidet von den meisten, ganz sicher, dass es bei mir nie in der Waage ist, eines überwiegt immer, und genau das ist der Grund, warum ich nie an eine rankomme, verstehst du? Und alles nur aus Angst? Bin ich wirklich solch ein Hosenscheißer? – Verkneif dir dein Grinsen, du Tittengigolo. Wie sieht es eigentlich bei dir aus? Hast du Dich in Bezug auf dein Weib entschieden? Hast du überhaupt noch die Möglichkeit, dich für oder gegen sie zu entscheiden? Ich habe sie in der Altstadt gesehen, Händchen haltend mit dem Kleinen, den du mir mal gezeigt hast.
(Heiners Worte taten mir überhaupt nicht gut. Sie waren wie ein Schlag ins Gesicht;
ebenso in die Magengrube, und tiefer noch.)
Ich weiß, dass du viel darüber nachdenkst, aber manchmal ist ein Anstoß von außen notwendig, um weiterzukommen. Willst du sie überhaupt noch? Oder nur ihren Körper, ihre fetten Brüste, ihre Schreie im Bett? Sei mir nicht böse, aber als dein Freund muss ich dir schreiben, was ich davon halte – und hoffe, dass du bald wieder hierher kommst und wir darüber reden können.
Allmählich wird es hier voll. Erstaunlich, wie vielen Leuten man den Vollidioten ansieht. Aber vielleicht sieht man uns ja auch so einiges an, oder? Warst du noch mal beim Arzt? Du hast in deinem letzten Brief, der vor mir auf dem Tisch liegt, von erneuten Schwindelgefühlen geschrieben. Vielleicht ist es ja nur der Schwindel, den der ewige Walzer der Welt in uns hervorruft. (Verzeih mir bitte mein pathetisches Gehabe, aber manchmal tut es einfach gut, hebt ab.)
Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt hier verschwinde; zu viele schöne Frauen sind in der Zwischenzeit aufgetaucht (sicherlich riechen sie, dass du der Adressat bist). Um die Seite noch vollzubekommen, mache ich mich mal wieder größer als ich bin. Alles Liebe, Wahre und Gute
Heiner
(der Lärm hier wird unerträglich – auf bald)