Читать книгу Morbus vitalis - Willi van Hengel - Страница 4
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ОглавлениеVielleicht sollte ich es mir gleich eingestehen und sagen, was ich von mir und meinem Leben und dem Rest halte, was für wahr und was für falsch, wie sonst könnte ich damit beginnen, mich zu besinnen und sagen, dass ich ein Mensch wie jeder andere bin und mein Leben dennoch eine merkwürdige Geschichte ist – ich spiele zwar eine große Rolle darin, mit Sicherheit aber nicht die Hauptrolle; die spielen meine Ohren, Augen und Hände, mein Glied, mein Sternzeichen, all die Gedanken und Gefühle und Empfindungen, all die Mutmaßungen, Triebe und Vorlieben, Obsessionen, Bedürfnisse, Enttäuschungen und Missverständnisse, all die ganzen Bewandtnisse und Verletzungen, für die ich bislang keine Worte hatte und nicht weiß, ob ich sie je haben werde.
Aber wann anfangen, habe ich mich gefragt, wann, wenn nicht jetzt, nach Hause gehn, ’nen Kaffee machen und Bruckners Fünfte auflegen, auf den alten Plattenspieler mit Radio und doppeltem Cassettendeck, aus der Zeit mit Barbara noch, mensch, 15 Jahre ist das schon her. Wann, wenn nicht jetzt, mit so was wie der Wahrheit anfangen, mitten in den Sud hinein, in dem ich gerade stecke, diese scheiß Damenwelt, mitten hinein in diese res eroticis. Ausgerechnet dort bei den Frauen soll ich eine Wahrheit finden?, habe ich mich gefragt und mein Vorhaben allein schon durch diese Frage in Gefahr gesehen. Affig, dachte ich, die Wahrheit ist weiblich und lässt sich gerade dort nicht finden oder, sagen wir mal, nur sehr schwer, mit einem langen Atem, oder mit einer langen Lüge. Trotzdem muss ich’s versuchen, egal was dabei rauskommt.
Um nicht die ganze Zeit so verdammt allein zu sein, am Schreibtisch und sonst wo mit dem Kuli oder so, werde ich dir, Ulle, das alles schreiben oder, besser noch, aufs Diktaphon sprechen, das geht schneller. Weil du mich nun schon ein Leben lang kennst, muss ich dir wenigstens nicht alles erklären und dir die Angelegenheit noch weniger beschreiben, damit du dir ein Bild davon machen kannst: von meiner jetzigen Umgebung, meinen heimlichen Träumen und etwas verwirrten Vorstellungen; ebenso wenig von Eva und Ines und von meiner ungebändigten Vorliebe für Philosophen, verhüllte Brüste und andere tragische Gestalten.
Hoffentlich wirst du nicht selber eine tragische Gestalt. Du weißt ja, Ulle, dass du viel gefährdeter bist als ich, vielleicht sogar mit jeder Zeile mehr. Auf jeden Fall darf ich nicht anfangen mit Lieber Ulle, dann wirst du sofort die Augen verdrehen und keine Lust mehr haben, mir weiter zuzuhören.