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9. STRAINS DER MEMBRANÖSEN GELENKE

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Dr. Sutherland erklärt hier sein Verständnis von den Strains, die an verschiedenen Stellen der membranösen und ligamentären Gelenkmechanismen auftreten können. Dieses Kapitel besteht zum Teil aus Auszügen, die seinen Schriften entnommen und bearbeitet wurden. Dies liegt daran, dass bei den Vorträgen, auf denen das Buch ja basiert, der Unterricht über dieses Thema hauptsächlich von anderen Mitgliedern der Fakultät übernommen wurde.

In der Ankündigung von Dr. Sutherlands Vorträgen beim Treffen der A.O.A. in Detroit, Michigan, im Jahre 1932, war Folgendes zu lesen:

„Dr. W. G. Sutherland beschreibt die Anatomie und die Physiologie, die den Dysfunktionen der Gelenke im Schädelbereich zugrunde liegen. Seiner Meinung nach sind diese osteopathischen Dysfunktionen in anderen Bereichen des Körpers sehr ähnlich und einer Behandlung ebenso zugänglich.“

Bei der Beschreibung von Dysfunktionen der Wirbelsäule bevorzuge ich den Ausdruck ligamentäre Strains der Gelenke; für Dysfunktionen im Schädelbereich den Begriff membranöse Strains der Gelenke. Eine Dysfunktion der Wirbelsäule betrifft sowohl Bänder als auch Gelenke. Eine Dysfunktion am Schädel betrifft sowohl die Membranen innerhalb des Schädels als auch die Gelenke.

Die Bänder als Kontrolleure der willkürlichen muskulären Bewegung regulieren durch ihre Spannung die Bewegung an den Gelenken der Wirbelsäule.

Man könnte sie reziproke Spannungsbänder nennen. Die Gelenke des Kopfes besitzen nur eine unwillkürliche Beweglichkeit; ihre Bewegung kommt nicht durch Muskelarbeit zustande. Sie haben aber ein spezielles membranöses Gewebe innerhalb des Schädels, das nicht nur als Vermittler agiert, sondern auch als reziproker Spannungsausgleich funktioniert, welcher den normalen Bereich der Gelenkmobilität begrenzt.

Dieser Vermittler der Gewebespannung funktioniert ungefähr wie die Unruhe einer Uhr, welche die Hin-und-Her-Bewegung des Mechanismus reguliert oder einschränkt. Um die Funktion der Membranen innerhalb des menschlichen Schädels zusammen mit der spinalen Dura mater zu beschreiben, wurde aus diesem Grund der Begriff Reziproke Spannungsmembran gewählt.

Es ist wichtig, die besonderen Befestigungspole der Falx cerebri und des Tentorium cerebelli zu beachten (Zeichnung I–4). In meiner schematischen Darstellung gibt es einen anterioren superioren Befestigungspol an der Crista galli des Os ethmoidale und einen anterioren inferioren Befestigungspol an den Procc. clinoidei des Os sphenoidale. Die lateralen Pole der Befestigung befinden sich am Margo superior der partes petrosae der Ossa temporalia. Der posteriore Befestigungspol befindet sich an der Innenseite der Squama occipitalis.

Während der Inhalationsphase bewegen sich diese Befestigungspole auf charakteristische Art und Weise. Während der Exhalationsperiode tritt an den verschiedenen Befestigungspolen eine entgegengerichtete Bewegung auf. Dies ist das normale Ausmaß der Hin-und-Her-Bewegung im Mechanismus der Membranen und Gelenke des Schädels. Es handelt sich um einen anatomisch-physiologischen Mechanismus, der das gesamte Leben hindurch anhält.

Am lebenden Schädel findet sich an allen Gelenken im Bereich der Basis und des Gesichts eine normale Mobilität. Diese Mobilität wird durch eine Anpassung der Gelenkfunktion kompensiert, welche im Bereich der Suturen des Schädeldeckels aufgrund ihrer gezackten und exakt passenden Form geleistet wird. Solange wir leben, verknöchern diese Suturen nicht vollständig.

Die Falx cerebri und das Tentorium cerebelli besitzen weder elastische noch muskuläre Fasern.

Sie bestehen aus zähem fibrösem Bindegewebe, sind straff und gespannt. Sie schaffen eine Balance, die sich zwischen den verschiedenen Gelenkpolen abwechselnd vor und zurück bewegt. In ihrer reziproken Bewegung erkennen wir einen Rhythmus, der ein wichtiges Merkmal der materiellen Erscheinungsform des Lebens ist.55

Die Dura des Schädels ist jener Anteil des gesamten Mechanismus, der dem gleichen Zweck dient wie die Bänder in den ligamentären Mechanismen der Gelenke. Sowohl die Dura als auch die Bänder bewegen Knochen an Gelenken.

Die Osteopathie kennt ligamentäre Strains der Gelenke der Wirbelsäule. Ebenso gibt es membranöse Strains der Gelenke am Schädel. Diese verursachen eine Einschränkung der normalen membranös gelenkigen Funktion. Solche Einschränkungen verändern die Fluktuation der Zerebrospinalen Flüssigkeit, die Physiologie des arteriellen und venösen Blutstroms im Cranium und die Physiologie der Lymphe in Hals und Kopf. Mit der Einschränkung der Funktionen beginnt der pathologische intrakraniale Zustand.

Das Sakrum ist durch die intraspinale Reziproke Spannungsmembran (die Kernverbindung zwischen Schädel- und Beckenschale) mit dem Os occipitale verbunden. Deshalb können sich den Beckenmechanismus betreffende Traumen, hervorgerufen durch Stürze, und Situationen, wo ein schwunghafter Impuls auf Trägheit trifft, als Dysfunktion zeigen, die sich mehr im Cranium offenbart als im Becken.

Dies ist besonders der Fall bei Wochenbettdepression oder Psychosen. In der Tat ist es für einen Arzt und Osteopathen unmöglich, das betreffende Problem bei seinem Patienten ausfindig zu machen, ohne sämtliche Gelenke des menschlichen Körpers in Betracht zu ziehen und zu analysieren.

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Um die Bewegung des Os sphenoidale und des Os occipitale zu verdeutlichen, wollen wir uns Räder mit Speichen vorstellen. Stellen Sie sie sich vor, wie sie sich vor und zurück drehen – das heißt, sich um sich selbst drehen. Sobald sich das Os sphenoidale dreht, bewegen sich die unterschiedlichen Punkte auf dem Rad, wie es Speichen tun. Das Os occipitale dreht sich ebenfalls und die Punkte darauf bewegen sich im Raum. Beide Räder drehen sich gleichzeitig.

Folglich bewegen sich die Sella turcica und das anteriore Ende des Proc. basilaris des Os occipitale in der Flexionsphase nach oben und die nach oben gerichtete Konvexität des Clivus wird verstärkt. In der Extensionsphase bewegen sich beide nach unten und so wird die Konvexität des Clivus verringert. In der Extension geschieht einfach das Entgegengesetzte wie in der Flexion.

Die Verbindung des Os sphenoidale und des Os occipitale am Clivus hat die Form eines Bogens. Sie ähnelt der Brücke über den Chicago River, die sich auf beiden Seiten gleichzeitig bewegt, entweder zum Öffnen oder zum Schließen. Obwohl sie sich schließt, bleibt die Brücke ein Bogen, wenn sie nach unten geht. Dieser Punkt ist wichtig, wenn man sich bei der Behandlung die Bewegung an der sphenobasilaren Verbindung vorstellt. Die erwähnte Verbindung ist ein Bereich im kranialen Mechanismus, den man nicht direkt palpieren kann. Sie müssen ihn visualisieren. Es ist wie bei den Wirbelkörpern der Wirbelsäule: Sie können einen Wirbelkörper nicht ertasten, aber Sie haben ein mentales Bild von ihm. Sie können die Procc. spinosi und die Procc. transversi der Wirbelsäule berühren und dabei eine Beobachtung machen, die Ihnen die Position des Wirbelkörpers verrät. Sie können lernen, die Position an der Verbindung zwischen dem Corpus sphenoidalis und dem Proc. basilaris des Os occipitale durch Tastsinn und Propriozeption wahrzunehmen. Das ist nicht schwierig, obwohl es zunächst so aussieht.

Wir könnten uns die Falx cerebri und das Tentorium cerebelli so vorstellen, dass sie mit den kranialen Gelenken in physiologischen Bewegungen zusammenarbeiten, und zwar rhythmisch mit denen des Diaphragma. Bei dieser Bewegung kann man die Procc. mastoidei der Ossa temporalia während der Exhalation nach außen rotieren und bei der Inhalation nach innen zurückkehren sehen, wobei andere kraniale Gelenke daran beteiligt sind. Diese Bewegung unterstützt den Strom des Blutes und der Lymphe im Körper. Die Betrachtung der in einigen Fällen verzahnten und in anderen Fällen abgeschrägten Schädelsuturen und die eigene Erfahrung führen einen immer näher an die Möglichkeit heran, in die Wissenschaft der Osteopathie des Alten Doktors vorzudringen.56

Wenn wir weiter und weiter in den ‚Löchern‘ graben, uns mit den Gelenken der Schale des Schädels immer mehr befassen, kriegen wir möglicherweise den Schwanz des ‚Eichhörnchens im Baumloch‘ des Alten Doktors zu fassen.

Wenn wir uns daranmachen, die beiden Ossa temporalia in ihrem Zusammenhang mit der Bewegung an der Schädelbasis zu untersuchen, denken wir zunächst über ihre Form und ihre Position zwischen Os sphenoidale und Os occipitale nach. Sodann beobachten wir, was uns die Untersuchung der Gelenkflächen über den Mechanismus ihrer Bewegung sagt, wenn sich Os sphenoidale und Os occipitale an der sphenobasilaren Verbindung in der Flexions- und Extensionsphase um sich selbst drehen. Dieses mentale Bild wird uns ein Verständnis der normalen Bewegung, die andauernd in der Schale des Schädels vor sich geht, ermöglichen.

Ausgehend von unserem Verständnis der Normalität werden wir in der Lage sein, Abweichungen und Anormales festzustellen und mechanisch zu interpretieren, wenn sie bei unseren Patienten auftauchen. Wir brauchen schließlich eine praktikable Diagnose, bevor wir über Dysfunktionen in diesem Bereich und ihre Behandlungsmöglichkeiten nachdenken können.

Die Ossa temporalia bewegen sich wie zwei wackelige Räder. Denken Sie daran, dass die Partes petrosae in einer Diagonale angeordnet sind, deren Ausrichtung nach vorne in den Kopf hinein zeigt. Wenn Sie einen zerlegten Schädel untersuchen, positionieren Sie an der Schädelbasis die Ossa temporalia zwischen Os occipitale und Os sphenoidale. Kombinieren Sie die Rillen an den Partes petrosae mit den zungenförmigen Fortsätzen an den Seiten des Proc. basilaris am Os occipitale. Dies ist das Bild für Bewegung – oder besser: für das gleitende Muster jener Bewegung, die ein Nut- und Federgelenk erlaubt.

Wenn sich Os sphenoidale und Os occipitale in Flexion bewegen, rotieren die Partes petrosae nach außen. Wenn sich Os sphenoidale und Os occipitale in Extension bewegen, rotieren die Partes petrosae nach innen. Die relative Rotation der Partes petrosae im Inneren des Schädels ist auch an der Außenseite des Schädels spürbar. Man kann dies ertasten und damit ein mentales Bild der Positionen im sphenobasilaren Bereich erstellen.

Aufgrund der Zungen-und-Rillen-Gelenke zwischen dem Proc. basilaris und den Partes petrosae der Ossa temporalia können wir die Stellung des Proc. basilaris des Os occipitale von den Ossa temporalia aus wahrnehmen. Der Bewegungsmechanismus zwischen Os occipitale und Ossa temporalia ist komplex.

Man muss ihn eingehend studieren. Bis zu einem bestimmten Grad bewegen sich die Ossa temporalia mit dem Os occipitale, da sie auf dem Proc. jugularis mitgetragen werden. Merkwürdig daran ist, dass sich die Partes petrosae der Ossa temporalia mit dem Proc. basilaris drehen, sobald sich dieser als Speiche im okzipitalen Rad dreht. Und doch gibt es gleichzeitig eine Bewegung zwischen den beiden Knochen, die der Bewegung zwischen einem Marmeladenglas und seinem Deckel ähnelt.

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Was ist eine kraniale Dysfunktion? Was ist ein membranöser Gelenkstrain? Um dies zu beantworten, nehmen wir die Flexion als Beispiel. Wenn die sphenobasilare Verbindung sich ein wenig über ihren normalen Bewegungsradius in Richtung Flexion hinausbewegt hat und in dieser Position fixiert wird, kommt es zu einer Einschränkung der Bewegung in Extensionsrichtung. Bei Ihrer Diagnose werden Sie all die Erscheinungsbilder vorfinden, die mit der Flexionsposition einhergehen. Wenn Sie die Bewegung überprüfen, werden Sie feststellen, dass der Bereich sich in Richtung Flexion und nicht in Extension bewegen kann. Man nennt diese Situation eine Flexionsdysfunktion. Das Gegenteil ist eine Extensionsdysfunktion.

Zudem sind weitere Muster bei den Bewegungen der Schädelbasis möglich. Die Bewegung der Sidebending/Rotation an der sphenobasilaren Verbindung umfasst ein Muster, das Os sphenoidale und Os occipitale auf einer Seite nach oben und auf der anderen Seite nach unten bringt. Auf der höheren Seite nähern sie sich an, während sie auf der tieferen Seite auseinandergehen. Folglich gibt es eine relative Konkavität auf der oberen und eine relative Konvexität auf der unteren Seite. In der schematischen Darstellung benenne ich diese Positionen nach der Seite der Konvexität. Es gibt demzufolge ein Muster, das Sidebending/Rotation mit der Konvexität auf der rechten Seite, und eines, das Sidebending/Rotation mit der Konvexität auf der linken Seite genannt wird. Wenn wir unsere diagnostischen Bewegungstests anwenden, folgen wir dem für Flexion gegebenen Beispiel.

Das Torsion genannte Muster ist einfach eine Verdrehung an der sphenobasilaren Verbindung. Das bedeutet, das Os sphenoidale dreht sich auf einer anteriorposterioren Achse in eine Richtung, und das Os occipitale dreht sich entgegengesetzt. Deshalb gibt es zwei Torsionsmuster, die nach der Position der höheren Ala major des Os sphenoidale benannt werden. Es gibt eine Torsion mit einer erhöhten Ala major auf der rechten Seite und eine Torsion mit einer erhöhten Ala major auf der linken Seite. Das gleiche Prinzip, wie es am Beispiel der Flexion aufgezeigt wurde, wird bei den diagnostischen Bewegungstests angewendet (Zeichnung I–16). Dies sind die grundlegenden Muster von Position und Bewegung, mit denen Sie es zu tun haben, wenn Sie membranöse Gelenkstrains des Schädels erfassen. Die Bezeichnungen lauten Flexion, Extension, Sidebending/Rotation mit der Konvexität rechts oder links und Torsion mit einer Ala major hoch rechts oder links.57

Obwohl es der membranöse Anteil ist, der den Strain oder die Belastung aufgenommen hat, zeigt sich der Gesamteffekt an den Beziehungen zwischen den Knochen. In der Praxis werden unterschiedliche Dysfunktionen und Strains am Cranium vorgefunden. Gewöhnlich sind diese an der sphenobasilaren Verbindung anzutreffen, mit Folgen für alle Gelenke im gesamten Mechanismus.

Die Einwirkung einer äußeren Kraft auf den lebenden Schädelmechanismus muss in Bezug auf alle ihre individuellen Details analysiert werden.

Es ist gut, wenn man sich daran erinnert, dass es in solchen Fällen sehr wahrscheinlich mehr als nur eine Folge geben wird. Diese Dysfunktionen bezeichnet man als traumatischen Ursprungs. Die Analyse der beteiligten Kräfte und der Trägheit in der jeweiligen Situation stellen ein weites Untersuchungsfeld dar. Spezifische Strains können im Körper des Patienten möglicherweise als Nebeneffekt bei Operationen durch Chirurgen oder Zahnärzte oder bei Bewusstlosigkeit auftreten. Strains können auch nach einer extremen Anstrengung erfolgt sein oder wenn sich der Patient in einer überlastenden Haltung befand.

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Der Mechanismus ist einfach, wie das bei allen physiologischen Prinzipien ist, die ‚nicht von Menschenhand geformt‘ wurden.

„Ich nehme nicht für mich in Anspruch, Autor der Wissenschaft Osteopathie zu sein. Keine menschliche Hand hat ihre Gesetze geformt. Ich erwarte keine größere Ehre als diejenige sie entdeckt zu haben.“ 58

Wenn man den Mechanismus richtig versteht, ist er der Schlüssel für ein einfaches Lösen der membranösen Strains an den Schädelgelenken. Mir gefällt der Gedanke an einen Rhythmus in der Dura. Daraus ergibt sich notwendigerweise, dass man die Tensionsqualität eher durch den Tastsinn erkennt, und nicht eine reine Gewebemanipulation durchführt. Wenn wir in harmonischer Balance mit den Prinzipien des Mechanismus arbeiten, haben wir den Ausdruck einer nicht-schneidenden chirurgischen Fähigkeit.

Ich möchte mich noch einmal auf Dr. Stills Lehre berufen: Wir müssen die Position und den Zweck eines jeden Knochens kennen und mit jedem seiner Gelenke völlig vertraut sein. Wir müssen eine perfekte Vorstellung von der Normalität der Gelenkverbindungen besitzen, die wir korrigieren wollen.59

Wir als Mechaniker des menschlichen Körpers sind zugleich Mechaniker in der Wissenschaft des Verstehens, wenn wir die grundlegenden Prinzipien des Primären Atemmechanismus durchdringen. Deshalb ist es so wichtig, die Grundlagen dieses Teils des lebendigen menschlichen Körpers vom Blickwinkel der osteopathischen Wissenschaft aus zu begreifen: die membranösen Strains der Schädelgelenke und ihr Einfluss auf den Rest des Körpers.

Das große Sutherland-Kompendium

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