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England ordnet die Welt neu
ОглавлениеIm »West-östlichen Divan« klagt Goethe über die Zersplitterung Europas; er mag dabei wohl an das Geplänkel auf dem Wiener Kongress gedacht haben: »Und wer franzet oder britet, italienert oder teutschet, einer will nur wie der andere, was die Eigenliebe heischet.«2 Die nationalen Egoismen aber, so hoffte Goethe, ließen sich zügeln, sofern die Europäer sich ihrer 3000-jährigen Geschichte bewusst würden – einer Geschichte, die mit der ca. 1000 v. Chr. einsetzenden griechischen und der nachfolgenden römischen Epoche begann. Der hier nun folgende Rückblick muss sich indes auf die 300 Jahre vor dem Attentat in Sarajevo beschränken.
Mit der Reformation war eine westeuropäische Bewegung entstanden, die sich von den Fesseln des römischen Papstes befreien wollte. Gleichzeitig streckten die romtreuen Portugiesen und Spanier ihre Hände nach den neuen Welten in Übersee aus. Gerhard Mercator (1512–1594) schuf im Jahre 1569 eine europazentrierte Weltkarte, die den Seefahrern das Navigieren erleichterte und ihm Weltruhm einbrachte.3 In ihr zeigt sich Europas Wunschdenken, respektabler Mittelpunkt der Erde zu sein.4 Zwei Drittel der Kartenfläche dienten der Darstellung der nördlichen Erdhälfte, während die südliche Erdhälfte ins untere Kartendrittel gepresst war. Die alte Mercator-Karte begleitete 400 Jahre europäischer Weltherrschaft und inspirierte auch John Dee, englischer Mathematiker, Astronom, Philosoph, Mystiker und Berater von Königin Elisabeth I. (siehe Abb. unten)
Mit Erstaunen und wohl auch einer Portion Missgunst verfolgten die angelsächsischen Gelehrten den grandiosen Aufstieg von Portugal und Spanien seit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus im Jahre 1492. John Dee war mit den Ministern William Cecil (1520–1598) und Francis Walsingham (1532–1590) befreundet. Letzterer baute in den Jahren von 1578 bis 1583 auf dem Kontinent ein Spionagenetzwerk auf – gleichsam eine Vorläuferorganisation des britischen Secret Service. Mindestens 50 Agenten bezahlte er aus eigener Tasche, darunter John Dee, der unter dem Codenamen 007 in seinen Diensten gestanden haben soll.5 Um 1570 brach der Freibeuter Francis Drake zu Kaperfahrten in die Karibik auf. John Dees Expansionspläne gingen deutlich weiter: Um ein »Atlantisches Imperium« errichten zu können – Dee prägte den Ausdruck »British Empire« – forderte er eine königliche Flotte von 60 großen Schiffen oder mehr. »Dadurch werden die Einkünfte der Krone Englands und der öffentliche Reichtum sich wunderbar vermehren und gedeihen und dementsprechend lassen sich die Seestreitkräfte dann weiter ausbauen. Und so wird sich der Ruhm, das Ansehen, die Wertschätzung und Liebe und die Furcht vor diesem Britischen Mikrokosmos über das ganze weite Erdenrund rasch und sicher ausbreiten.«6 Dees Visioen stießen auf offene Ohren, seine Wünsche wurden erfüllt. England siegte im Kampf um die neuen Welten in Übersee.
Imaginäre Landkarte des britischen Weltreichs des Geographen John Dee (1527–1608). Sie gibt nicht Landmassen, sondern »Ideengebilde« wieder. An ein zusammenhängendes »Euro-America« – mit ähnlichen Grenzen wie die NATO nach der Osterweiterung – schließt sich ein »Euro-Asia« an. Südlich davon »Islamistan« (© Abb. 2)