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Berliner Kongress 1878 und die Balkanfrage

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Im Frühjahr 1876 erhoben sich Serben und Bulgaren gegen das osmanische Joch. Zum Sinnbild der Grausamkeiten an der slawischen Zivilbevölkerung, welche weltweit für Empörung sorgten, wurde das Massaker von Batak im Verlauf des bulgarischen Aprilaufstandes. Namhafte Persönlichkeiten wie Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Giuseppe Garibaldi und Victor Hugo protestierten. Letzterer verurteilte 1876 die Verbrechen vor dem französischen Senat und veröffentlichte in verschiedenen europäischen Zeitungen seinen Appell, das bulgarische Volk vor der Ausrottung durch die Osmanen zu retten.48 In der britischen humanitären Volksbewegung engagierten sich derweil Charles Darwin, Oskar Wilde, Florence Nightingale und der spätere Premierminister William Ewart Gladstone (1809–1898), dessen Buch »Bulgarian Horrors and the Question of the East« zum Bestseller wurde. Von ihm ist auch das denkwürdige Zitat überliefert: »Der Politiker denkt an die nächsten Wahlen, der Staatsmann an die nächste Generation.«

In der Empörungswelle gegen das Osmanische Reich sah der serbische Fürst Milan I. die Chance, Serbien als souveränen Staat zu etablieren. Die nationale Stimmung war reif für einen Krieg gegen das Osmanische Reich, zumal die bulgarische Regierung Serbien zu Hilfe rief. So erklärte Serbien zusammen mit Montenegro dem Osmanischen Reich den Krieg, was in Russland große Begeisterung auslöste. Tausende an Freiwilligen aus Adel und Militär strömten nach Serbien, das dem erfahrenen russischen General Michail Grigorjewitsch Tschernjajew den Oberbefehl über die serbischen Truppen anvertraute. Pjotr Iljitsch Tschaikowski komponierte den Slawischen Marsch.

Nach ersten heftigen Niederlagen drängte Russland Serbien zum Friedensschluss, doch anschließend schlug die Osmanische Armee den bulgarischen Aufstand blutig nieder. Die Popularitätswerte der panslawischen Bewegung schnellten weiter in die Höhe, außerdem verstand sich Russland als Schutzmacht der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich. So fühlte sich Zar Alexander II. letztlich zu einem Krieg mit den Türken gezwungen. Im Dezember 1876 besetzte ein russisches Armeekorps die rumänisch-türkische Grenze.

Eine Konferenz der Botschafter aller europäischen Großmächte in Konstantinopel von Dezember 1876 bis Januar 1877 suchte den Krieg noch zu verhindern. Von der türkischen Regierung wurde verlangt, mit Montenegro Frieden zu schließen und den Bulgaren ihre Autonomie zu geben. Doch Sultan Abdülhamid II. weigerte sich – das Signal für die englische Flotte, zum Schutz der Türkei in die Besika-Bay (Dardanellen) einzulaufen. Das alles hielt die Russen indes nicht davon ab, der Türkei am 14. April 1877 den Krieg zu erklären.49 Drei Monate zuvor hatte Österreich-Ungarn Russland im Budapester Vertrag für diesen Fall seine Neutralität zugesichert. Damit waren bis auf das Deutsche Reich alle großen europäischen Mächte involviert.

Nach stürmischem Vormarsch erreichte Ende 1877 die Armee des Zaren das Marmarameer und Yesilköy, einen Vorort von Konstantinopel. Um die Besetzung der Hauptstadt zu verhindern, sah sich der Sultan im März 1878 gezwungen, den Frieden von San Stefano zu unterzeichnen. Darin erkannte das Osmanische Reich die volle Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros an. Zusätzlich sollten kleinere Gebiete an diese Länder abgetreten werden. Die Maximalforderung betraf jedoch Bulgarien: Ein großbulgarischer Staat quer über den Balkan, vom Schwarzen Meer bis an die heutige Grenze zwischen Albanien und Mazedonien sowie im Süden bis an die Ägäis, sollte entstehen. Damit verlor das Osmanische Reich fast sämtliche europäischen Besitzungen, während Russland mit Bulgarien als Marionette nun die Nachfolge der Osmanenherrschaft auf der Balkanhalbinsel antrat. Damit ging ein langgehegter Wunsch in Erfüllung: Russland konnte jetzt auf dem Mittelmeer Flagge zeigen.

Großbritannien sah nun das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Balkan bedroht, welches es seit dem Krimkrieg mit Argusaugen bewachte. Auch fürchtete es um seine Handelsbeziehungen mit dem Osmanischen Reich. Der entschlossene Premierminister Disraeli ließ sofort 5000 Gurkahs50 auf Malta stationieren, während britische Fregatten ins Marmarameer einliefen. Ein Krieg mit Russland lag nun in Reichweite.

Auch Österreich-Ungarn betrachtete mit Sorge den wachsenden russischen Einfluss an seiner südlichen Flanke. Dem Vorschlag des österreich-ungarischen Außenministers Gyula Andrássy (1823–1890) folgend, wurde ein Kongress einberufen. Außenminister Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakow schlug Berlin als Tagungsort vor.

Als einzige Großmacht verfolgte das Deutsche Reich keine eigenen Interessen auf dem Balkan. Reichskanzler Otto von Bismarck betonte am 5. Dezember 1876 vor dem Deutschen Reichstag, dass er auf dem ganzen Balkan für Deutschland kein Interesse sehe, »welches auch nur … die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre«51. Im Februar 1878 erklärte er zudem, er wolle nicht der »Schiedsrichter« in der orientalischen Frage sein, sei aber bereit, die Rolle eines »ehrlichen Maklers, der das Geschäft wirklich zu Stande bringen will«, zu spielen.52 Vorab sollten sich die drei streitenden Parteien grundsätzlich einigen. Unter dieser Voraussetzung erklärte sich Bismarck bereit, den Friedenskongress zu leiten. Die Briten stimmten dem Einigungsvorschlag gerne zu, weil sie glaubten, in einzelnen bilateralen Verhandlungen ihre Interessen besser durchsetzen zu können als in der multilateralen Kongressdiplomatie – ein Verfahren, das die USA bis heute perfektioniert haben. Sie schlossen daher drei getrennte Vorabkommen ab.53

Zwischen dem 13. Juni und dem 13. Juli 1878 richtete sich das Weltinteresse auf Berlin, wo die Vertreter Englands, Russlands, Österreichs, Italiens und der Türkei nach einer einvernehmlichen Lösung suchten.54 Zur Freude der Engländer und zum großen Missfallen der Russen wurde dank des »ehrlichen Maklers« Bismarck der der für Russland so günstige »Siegfrieden« von San Stefano revidiert und damit das russische Übergewicht auf dem Balkan beseitigt. Das Fürstentum Bulgarien blieb formal autonom, verlor aber die Provinz Rumelien sowie das osmanische Makedonien und war der Türkei tributpflichtig. Dagegen wurden Rumänien, Serbien und Montenegro unabhängig. Die Türkei erhielt einen großen Teil ihrer europäischen Provinzen zurück, Griechenland einen Teil von Epirus sowie Thessalien und England Zypern. Bosnien und Herzegowina verblieben formell beim Osmanischen Reich, wurden allerdings unter österreichisch-ungarische Verwaltung gestellt, die das Finanzministerium ausübte – eine vergleichbare Regelung wurde 1999 nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien mit dem Kosovo getroffen.

Von den glanzvollen Eroberungen der Russen blieb nur Bessarabien bis zum Donaudelta übrig. Während der englische Premier Disraeli Bismarck Sympathien entgegenbrachte – die Illustrated London News sprach von »Dizzy« und »Bizzy«55 –, war das Verhältnis Bismarcks zum russischen Staatskanzler und Außenminister Gortschakow sowie zur russischen Öffentlichkeit stark abgekühlt. Das sollte sich auf die künftigen deutsch-russischen Beziehungen nachhaltig auswirken.

Uneingeschränkt zufrieden mit den Ergebnissen des Berliner Kongresses war die britische Regierung, denn man hatte Russland erfolgreich aus dem Mittelmeer ferngehalten und zusätzlich Zypern als Flottenbasis gewonnen. Dafür wurde Außenminister Lord Salisbury mit dem Hosenbandorden ausgezeichnet und Bismarck vom Premierminister Disraeli gelobt.

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