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Vorwort Von Wolfgang Effenberger und Willy Wimmer

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»Geschichte muss doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden?

Nicht?«

Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise

2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal; zahlreiche neue Publikationen zu diesem gravierenden Ereignis, der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie es der US-amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan (1904–2005) treffend formulierte, schwemmen den Markt. Denn die Folgen sind noch heute wirkungsmächtig, der Krieg selbst ein Trauma im kollektiven Gedächtnis der europäischen Völker.

Wie sieht nun die aktuelle Bewertung dieses Krieges, insbesondere seitens der deutschen Geschichtswissenschaft, aus? Ausländische, vor allem angelsächsische und französische Historiker haben sich ja bereits vor langer Zeit zu großen Teilen von der These der Alleinschuld der Deutschen verabschiedet. Ein kritischer vergleichender Blick in die Publikationen der letzten hundert Jahre soll hier die verschiedenen Ansichten gegenüberstellen.

Welche Anforderungen sollten an einen seriösen Historiker gestellt werden? Zunächst muss er sich des eigenen »Nichtwissens« bewusst sein und sich infolgedessen vor schnellen Beurteilungen hüten. Er muss in die Vorstellungswelt einer Epoche eintauchen und darf seine Schlüsse nicht aus der Rückschau und dem Stand der heutigen Wissenschaft ziehen. Frei von jeglicher Ideologie, sollte er in erster Linie ein Fragender sein und ergebnisoffen in alle Richtungen forschen.

Den ersten thematischen Anstoß zum Thema dieses Buches erhielt Wolfgang Effenberger im Mai 2005 während seiner Recherchearbeiten zu den Festlichkeiten für das 25. Regierungsjubiläum des Deutschen Kaisers Wilhelm II. im »Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz« in Berlin. Dort begann er mit der Materialsammlung für das vorliegende Werk, durchaus im Bewusstsein, dass über den Ersten Weltkrieg und dessen Ursachen mehr als ausführlich geschrieben worden ist. Mit Recht stellte Walther Hubatsch bereits 1955 fest, dass Forscher in allen Ländern sich über die Grundzüge der Vorgänge im Großen und Ganzen einig sind – sofern nicht ideologische Bindungen die unbefangene Beurteilung beeinträchtigten.

Egmont Zechlin untersuchte 1964 die Politik und Kriegführung in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs und wählte als Überschrift für seinen Artikel: »Deutschland zwischen Kabinettskrieg und Wirtschaftskrieg«. Manche Politiker in Berlin, Moskau, Paris oder London mögen gehofft haben, dass er auf das Maß eines Kabinettskrieges zu beschränken sei. Doch diese Annahme war höchst naiv, den Kriegstypus gab es höchstens bis zur Französischen Revolution. An einem Kabinettskrieg war lediglich ein kleines stehendes Heer beteiligt, die Kriegführung war zurückhaltend, hatte begrenzte Ziele und strebte die weitgehende Schonung von Menschen und Sachwerten an.

Doch Ende Juli 1914 mussten alle politischen und militärischen Führer geahnt haben, dass dieser Krieg mit den Millionenheeren ein gewaltiges Völkerringen von existenzieller Bedeutung werden würde. So überfielen den britischen Außenminister Sir Edward Grey am Abend des 3. August düstere Gedanken: »In ganz Europa gehen die Lichter aus, wir werden es nicht mehr erleben, dass sie angezündet werden.«Trotzdem stimmte er am nächsten Tag für die Kriegserklärung gegen Deutschland.

Dass der Krieg, der doch nur wenige Wochen dauern sollte, über die Jahre zum »totalen Krieg« eskalierte, liegt zu großen Teilen an der nationalen Kriegspropaganda, die stets der Gegenseite die Kriegsschuld aufbürdete. Das war auch notwendig, um die Massen für die weitere Kriegführung zu mobilisieren. So darf es nicht verwundern, dass die selektiven Schuldzuweisungen interessierter Kreise weit über das Kriegsende hinaus die Debatte bestimmten, um sie für ihre Nachkriegsziele zu instrumentalisieren.

Vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Frage nach einer Kriegsschuld nicht gestellt, da seit dem Westfälischen Frieden das übliche »Tabula-rasa-Prinzip« die Prüfung der Kriegsgründe und die Strafverfolgung der Besiegten ausschloss (Oblivionsklausel). Nach Auffassung der damaligen Vorkriegszeit war die Kriegsschuldfrage also irrelevant. Das Führen von Kriegen galt als legitimes Recht der souveränen Staaten zur Durchsetzung ihrer Interessen. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs gewann die Kriegsschuldfrage vor allem deswegen eine so große Bedeutung, weil dieser Krieg von allen beteiligten Völkern so unvergleichlich hohe Opfer an Toten und Versehrten forderte. Dadurch war der Rechtfertigungsdruck, den die Öffentlichkeit insbesondere auf die französischen und britischen Politiker ausübte, außerordentlich stark. Die Politiker lenkten mit ihrer Propaganda diesen Druck auf den Feind ab. Als Folge zwang dann später der Hass auf den Feind die demokratisch legitimierten Politiker der Siegermächte dazu, in Versailles Vergeltung zu üben.

In den Jahrhunderten nach dem Westfälischen Frieden bildete sich in Europa die Auffassung heraus, dass Kriege sich auf die gegenseitige Bekämpfung der feindlichen Streitkräfte zu beschränken haben. Die Ausdehnung der Kriegshandlungen auf das ganze Volk ist eine bedauerliche, wohl aber unvermeidliche Folge der Bildung von Nationalstaaten, der allgemeinen Wehrpflicht und der Demokratisierung, mithin also eine Folge der Französischen Revolution. Außerdem wurde der Krieg durch die Entwicklung der modernen Waffentechnik entmenschlicht.

Die schon während des Krieges einsetzende wissenschaftliche Erforschung der Kriegsursachen stieß zwangsläufig an Grenzen. Während sich 1917 die russischen Archive und 1918 die deutschen öffneten, bleiben die französischen, englischen und amerikanischen weiter unter Verschluss. Zugegriffen werden konnte nur auf die »Farbbücher«, die ja ausschließlich der Propaganda gedient hatten. Zudem erschwerten apologetische und ideologische Vorgaben die unvoreingenommene Prüfung. In diesem Dilemma untersuchten die meisten Historiker vor allem die Ereignis- und Entscheidungsabläufe während der Julikrise 1914 und zu Kriegsbeginn. Als Lackmustest dienten in erster Linie die Randnotizen des Kaisers, der u. a. auf einen Bericht vom 11. März 1914 von Botschafter Graf Friedrich von Pourtalès in St. Petersburg schrieb: »Als Militair hege ich nach allen Meinen Nachrichten nicht den allergeringsten Zweifel, dass Russland den Krieg systematisch gegen uns vorbereitet; und danach führe ich meine Politik.« Welche Beweiskraft sollen derartige, in einer kaum nachfühlbaren Stimmungslage hingeworfene Notizen haben? Sagen sie etwas über den Charakter aus? Über die Umsetzung in konkrete Politik?

An dieser Stelle sei an die Kommunikationspanne des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan erinnert. Für eine fünfminütige Radioansprache richtete er sich mit folgenden Worten in das vermeintlich ausgeschaltete Mikrofon an das amerikanische Volk: »Liebe Landsleute, ich freue mich, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für vogelfrei erklärt. Wir beginnen in fünf Minuten mit der Bombardierung.«1 Ein großer Schock in der frostigsten Zeit des Kalten Krieges! Reagan bezeichnete die Äußerung im Nachhinein als einen misslungenen Scherz, mit dem er einen satirischen Seitenhieb auf diejenigen austeilen wollte, die ihn als Kriegstreiber hinstellten. Seine politischen Randnotizen könnten vielleicht darüber Auskunft geben, wie ernstgemeint der Satz tatsächlich war. Dennoch käme heute kein Mensch auf die Idee, Reagans Gesamtpolitik an diesem Satz zu messen und Kriegsabsichten aus ihm herauszulesen.

Gerade für eine wissenschaftliche Beurteilung ist es notwendig, aus den zentralen, autorisierten Äußerungen und Handlungen eines verantwortlichen Staatsmannes ein Gesamtbild zu erstellen und seine Absichten transparent zu machen. Außerdem muss an alle Parteien die gleiche Messlatte angelegt und jede Perspektive für sich ausgeleuchtet werden.

Sowohl Wolfgang Effenberger als auch Willy Wimmer hatten während des Kalten Krieges auf unterschiedlichen Ebenen Einblick in das geplante atomare Gefechtsfeld der NATO im Fall einer militärischen Konfrontation und sind daher durch die aktuellen Entwicklungen entlang der historischen Seidenstraße äußerst beunruhigt.

Denn die gleichen Kreise, die vor hundert Jahren nationale Konflikte für ihre Interessen instrumentalisierten, sind heute wieder am Werk. Wieder wird bedenkenlos gepokert und dabei billigend die Gefahr eines Weltkrieges und damit neues unermessliches Leid in Kauf genommen. »Washington is pushing the crisis toward war«, schrieb Reagans ehemaliger Vizefinanzminister Paul Craig Roberts am 15. April 2014.2 Und der streitbare Linguist Noam Chomsky rät den Bürgern demokratischer Gesellschaften angesichts der weltweiten Aktivitäten der amerikanischen Geheimdienste und ihrer Angriffe auf die Demokratie, sie sollten »Kurse für geistige Selbstverteidigung besuchen, um sich gegen Manipulation und Kontrolle wehren zu können.«3 Die Intellektuellen hätten die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken.

Diesen Versuch wollen wir, Wolfgang Effenberger und Willy Wimmer, mit »Wiederkehr der Hasardeure« wagen. Das Werk ist nicht nur ein weiterer Beitrag zur Geschichte des Ersten Weltkriegs. Vielmehr soll es Hintergründe aufzeigen, die auch die aktuelle Weltpolitik verstehen helfen.

Pöcking/Jüchen im Juli 2014

Wiederkehr der Hasardeure

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