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Einigungsbestrebungen in der Mitte Europas

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Während Camillo Cavour durch geschicktes und beharrliches Lavieren zwischen den europäischen Mächten ein italienisches Königreich anstrebte, versuchte Otto von Bismarck (1815–1898), ehemals brandenburgischer Großgrundbesitzer, als Ministerpräsident die Hegemonie Preußens im Deutschen Bund zu verwirklichen. 1863 sicherte er sich durch seine Mithilfe bei der Niederwerfung des polnischen Aufstands ein gutes Verhältnis zum Zaren und griff ein Jahr später gemeinsam mit Österreich in den dänischen Konflikt ein, als Dänemark die Annexion Schleswigs anstrebte: Die Erstürmung der Düppeler Schanze – heute noch von den Dänen in lebendiger Erinnerung gehalten – wurde hier zum ersten Höhepunkt in einer Kette militärischer »Großtaten« Preußens.

1866 führte die Verwaltung von Schleswig-Holstein zu Spannungen zwischen Preußen und Österreich, die Bismarck geschickt nutzte, um im Kräftefeld europäischer Politik Österreich zu isolieren. Nach einer von Cavour vermittelten Geheimallianz mit Viktor Emanuel II. – seit 1861 König von Italien – wurde Österreich in die Zange genommen. Am 1. Juli 1866 siegte Preußen bei Königgrätz klar über Österreich, für das der preußisch-österreichisch/bayerische Bruderkrieg mit einem Debakel endete – es musste Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und die Freie Stadt Frankfurt abtreten. Auch Bayern, Württemberg und Baden mussten an Preußen Kriegstributionen zahlen, das durch Annexionen seine Bevölkerungszahl auf 20 Millionen vergrößerte.

Bismarck hatte den Krieg ohne haushaltsrechtliche Genehmigung am Parlament vorbeigeführt und die finanzielle Absicherung dem Bankier Gerson Bleichröder übertragen.43 Später gestand Bismarck, dass er in dieser Situation dem Galgen ebenso nahe war wie dem Königsthron.44 Unter Preußens Führung wurde der Norddeutsche Bund gegründet. Nicht zuletzt wegen der territorialen Bedrohung durch Frankreich banden sich die süddeutschen Klein- und Mittelstaaten mit Schutzbündnissen an Preußen und passten ihre Heere dem preußischen Vorbild an. Das musste Napoleon III. beunruhigen. Der Kaiser, der gerade einen ganz überflüssigen Krieg in Mexiko verloren hatte, wollte nun die aufstrebende Macht jenseits des Rheins düpieren.

Als im Juli 1870 Prinz Leopold aus der süddeutschen katholischen Linie des Hauses Hohenzollern (Sigmaringen) die spanische Krone annahm, protestierte Frankreich. Leopold stammte aus einer fernen und ständig katholischen Nebenlinie des längst protestantischen Hohenzollernhauses und war mit König Wilhelm von Preußen nur insofern verwandt, als sie 600 Jahre zuvor gemeinsame Vorfahren hatten.45 So verlangte Napoleon III. vom Oberhaupt der Hohenzollern, König Wilhelm I. von Preußen, dem Prinzen die Annahme der spanischen Krone zu verbieten, was dieser zurückwies. Doch der Vater Leopolds, Fürst Karl Anton von Hohenzollern, lenkte sofort ein und gab am 12. Juli 1870 die Verzichtserklärung seines Sohnes in Madrid und Paris bekannt. Frankreich gab sich damit nicht zufrieden. Nur einen Tag später stellte der französische Botschafter Vincent Benedetti König Wilhelm auf der Emser Kurpromenade und verlangte eine »Ewigkeitszusage« und dafür noch zusätzliche Garantien. Niemals dürfe ein Hohenzoller die spanische Krone annehmen. Wilhelm I., vom dem überfallartigen Auftritt Benedettis konsterniert, verwies auf die Verzichtserklärung und lehnte weitere Forderungen ab. Dieser Vorgang wurde nach Berlin telegrafiert, wo Bismarck den Bericht mit verschärfender Kürze zur so genannten »Emser Depesche« umformulierte. Das wurde von Napoleon III., der innenpolitisch unter Druck stand, zum Anlass für die Kriegserklärung an Preußen genommen, die am 19. Juli 1870 vom französischen Parlament gebilligt wurde. Anträge einiger Abgeordneter, vor der Abstimmung den Wortlaut der Depesche zu verlesen, wurden abgelehnt, da das für Frankreich ehrverletzend sei.

Nun erhob sich überall in Deutschland nationale Begeisterung. Entgegen den Erwartungen der Franzosen schlugen sich alle deutschen Staaten auf die Seite Preußens. Wie von Generalstabschef Helmuth von Moltke d. Ä. (1800–1891) geplant, errangen die deutschen Truppen im saarländischen und Pfälzer Grenzgebiet Durchbruchsiege, die äußerst blutig und verlustreich erkämpft wurden. Bei dem Ort Sedan nahmen sie am 1. September neben französischen Heeresteilen auch Kaiser Napoleon III. gefangen. Frankreich wurde wieder Republik, und die deutschen Truppen stürmten weiter nach Paris, das am 28. Januar 1871 kapitulierte. In den zurückliegenden 250 Jahren war Frankreich noch nie so gedemütigt worden wie jetzt durch Bismarck. In der Folge sann die Grande Nation auf Rache …

Zehn Tage zuvor hatte Bismarck in Versailles das deutsche Kaiserreich ausgerufen: ein Bundesstaat von 22 Monarchien sowie drei »Freien Städten«, Hamburg, Bremen und Lübeck. Der König von Preußen, Wilhelm I. – nunmehr »Deutscher Kaiser« –, erhielt per Verfassung das Recht, Bündnisse einzugehen und Krieg zu führen. Er konnte den Reichskanzler und die Staatssekretäre – Minister gab es nicht – ernennen. Im Bundesrat saßen die Vertreter der Länderregierungen; hier wurden Reichsgesetze und der Haushalt bewilligt. Die Volksvertretung, der Reichstag, wurde nach allgemeinem, gleichem oder direktem Wahlrecht gewählt; ihr stand jedoch nur Mitwirkung zu – ähnlich dem EU-Parlament in Brüssel. Der Sieg des protestantischen Preußen hatte die österreichische Schutzmacht aus dem Deutschen Reich gedrängt. Das empfand der politische Katholizismus als herben Rückschlag und gründete als Antwort darauf seine eigene Partei, das »Zentrum«.

Wie Bismarck nutzte auch der italienische König Viktor Emanuel II. die Gunst der Stunde. Als Napoleon III. nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges seine Schutztruppen aus dem Kirchenstaat abzog, machte er den Weg für den Einmarsch der Italiener frei. Am 20. September 1870 eroberten seine Truppen fast kampflos Rom, der Kirchenstaat hörte auf zu existieren. Ein Jahr später erklärte er Rom zur neuen Hauptstadt und bezog im Palazzo del Quirinale Residenz. Diese Maßnahmen führten zu einem jahrelangen Streit zwischen dem Haus Savoyen und dem Papsttum, in dessen Verlauf Viktor Emanuel II. sogar exkommuniziert wurde.

Großbritannien erlebte unter Königin Viktoria – sie regierte von 1837 bis 1901 – die viktorianische Ära, die Blütezeit des Empire. Das größte Weltreich der bisherigen Geschichte erstreckte sich über ein Viertel der Erde. Neben den klassischen Siedlungskolonien Kanada, Australien, Südafrika und Neuseeland wehte in Pakistan, Bangladesch, Burma sowie auf einer Vielzahl von atlantischen und pazifischen Inseln die britische Flagge. Die mächtigste Flotte der Welt hatte Stützpunkte in jedem Winkel des Erdballs und konnte mühelos die Verbindungslinien zu den Kolonien und Protektoraten sichern.

Um den strategisch wichtigen Handelsweg nach Indien zu sichern, kaufte die konservative englische Regierung unter Benjamin Disraeli (1804–1881) die Aktienanteile des ägyptischen Herrschers Ismail an der Suezkanal-Gesellschaft auf. Damit stieg die Bedeutung der Kolonie Indien. Nach der grausamen Niederschlagung des »Großen Aufstandes« 1858 nutzte London die Gelegenheit, die private Ostindien-Kompanie aufzulösen und Britisch-Indien zu einer formellen Kronkolonie zu machen. Die autarke Dorfwirtschaft sowie das indische Baumwollgewerbe wurden vernichtet. Im Gegenzug erhielt Indien Errungenschaften der Moderne – Eisenbahnen, Bewässerung und Häfen. Zugleich durfte das Land als Rohstofflieferant wie als Käufer britischer Fertigprodukte herhalten.


Größte Kolonialmacht und zugleich »Weltpolizist«: die Briten und ihr Empire um 1897 (zugehörige Besitzungen dargestellt mit dunklem Rand) (© Abb. 4)

Königin Viktoria, seit 1877 auch Kaiserin von Indien, verfolgte fürsorglich die Entwicklung ihres inzwischen 18-jährigen Enkels Wilhelm, der zugleich auch Enkel des deutschen Kaisers Wilhelms I. war. Die britische Regierung aber beobachtete mit Misstrauen die Außenpolitik Deutschlands. Gleichzeitig bestimmte die Angst vor der südlichen Expansion Russlands und dessen Streben in Richtung Mittelmeer die britische Politik. Als Reaktion auf Russlands Krieg gegen das kränkelnde Osmanische Reich und den vorangegangenen Krimkrieg (1854–1856) besetzte Großbritannien 1878 die Insel Zypern, zuvor schon zeitweise Afghanistan. Insgesamt führte es in Afghanistan drei blutige und erfolglose Kriege: Der erste endete mit einer der verheerendsten Niederlagen des viktorianischen Zeitalters, als die britische Armee 1842 beim Abzug aus Kabul durch paschtunische Stämme, die mit russischen Waffen ausgerüstet waren, fast vollständig ausgelöscht wurde. Weitere britische Kriege sollten sich noch über ein halbes Jahrhundert hinziehen.46

Die nachhaltigen Siege des österreichischen Feldherrn Prinz Eugen über die Türken schwächten das Osmanische Reich. Aber erst infolge der Napoleonischen Kriege machten sich erste Anzeichen von Freiheitsbewegungen bemerkbar. Unter Führung des »Schwarzen Georg« (Kara Djordje) verjagten im Jahre 1804 die Bauern Mittelserbiens die Türken aus ihrem Lande. 25 Jahre später wurde Serbien als autonomes Fürstentum unter türkischer Oberhoheit anerkannt und Miloš Obrenović von der »Hohen Pforte«, dem Amtssitz des Großwesirs im Osmanischen Reich, als Erbprinz eingesetzt. Als Sultan Mohammed II. gegen seine christlichen Untertanen vorging und die unruhigen Janitscharen ermorden ließ, entfachten diese den griechischen Freiheitskampf,47 von Russland als »Beschützer der Orthodoxen« unterstützt. Aber auch die Westmächte retteten die Griechen aus einer bedrohlichen Lage: Ihre Flotte zerstörte die der Türken bei Navarino (1827), während die Russen bis Adrianopel vordrangen, wo 1830 die Grundlage für die griechische Unabhängigkeit unterzeichnet wurde. Dass sich die Türkei im 19. Jahrhundert noch auf europäischem Boden behaupten konnte, lag nicht zuletzt daran, dass sich Österreich und Russland nicht über die Aufteilung der von den Türken in Europa eroberten Gebiete einigen konnten.

Je mehr sich Russland Konstantinopel und dem Mittelmeer näherte, desto mehr bangte England um die Sicherung seiner Indienverbindung – alarmierend erschien den britischen Staatsmännern Russlands Ausbreitung durch den Kaukasus nach Persien und durch Mittelasien nach Afghanistan und Indien. Um die Macht Russlands wie auch der Türkei im Sinne Englands auszubalancieren und dem russischen Streben ins Mittelmeer einen Riegel vorzuschieben, sprang England im zehnten Russisch-Türkischen Krieg – besser bekannt als Krimkrieg (1853-56) – nach bedrohlichen Geländegewinnen den Türken bei und verhinderte so den russischen Sieg. Auch das Nachgeben Russlands 1875 im Kurilenkonflikt mit Japan und die folgende erste russische Revolution ließen London nur kurzfristig aufatmen.

Wiederkehr der Hasardeure

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