Читать книгу Vater und Klon - Wolf Buchinger - Страница 10
Paul versucht, sein neues Dasein zu realisieren
ОглавлениеPaul, oh Paul! Du musstest uralt werden, um zum ersten Mal ein Interview im Radio zu bekommen. Ich war kaum aufgeregt, so, als hätte ich es schon tausend Mal gemacht. Und die Moderatorin war Klasse. Jung, ungeschminkt, weder tätowiert noch Löcher in der Nase, glatte, weiße Haut und große Augen, ihr Name klang türkisch. Na ja, etwas zu hohe und spitze Stimme, aber sie hat mich nie unterbrochen und immer ausreden lassen. Ob sie extra die vierte Frage vor der dritten gestellt hat, kann ich nicht beurteilen, ich jedenfalls habe die Falle schnell bemerkt und nach einer kurzen Pause, die man hoffentlich rausschneiden wird, die richtigen Antworten gegeben. Morgen im Frühmagazin zwischen sechs und acht Uhr wird es dann ausgestrahlt. Hallo, meine Eltern da oben im Himmel, ihr könnt euren Sohn dort hören! Radio One, die Frequenz werdet ihr sicher finden. Und eine schöne Stimme hätte ich auch. Das wusste ich nicht. Das letzte Mal habt ihr mir vor sechzig Jahren befohlen, leiser zu reden, weil ich viel zu laut und unangenehm schreie. Seitdem hat sich nie jemand über meine Stimmqualitäten geäußert. Und jetzt hört mich die ganze Welt. Sie hätten immer zwischen dreihundert- und vierhunderttausend Zuhörer. Gut, dass ich die nicht sehen kann, sonst hätte ich wieder mein schlimmes Lampenfieber wie damals, als ich an Muttis vierzigstem Geburtstag ein kurzes Gedicht aufgesagt habe und dabei mehr gestottert als gesprochen habe. Sie hat es mit Fassung getragen und gefunden, dass ihr Sohn sonst viel cleverer sei, aber was noch nicht ist, könne ja noch werden. Ja Mutti, es ist was aus ihm geworden!
„Gut, dass Sie so schnell zurück sind! Haben Sie einen Anzug dabei?“
„Aber Monsieur, Sie haben schon Starallüren. Ich bin zwar schnell, wenn es sein muss, aber zaubern kann auch ich nicht. Noch nicht.“
„Sie haben doch etwas von ‚französischer Art‘ gesprochen - na?“
„À la française heißt in diesem Fall, dass ich bei Tati, drüben in Frankreich, zwei billige identische Anzüge gekauft habe. Eine Freundin von mir macht daraus mit Dehnen und Strecken und was weiß ich noch alles, einen topmodischen neuen Anzug, der allen Ansprüchen entspricht. Die Vorlage hat sie aus dem Internet geklaut, ich garantiere für die Aktualität im Pariser Chic. Und wenn Sie zufrieden sind, macht sie mit edlerem Stoff bis übermorgen den nächsten.“
„Dann aber vier Stück bitte!“
„Wieso vier? Das ist doch Geld zum Fenster rausgeworfen, ein zweiter genügt, ich kaufe lieber für das gesparte Geld 48 Flaschen Madiran. Moment mal, ich rechne nach: Das wären mindestens achtzig Flaschen! Formidable, fast ein ganzer Weinkeller …“
„Es bleibt bei vier Anzügen, zwei für mich, zwei für Raoul, wir müssen auch gleich aussehen.“
„Oui Monsieur, Sie genehmigen die Mittel, also wird es auch so sein.“
„Und dann noch eine Bitte: Die Radioreporterin hatte eine wunderschöne, vornehm wirkende Moderationskarte, schwarzer Untergrund und in großen Goldbuchstaben „Radio One“. Können Sie so was auch für mich machen? Sie haben doch hier alles stehen, Computer, Laptop, Drucker. Und vielleicht wieder à la française. Bis morgen Mittag, damit ich sie in der Fernsehsendung schon benutzen kann.“
„Mais oui, so etwas mache ich gerne! Was soll denn draufstehen?“
„Paul, der … äh … Klongeber …“
„Doof, das klingt nach göttlichem Wesen, und ein neues ungewohntes Wort ist es auch. Nächster Vorschlag bitte!“
„Also, … Paul, der … Vater von …“
„Dann hätten Sie mit sich selbst geschlafen …“
„Paul, der … - ich habe keine Idee mehr, es muss etwas Besonderes und Auffallendes sein, etwas, was man sich sofort merken kann. Etwa: ‚Brille - Fielmann‘ oder ‚Nichts ist unmöglich - Toyota‘… oder …“
„… Madiran, der Ideengeber. Ja, das ist eine gute Idee. Ich hole gleich zwei davon.“
„Eine Flasche genügt. Morgen müssen wir fit aussehen.“
„Reine Vorsichtsmaßnahme, ein leichtes ‚Plopp‘ und wir werden sehen, wie die Gedanken sprudeln. Zum Wohl, Monsieur! Ich bin zwar der Jüngere, trotzdem schlage ich vor, dass wir ab sofort immer ‚Du‘ zueinander sagen, konsequent immer, nicht wie bisher am nächsten Morgen wieder ‚Sie‘!“
„Wenn’s sein muss! Zum Wohl, Du!“
„Zum Wohl, Paul! Und à la française soll auch gelten. Wer versehentlich ‚Sie‘ sagt, muss auf der Stelle sein Glas leer trinken!“
„So etwas passiert mir nicht, ich habe mich immer in Kontrolle.“
„Also, an die Arbeit. Was schlägst Du vor?“
„Der Wein wirkt noch nicht. Zum Wohl! Aha, was hältst Du von ‚Paul-Ming-TV‘?“
„Funktioniert nicht, weil jeder Sender sein eigenes Signet haben will.“
„Ich versuche es mit ‚Paul - Inklonisator‘ “
„Kolonisator - Senator - Kurator - Eigentor!“
„Oh Edouard, Sie verarschen mich!“
„Ich verarsche Dich nicht, ich will Dich vor Schlimmerem bewahren! Trink erst einmal Dein Glas ex!“
„Uff, reingefallen. Immer, wenn ich mich ärgere, reagieren meine Emotionen besonders stark.“
„Mir geht’s ähnlich so, aber nur bei Frauen. Gerade habe ich Fiona getroffen, ja, da waren sie wieder, diese unkontrollierbaren Gefühle … ich wollte sie nur kurz am Arm berühren, um zu testen, wie es mit ihr steht, doch sie hat sich sofort in eine andere Richtung gedreht und mir in ihrer ganzen Eiseskälte, die ich täglich abbekommen würde, wenn ich mit ihr etwas hätte, ins Gesicht geschleudert: ‚Gestern war gestern, heute ist heute.‘ Ich brauch‘ einen Schluck! Ah ex, das tut gut.“
„Hihi, und jetzt darfst Du einmal ‚Sie‘ zu mir sagen …
„Witzbold!“
„Gerne. Und Du hattest keine Angst, Dich an ihrem schwarz tätowierten Arm dreckig zu machen?“
„Non! Jetzt hätte ich Lust, mal wieder ‚Sie‘ zu Dir zu sagen. Vorsicht, ich bin keiner, der kuscht, sonst wäre ich jetzt immer noch in Amt und Würden. Ich muss Dir sagen, dass Du eine unangenehme Ader hast. Alles, was Du nicht kennst oder magst, machst Du schlecht, das ist purer Rassismus. Lass doch Fiona Fiona sein, lass doch Elisabeth Elisabeth sein, lass doch Franzosen Franzosen sein wie sie sind, Du wirst mit dieser Einstellung nur negative Gegenreaktionen erleben. Pardon, aber es musste raus. So, jetzt geht’s mir besser. Zum Wohl!“
„Zum Wohl! Ja, der Wein wirkt.“
„Oui, im Wein steckt Wahrheit.“
„Okay, okay, wir sollten noch eine Lösung finden für den
Moderationszettel.“
„Ich spüre die Lösung: ‚Paul erwartet Klon Raoul‘.“
„Sie sind genial, Edouard!“
„Sie haben ‚Sie‘ gesagt.“
„Sie auch!“
„Extra, na dann, ex!“