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Blasphemie hin, Blasphemie her, Paul landet in China

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Huch. Wo bin ich? Aua, mein Kopf. Was ist los? Alarm! Ich habe weder mich noch die Situation im Griff. Das hat’s ja seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Ich fühle mich mieser und unsicherer als damals vor … rückwärts zählen geht noch nicht … vor … vor gefühlten hundert Jahren, als mir, … mein Gott bin ich kaputt, ich komme noch nicht einmal mehr auf ihren Namen, also, als sie mir gestanden hat, dass sie ein Kind von mir erwartet, obwohl ich nur so ein bisschen mit ihr geschlafen hatte … ja, Agathe - nomen est omen - hieß sie. Und was war das ein Zirkus, als ich ihr mit einem langwierigen Vaterschaftstest nachweisen konnte, dass ich nicht der Erzeuger bin, sie wollte einfach nur reichlich Alimente abzocken. Seitdem habe ich immer die Flucht ergriffen, wenn mir eine Frau näherkommen wollte. Schon einem verbindlichen Blickkontakt bin ich ausgewichen. Okay, jetzt spüre ich eine leichte Besserung in meinem Körper. Situationsanalyse bitte! Ich erinnere mich klar an das Kofferpacken zuhause, die Fahrt zum Flughafen, die ersten Stunden im Flieger … es fehlen mir Ankunft, Transfer und das Beziehen dieses Zimmers. … Wo bin ich? Warum bin ich hier? War ich besoffen? Oder hat man mich unter Drogen gesetzt? Wo ist mein Handy? Wo sind meine Sachen? Verdammt noch mal, ich kriege nichts auf die Reihe. Zimmeranalyse: Luxus, Fünfsternehotel, echte Orchideen, Bett extra large, Geruch nach Sauberkeit und edlem Rosen-Raum-Spray, Rollläden runter, Vorhänge geschlossen, Licht indirekt bläulich. Ich muss aufstehen und nachsehen, - aua - das geht noch nicht, mein Kopf, mein rechter Arm, meine Füße verweigern ihren Dienst …

Ach, ich fühle mich hier sicher und tue einfach das, was ich zuhause bei Grippe immer gemacht habe, ich drehte mich um und schlief noch ein paar Stunden. Dann war ich meistens geheilt oder auf spürbarem Weg dorthin. Gute Nacht, Paul, gute Nacht, Raoul! Gute Nacht, Edouard, gute Nacht … Starkes Parfüm? Hat mich da jemand ganz sanft geküsst? Hey Paul, du träumst! Ich höre Tritte auf dem Parkettfußboden. Klingt wie Pferdegetrappel. Also Schuhe einer Frau. Ich rekapituliere: Ich bin in einem fremden Zimmer, wahrscheinlich in China irgendwo in diesem Rie-senreich, habe keine Möglichkeit eines Kontakts nach draußen, geschweige denn in die Heimat, und dann die hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich mit einer Frau ganz alleine bin. Ich muss mich wehren! Wo ist mein Schweizer Offiziersmesser? Wahrscheinlich versteckt oder an die Armen verschenkt. Kann ich einen Gegenstand in diesem Raum als Waffe umfunktionieren? Ein Stuhlbein? Den Fuß einer Lampe? Wie kann ich feststellen, ob die Tür nach draußen offen ist und ich fliehen könnte? In China? Paul, dreh den Spieß um und werde selbst aktiv!

Erschrecke den potentiellen Gegner und überrasche ihn! Ja! Jetzt!

„Wer ist da?“

„Ah Paul, endlich sind Sie wach! Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Zwanzig Stunden schlafen, das muss man können!“

„Ah Sie, Elisa …“

„Nein Paul, bitte nicht singen! Nie mehr!“

„Wo bin ich?“

„Hier bei mir.

„Wo ist das?“

„Mitten im Reich des Drachens. Im Ming-Kompetenz-zentrum. Gästesuite Nummer vier, das sogenannte Erwar-tungszimmer. Seien Sie herzlich willkommen!“

„Wer hat mich geküsst?“

„Einen kleinen Begrüßungskuss kann niemand verwehren.“

„Ist das im Vertrag inklusive?“

„Muss man denn jede Kleinigkeit regeln? Hauptsache, die große Linie stimmt. Wie geht es Ihnen?“

„So lala.“

„Sie haben keine Erinnerung mehr an das, was Sie angestellt haben?“

„Leider nein. Habe ich mich wider Erwarten irgendwo danebenbenommen?“

„ ‚Irgendwo‘ ist der falsche Ausdruck, überall, ja überall. Sie haben die Stewardessen angemacht und beschimpft, weil es keinen Madiran an Bord gab, sondern nur einen missratenen Bordeaux, immerhin einen zwanzig Jahre alten Lafitte Rothschild Grand Cru. Dann haben Sie getrunken wie Ihr französischer Assistent in besten Zeiten und schließlich musste Sie Peter zwangshypnotisieren, als Sie den Beamten der Zollkontrolle als ‚schlitzäugigen Ausbeuter‘ bezeichnet haben. Die vollgekotzte Flughafentoilette war dann noch der schreckliche Abschluss. Wir haben uns Sorgen wegen Ihrer DNA gemacht, doch Recherchen haben ergeben, dass Sie erst seit kurzem saufen, das wird sich sicher nicht auf Raoul übertragen. So, jetzt schämen Sie sich ein paar Minuten und dann ist die Sache vergessen. Ich lade Sie ein zum festlichen Begrüßungsabendessen!“

„Chinesisch?“

„Lassen Sie sich überraschen! Bitte ziehen Sie sich tv-like an, das Kamerateam wird am Anfang dabei sein. Bis in zwanzig Minuten!“

Na, dann freue ich mich auf geröstete Hundeschwänze, Schlangeneier und frittierte Heuschrecken. Okay, das gehört zu meinem gesuchten und gefundenen Abenteuer dazu. Und im Fernsehen komme ich auch schon wieder, ich werde mich bemühen, beim Knacken der Insektenschalen ein fröhliches und zufriedenes Gesicht zu machen. Die Show must go on, wow, mein Englisch macht Fortschritte. Und Elisabeth sieht in natura viel besser aus als auf dem Bildschirm, nicht jeder ist halt so telegen wie ich. Und bevor ich mich in Schale werfe, versuche ich rauszukriegen, wo ich denn überhaupt bin. Toll, der Vorhang lässt sich elektrisch öffnen, die Rollläden ebenfalls. Draußen ist es dunkel, ein paar schemenhafte Lichter und nichts als Hochhäuser, die meisten Fenster unbeleuchtet, also nicht bewohnt oder mitten in der Nacht oder Büros, die nur am Tag benutzt werden, vielleicht ist alles ihr Kompetenzzentrum. Unten sehe ich auch keine Ställe für die Schweine, vielleicht sind die oben auf dem Dach. Für diesen Ausblick hätte ich nicht nach China fliegen müssen, kein Reisfeld, keine Wasserbüffel, kein uriges Dorf. Das da draussen könnte in jeder europäischen Grossstadt sein. Ich werde mir einen Ausflug aufs Land wünschen, wenigstens einen halben Tag. Und ein paar Fotos möchte ich auch machen, Bauern beim Reisdreschen, Frauen kochen am Holzkohlefeuer und die untergehende Sonne in einem Fluss, ein kleiner See tut es auch.

Ich bin und bleibe ein Romantiker und brauche wenigstens eine Rose für Elisabeth, schliesslich hat sie mich eingeladen … und geküsst! Was soll das bedeuten? Chinesen sind doch beim Körperkontakt sehr scheu und zurückhaltend, aber sie ist ja Europäerin. … Was wollte sie damit sagen? Vielleicht hat sie mich ausgewählt, weil ich ihrem Traum-mann gleiche, der jede Nacht in ihren Phantasien über sie herfällt? … Nö, das strahle ich nie und nimmer aus. Vielleicht die Seriosität, wie ich Geld verdienen kann oder ganz einfach meine bescheidene Naivität, die man aus- und benutzen kann für eigene Zwecke. Wo kriege ich einen Blumenstrauß oder wenigstens eine Rose her?

Jetzt fällt mir erst auf, wie durch und durch sachlich dieser Raum ist, kein Bild an den Wänden, alles grau in grau gehalten, Schränke und Nachttisch in sterilem Weiß wie in einer Arztpraxis, alles riecht hygienisch und übertrieben sauber, wahrscheinlich könnte man auf der Kloschüssel essen. Vielleicht sieht auch ihr Innenleben so steril aus, Ärztin, Forscherin, Entwicklerin, da bleibt kein Platz für Farbe und Spielereien, sec bis zum Umfallen. Logisch, keine Rose, die würde stören. Und wer schenkt in der heutigen, von der Elektronik bestimmten Zeit überhaupt noch Blumen, man sendet höchstens ein runtergeladenes Foto auf das Smartphone, das genügt. Klinisch rein, der Stiel hat keine Dornen und den Geruch muss man sich dazu denken. Fortschritte der Zivilisation.

„Ja, ich bin gleich fertig! Warten Sie bitte vor der Tür, es dauert nicht mehr lange!“

Top pünktlich, auf die Sekunde zwanzig Minuten. Noch vor ein paar Tagen bin ich rumgelungert in altem Pulli, Schlabberhose und Pantoffeln, jetzt fühle ich mich schon richtig wohl in Anzug mit Krawatte und schwarzen Kalbslederschuhen. Damit schaue ich mich selbst gerne und etwas länger im Spiegel an. Ich wirke drahtiger, jünger und vermittle Seriosität. Zumindest äußerlich, innen drin bin ich wacklig wie eh und je, wenig überzeugt von mir selbst, unruhig wegen der Dinge, die nun sehr bald auf mich zukommen werden, und ich habe eine richtig große Furcht vor dem Moment, in welchem ich meinem Klon zum ersten Mal begegnen werde. Aber jetzt muss ich mich zusammenreißen und den Selbstsicheren mimen.

„Hereinspaziert! Möge die Schönheit Asiens diesen Raum verzücken. … Peter, was macht ihr denn hier? Ich habe Elisabeth erwartet.“

„Ja, die kommt in einer Stunde, wir bauen auf, machen noch ein Kurzinterview mit dir und filmen den Anfang des Essens. Mein Gott, du siehst ja aus wie ein Leichnam nach drei Tagen, tja, saufen muss man auch vertragen. Fiona, pinsele ihn gesund, viel Rouge und rosa Augenpartien. Und viel Spray, seine Falten werden immer tiefer. Und die grauen Haare schwarz einfärben, viele User, vor allem aus China, haben sich beschwert, dass man einen derart alten Mann zum Klonen nimmt. Na ja, Elisabeth muss wissen, warum sie ihn genommen hat, für mich ist er eine Fehlbesetzung. Aber Job ist Job, und sie zahlt ja wirklich gut.“

„Danke für die Blumen! Und nun an die Arbeit! Und wenn ihr es nicht schafft, mich zwanzig Jahre jünger aussehen zu lassen, werde ich dafür sorgen, dass das Team ausgetauscht wird.“

So, jetzt bin ich wieder der alte: gemein und radikal ehrlich. Es wirkt. Sellie kommt gerade mit mehreren Farbscheinwerfen herein und tauscht die bläulichen Lampen der Deckenbeleuchtung gegen warmgelbe aus. Gut gemacht, jetzt wirkt der Raum wie eine kleine Wohlfühloase, da schmeckt jedes Essen besser.

„Wir machen das Interview in zwei Stufen: Zuerst auf Tonband, damit niemand herausfinden kann, wo du bist. Fiona schreibt den Text und stellt ihn sofort auf unsere Homepage. Danach eine Kurzform für den Dokumentarfilm, den wir erst nach der erfolgreichen Klonierung einstellen.

„Ton ab! Frage eins zur Dok ‘Raoul’: Wie haben Sie bisher unser geliebtes China mit seinen Menschen erlebt?“

„Wollt Ihr mich verarschen? Ihr wisst doch genau, dass ich bis auf einen Zöllner weder Land noch Leute kennen lernen konnte …“

„Hallo, wir sind in den Medien, erzähl uns doch einfach irgendetwas Schönes. Du hast doch sicher schon mal einen Film über China gesehen …?“

„Nein. Ich sage nix ohne meinen Assistenten. Wo kann ich mailen?“

„Nimm mein Smartphone, neuestes Modell, gibt es bei euch erst in vier Monaten. Kannst du damit umgehen?“

„Klar doch, ich bin mit diesen Dingern groß geworden. Sehr chic, sehr schnell. Wo ist denn verdammt nochmal die Mailtaste?“

„Hallo IT-Opa, Tasten war früher. Du musst auf ‚@‘ scrol-len, dann langsam und deutlich das Wort ‚Mail‘ sagen und wenn oben ‚an wen?‘ blinkt, einfach ‚Edouard‘ sagen.“

„Woher habt ihr seine Adresse?“

„Hihi, von wem wohl? Schau mal, Fiona wird ganz rot - in ihrem Alter …“

*Lieber Edouard, wie geht es Dir in der Heimat? Hier läuft alles bestens bis auf den Scheißwein, den es im Flieger gab.

Peter quält mich schon wieder mit dummen Fragen. Was würdest Du sagen, wenn Du überhaupt noch nichts gesehen hast und etwas über Land und Leute von Dir geben sollst - und zwar möglichst etwas Positives. Und vielleicht schreibst du auch noch gerade, wie ich diese erste Phase erlebe. Merci!*

*Cher Paul, hier ist es total langweilig ohne Dich. Ich freue mich darauf, Dich bald wohlbehalten wiederzusehen. Ich habe genug Flüssiges eingekauft. Und mach nicht allzu lange, der Camembert ist schon fast reif. Hier meine, also Deine Antworten:

Ich bin überrascht von der Freundlichkeit der Menschen. Schon beim ersten Kontakt bei der Passkontrolle hat mich der nette Beamte freundlichst angelächelt und mich in bestem Englisch willkommen geheißen. Diese echte Gastfreundschaft habe ich nun vielfach erlebt, sei es beim Einchecken im Ming-Kompetenzzentrum oder auf dem Bauernmarkt, wo man mir viele Spezialitäten des Landes zum Probieren angeboten hat, obwohl ich gar nichts kaufen wollte. Für morgen ist die Besichtigung der Chinesischen Mauer vorgesehen, ein weiterer Höhepunkt meiner Reise in dieses besondere Land.*

„Die Passage ‚in dieses besondere Land‘ wird gestrichen und ersetzt durch ‚in das goldene Reich der Mitte‘. Fiona, hast du es verändert?“

„Okay Boss, und jetzt schnell Nummer zwei. Elisabeth wartet schon vor der Tür!“

*Ich spüre eine große innere Anspannung in mir. Schließlich ist es das Abenteuer meines Lebens und ein grosser Schritt für die Menschheit. Kolumbus wird es wohl kaum anders ergangen sein, als er zum ersten Mal in der Ferne das neue Land sah. Ich bin allen dankbar, dass ich die große Ehre habe, als Erster geklont zu werden. Ein besonderer Dank geht an die verehrte Frau Professor Ming und ihr engagiertes Team!*

„Hoffentlich brichst du dir beim letzten Satz nicht die Zunge ab! Die Sache mit Kolumbus fliegt raus, viel zu ausgelutscht.“

„Hey Peter, kaum habe ich es im Netz, sind schon Dutzende von Reaktionen da, die meisten mit schematischen Glückwünschen und Hoffnungen und … und …, kaum zu glauben, unsere oberste Parteiführung in persona, unser Genosse Gesundheitsminister wünscht uns das Allerbeste. Na, jetzt sind wir nicht nur geduldet, jetzt haben wir den Durchbruch und können ungestört arbeiten. Ich hatte da so gewisse Ängste.“

„Ich auch, vor allem, weil ich nicht wusste, ob der Zollbeamte Meldung gemacht hat oder nicht. Er hat es nicht, das spricht für ihn. Ich habe mir Rang und Namen gemerkt, beim nächsten Mal schiebe ich ihm ein Smartphone unter. Man weiß ja nie, Paul wird sicher noch ein- oder zweimal kommen. Und schau dir mal draußen Elisabeth an, sie hat alles mitgehört und freut sich wie ein kleines Kind über diese Message, … da war wohl auch nicht alles klar mit der Führung.“

*Danke, merci Edouard! Du bist der Größte! Du darfst Dich nun als einer der meistgelesenen Schriftsteller der Welt fühlen, selbst die obersten Chinesen sind auf Deine Schmeicheleien reingefallen! Trink eine Flasche Madiran für mich mit! Salut aus weiter Ferne - auch von Fiona.*

„So Kinder, das war es. Ich gehe jetzt mit Paul zum Candle Light Dinner, aber vorher zeige ich ihm noch unseren Transfer-OP, … in der Hoffnung, dass er sich nicht den Appetit verdirbt. Hohoho, kleine Scherze erhalten die Freundschaft. Das Interview könnt ihr morgen machen, wir haben noch 36 Stunden Zeit.“

„36 Stunden?“

„Ja Paul, in anderthalb Tagen werden wir Sie hier klonen, kommen Sie, ich zeige es Ihnen, es ist ganz oben in der 42. Etage. Nehmen wir für die 39 Etagen den Lift oder gehen wir zu Fuß? Wieder ein kleiner Scherz, die Sache mit der Erlaubnis des Gesundheitsministeriums hat mich in Hochstimmung gebracht. Vier lange Jahre mussten wir warten, überhaupt etwas Offizielles zu hören und dann gleich das Maximum. Das ist China. Wir haben auch Vieles getan, um sie positiv zu stimmen. Spontanidee: Wir halten im 27. Stock, dort zeige ich Ihnen ein Geheimnis, das Sie bitte niemandem, wirklich niemandem verraten!“

„Ehrenwort! Wir sind doch demselben Projekt verpflichtet.“

„Und mir!“

„Klar, wie konnte ich das vergessen.“

„Schauen Sie hier durch die Glasscheibe, wir gehen nicht rein, vor dem Essen möchte ich Ihnen den Geruch ersparen. Was sehen Sie?“

„Glascontainer, in denen es brodelt. Ich habe mal eine Brauerei besichtigt, dort sieht es ähnlich aus, vielleicht etwas grösser.“

„Sehen Sie die Beschriftungen?“

„Leider in Chinesisch.“

„Oh sorry, das hätte ich wissen müssen. Also, hier stehen alle Namen der chinesischen Führungselite, genau 217.

Manche haben drei Gefäße, das ist die Regierung.“

„Sie brauen ein Spezialbier für die Bonzen?“

„Schön, dass auch Sie Spaß machen können! Hier erhalten wir in einer Spezialflüssigkeit die DNA unserer wichtisten Leute. Wenn ihnen etwas passiert oder sie krank werden, können wir blitzartig mit Ersatzzellen reagieren und sie verdoppeln. Das nennt man DNA-Replikation. Sie werden eingespritzt und reparieren genetische Fehler, etwa wie man ein Schlagloch in einer Straße mit Teer repariert. Das ist die eine Aufgabe. Ab dem 70. Geburtstag erhält jeder alle vier Monate präventiv eine Dosis, denn wir haben festgestellt, dass diese Reparatureigenschaften bis ins hohe Alter problemlos funktionieren.“

„All das haben Sie entwickelt?“

„Ja, mein Mann und ich. Wir nutzen schon lange dieses Wissen und wenden es an. Auch bei Ihnen! Nur viel komplexer, ich erkläre es Ihnen nach dem Essen.“

„Und warum haben Sie keinen von den Parteibonzen als Klongeber genommen? Sie haben doch schon alles von ihnen?“

„Ja, ja, daher auch die Spannungen mit ihnen. Ich wollte nicht, dass es einen weiteren autoritären, herrschsüchtigen und unnahbaren Menschen ihrer destruktiven Art gibt. Sie sind gefühllos, eiskalt berechnend und gehen skrupellos über Leichen. Diesen Satz habe ich nie gesagt - okay? Ich habe argumentiert, dass eine gewisse Lebensgefahr beim kompletten DNA-Transfer existiert, daraufhin haben sie sich zurückgezogen. Ich bin aber sicher, dass sie mich in die Pflicht nehmen werden, wenn die Sache mit Ihnen klappt. Dann muss ich eine zweite Regierung klonen, die sie dann irgendwo in einem stillgelegten Bergwerk versteckt halten, um jederzeit Ersatz für sich zu haben. Davor habe ich Angst. Riesige Angst. Es wäre ein Schritt in die falsche Richtung, denn wir wollten ausschließlich positive Menschen produzieren.“

„Nobel hat das Dynamit auch erfunden, um der Menschheit zu helfen …“

„Ja, ich ahne es. Ich werde mich mit allen Mitteln wehren, auch mit ungesetzlichen, wenn es denn sein müsste.“

„Bravo, bravo! Wir sind auf derselben Wellenlänge!“

„Ja, das haben wir von vorneherein gewusst.“

„Gibt es von Ihnen auch solche DNA-Behälter?“

„Nein, um Gottes Willen, ich möchte Mensch bleiben und so natürlich wie möglich sterben. Einzige Ausnahme: Wenn ich eine Krankheit bekäme, die ich dadurch schnell heilen könnte, würde ich es tun, aber endlose Transfers würde ich ablehnen.“

„Zum Beispiel Demenz?“

„Ja, das würde ich tun. Wir haben bereits erste Erfahrungen …“

„… mit der Führungsspitze?“

„Ja, ja, kommt dort häufiger vor. Wir brauchen nur vier bis sechs Injektionen und in sechs Monaten merkt man fast nichts mehr. Und es gibt auch keine Rückfälle.“

„Elisabeth! Sie haben den Schlüssel zum Heilen einer der häufigsten Krankheiten! Sie müssen Ihr Wissen an alle weitergeben!“

„Dann bin ich tot.“

„Die da oben?“

„Ja, die da oben.“

„Und für Raoul wird es auch ein Gefäß geben?“

„Oh ja, ein großes für ihn und ein kleines für Sie. Man weiß ja nie.“

„Schön, das zu wissen. Und hilft diese DNA-Reparaturflüssigkeit auch bei gebrochenen Herzen?“

„Was Sie jetzt als Scherz gesagt haben, war für mich eine reale Idee nach dem Tod meines Mannes. Ich habe überlegt, ob ich meine endlosen Depressionen damit heilen können würde, doch vorherige Tierversuche haben gezeigt, dass das Regenerationsprogramm nur über die Zellvermehrung läuft, folglich können nur äußere Schäden durch Wasser, Sauerstoff, UV-Strahlung, ja selbst Nikotinablagerungen beseitigt werden. Die Seele muss der Mensch halt noch selbst reparieren - falls er dies will und kann. Ich habe es versucht mit bewusstem Stress in überbordender Arbeit. Das hilft tatsächlich, solange man darin steckt, aber wehe, wenn man dann mal eine Pause hat oder längere Zeit alleine ist, dann drängen die bösen Gefühle aus allen Ecken des Körpers hervor, wo sie sich versteckt hielten, bis sie nicht mehr unterdrückt sind. Peng sind sie da und zu allem Übel alle auf einmal in immer stärker werdender Intensität. Dann denkt der Mensch kaum mehr logisch, er agiert unter dem Eindruck von gewaltigen negativen Energien. Natürlich meistens falsch, was alles nochmals negativ verstärkt. Wenige wissen das. Die meisten meiner Mitarbeiter sind Chinesen, die sich kaum um die Gefühle ihrer Mitmenschen kümmern. So musste ich mich nie verstecken, wenn es mir dreckig ging. Diese Erfahrungen haben bewirkt, dass ich als nächstes Projekt, nachdem ich das Klonen an meine Stellvertreter übergeben habe, die Emotionalität des Menschen korrigieren möchte. Ich sammle schon fleißig Fachartikel. Auch dort stehen wir ganz am Anfang. Und das ist gut, dann kann ich etwas bewirken.“

„Wow, ich erstarre vor Ehrfurcht. Danke für die Ehre, ganz vorne dabei sein zu dürfen.“

„Sie sind ein Schmeichler, aber das gefällt mir. Mein Verflossener hat entweder gar nicht oder nur rein wissenschaftlich-sachlich reagiert. Er hätte der erste sein können, dem ich positive Emotionalität eingeflößt hätte.

„Dann könnten Sie ja zu Versuchszwecken eine Kanüle mehr von mir abzapfen, sie mit positiven Ionen versetzen und einem Tier einflössen. Vielleicht kann schon dadurch ein Schwein glücklicher gemacht werden.“

„Jetzt reagieren Sie ganz wie mein Mann, guter Einfall, aber ganz so einfach ist es dann schon nicht. Ich gehe davon aus, dass ich zuerst die Grundlagen von defekten Reparatur-Enzymen und deren Mechanismen … nein! Stopp! Ich möchte Ihnen nicht den Abend verderben mit wissenschaftlichen Exkursen, die erstens noch Fiktion und damit ungesichert sind und Sie zweitens langweilen müssen, weil sie nichts verstehen können. Wir gehen jetzt gemütlich essen und lassen alles Wissenschaftliche im Lift. … Themenwechsel. Schon als Teenager habe ich geträumt, einmal mit einem besonderen Mann stundenlang im Fahrstuhl stecken zu bleiben …“

„Ist mir einmal passiert … mit meiner Mutter. Ich habe daran schmerzliche Erinnerungen, denn ich hätte schon vorher dringend pinkeln müssen, aber es hat über eine Stunde gedauert, bis wir befreit endlich wurden.“

„Sie sind mir einer, wieder gewinnt die Sachlichkeit und die Emotionen verlieren. Reden wir lieber, bis wir oben sind, übers Essen. Wir haben eine Parallele zu Ihrem Edouard, den Sie aus der Gosse gerettet haben. Michael war ein Kommilitone im Chemiestudium. Er wusste bis zum fünften Semester nicht, was er denn wirklich werden sollte und schwankte hin und her zwischen Formeln und Jazzmusik, ein begabter Kontrabassist, der es ohne Konservatorium bis ins Radioorchester geschafft hatte. Und dann hat ihn das Schicksal hart getroffen: Im selben Monat ist er von der Uni ausgeschlossen worden, weil er zu oft schwänzte und gleichzeitig wurde das Orchester aus finanziellen Gründen aufgelöst. Er hat es dann mit Nachhilfe und eigenen Musikformationen probiert. Frustrierend erfolglos. Und wo Musik gemacht wird, ist der Alkohol vorprogrammiert, ein Absturz nach dem anderen.

Und dann sind wir uns zufällig eines Abends begegnet, ich habe ihn kaum erkannt, so mager und heruntergekommen war er. Sein Leben schien schon vorbei, er dachte nur noch von heute auf morgen, keine Visionen mehr. Tja, und dann haben wir ihm geholfen, ein kleines eigenes Restaurant zu eröffnen mit damals aus der Mode gekommenen echten sächsischen Spezialitäten. Der Erfolg war mäßig, aber er hielt seine Linie und fand zum Leben zurück. Bis genau auf den Tag, als wir uns entschieden haben, nach China zu gehen, das Haus an eine Modekette vermietet wurde und er wieder auf der Straße saß. Und jetzt ist er bei uns und begeistert die Chinesen mit seiner Kochkunst. Wir leihen ihn sogar einmal im Monat ins Regierungscasino aus, so etwas erhält die Freundschaft.

Wir sind oben. Lassen Sie sich überraschen!“

„Ich ahne: Broiler mit Sauerkraut und Schwarzbier.“

„Lassen Sie sich überraschen! Wir sind da! Michael, darf ich vorstellen: Mister Paul, Paul, darf ich vorstellen: Michael, der beste Koch Chinas!“

„Danke für die Blumen, Elisabeth! Ich habe Ihnen wie immer einen Tisch in der „Sachsen-Stube“ reserviert.“

„Sehr schön. Paul, Sie sollten wissen, dass wir diesen Teil des Restaurants mitgenommen haben, es ist das Original aus Dresden, Nostalgie pur, es ist ein Stück Heimat geworden. Und heute werden wir wahrscheinlich ganz alleine hier sein, es ist irgendein Feiertag, an dem unten alle jubeln müssen. Das hat noch einen Vorteil, wir können offen reden.“

„Darf ich erst einmal die Aussicht genießen?“

„Aber gerne, viel werden Sie nicht sehen, wir sind auf dem Land und die Paraden sind in der Stadt, dreißig Kilometer nach Westen.

„Oh ja, ich sehe den Lichtschein. Und der Rest sind kleine Dörfer und viel Ackerland. Das sieht extrem friedlich aus von hier oben.“

„Oh ja, das ist es auch. Meistens. Aber lassen wir die Politik aus dem Spiel. Michael, was gibt es heute?“

„Das Spezialmenü für unseren Stargast: Der Gruß aus der Küche ist ein feines, kleines Süppchen aus vergorenem Chinakohl, lecker, lecker, dann geröstete Zikadenleber auf blauen Tiefseealgen, extrem lecker. Als Hauptspeise in Anlehnung an unsere sächsische Heimat: Eisbein vom Pandabären mit Glasspagetti vom Ei des Teufelsrochens, phantastisch lecker, und als Nachspeise Süßkartoffelgrütze mit geeisten Papayaknospen. Das wird so lecker, dass ich am besten große Portionen zubereite. Dazu serviere ich Ihnen einen original lauwarmen Reiswein aus der Region in selten gewordenen Meeresschildkrötenpanzern. Ist das so okay für Sie?“

Elisabeth, ich sehe an Ihren Augen und dem Lächeln, dass Sie sich riesig darauf freuen!“

„Michael, Sie überraschen mich immer wieder, und das nach so vielen Jahren! Und Paul, was meinen Sie?“

„Gibt es unten im Dorf eine Pizzeria oder einen echten chinesischen Imbissstand für die Einheimischen?“

„Leider nein, wir sind hier mitten auf dem Land, wir müssten schon in die Stadt fahren. Sorry Paul, wir wollten Ihnen einen besonders persönlichen Empfang bieten mit allem Charme und der Freude der Sachsen. Michael geruhte zu scherzen. Da die Chinesen überhaupt keinen Spaß verstehen und schon bei der geringsten doppeldeutigen Bemerkung beleidigt sind, hebt Michael seinen Humor für die wenigen europäischen Gäste auf. Der Höhepunkt mit fatalen Folgen war seine Ankündigung beim Besuch des sächsischen Kulturministers. Er hat frisch geschlachtete Nieren vom Hund auf Katzengras angekündigt. Sofort ist Frau Minister aufs Klo gerannt und hat sich danach in ihr Zimmer eingesperrt. Sie hat die ganze Zeit hier von Chips und Wasser gelebt. Man sieht, nicht nur der Chinese hat keinen Humor. Michael, was gibt’s denn nun wirklich?“

„Wir beginnen mit dem Gruß aus der Küche und dem blutig klingenden Namen ‚Hackepeter‘. Nein, das ist kein geschlachteter Europäer, sondern mageres Schweinehack mit Eigelb, Bautzner Senf und ganz normalen chinesischen Zwiebeln aufbereitet. Dazu gibt es ein kleines, Garley-Bier, natürlich aus … Sachsen. Na, Herr Paul, wie schmeckt Ihnen das?“

„Hervorragend, hervorragend! Nur die Portionen sind etwas klein.“

„Ja, das ist Absicht! Ihr Körper braucht morgen viel Kraft und keine Ablenkung durch mühsame Verdauung. Essen Sie kleine Portionen, denn große Mengen schwächen Ihren Körper!“

„Zu Befehl, Herr Essensgeneral! Ich folge!“

„Und hier nun die Vorspeise: Süßsaure Linsensuppe mit Blutwursteinlage. Das Rezept stammt von meiner Großmutter, ich habe es aber deutlich leichter gemacht, Sie wissen, warum.“

„Ziemlich blutrünstig, Ihr Sachsen!“

„Ja, wir sind bodenständig geblieben und haben nie den Kontakt zur Ursprünglichkeit des Essens verloren. Noch heute haben viele ein Schwein neben oder in der Garage, das handzahm ist und die kurze Zeit seines Lebens verwöhnt wird mit allerlei Leckereien, da sind wir den Chinesen ein wenig ähnlich, dort laufen die Hühner manchmal noch in der Küche rum. Und wenn das Schwein geschlachtet ist, - oh, ich hoffe, dass ich Ihnen jetzt nicht den Appetit verderbe, - streiten sich vor allem die Frauen um die kleinen noch zuckenden, lauwarmen Muskelfasern, die überall im Inneren zu finden sind. Sie zupfen sie direkt von dem an der Decke hängenden Tier ab und hoffen damit auf besondere Kraft, Abwehrstoffe und … und vornehm ausgedrückt, eine aphrodisierende Wirkung.

„Jetzt räume ich ab und bringe Ihnen einen hervorragenden Riesling von der Saale-Unstrut, dort hat meine Cousine einen Familienbetrieb. Es gibt dort zwar auch Rotweine, aber abgesehen davon, dass die Weißen viel, viel besser schmecken, sind sie vor allem süffiger, und an einen Madi-ran kommen die Roten sowieso nie und nimmer ran. Also dann, zum Wohl, ich lasse Sie jetzt alleine und entschuldige mich, wenn ich zu viel gequatscht habe, das ist halt auch typisch sächsisch.“

„Kein Problem, Michael, ich habe Paul noch viel zu erzählen, praktisch den ganzen Ablauf von morgen, lass dir ruhig Zeit!“

„Danke, ich verschwinde hinter die Töpfe, um den Panda zu schlachten …

Vater und Klon

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