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Paul versteht seine Welt nicht mehr

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Wie sieht es denn jetzt in meiner guten Stube aus? Zwei Dutzend Scheinwerfer, drei Kameras, ein paar Kilometer Kabel, elektronische Geräte, als wäre hier eine Weltraumkapsel gelandet und anstatt Wohnzimmerschrank eine riesige weiße Leinwand. Will ich das? Vielleicht sollte ich Edouard fragen, ob das hier alles okay ist. Nein, nein, ich muss selbst entscheiden. Eigentlich habe ich in den endlosen Stunden hier drin immer Langeweile empfunden, manchmal habe ich die Nacht herbeigesehnt, um endlich schlafen gehen zu dürfen. Und jetzt ist an derselben Stelle das pralle Showleben eingekehrt. Ja, das wollte ich. Paul wach auf! Dein eigentliches Leben beginnt. Ich sollte sie loben.

„Toll haben Sie das gemacht, das sieht ja aus wie ein professionelles TV-Studio!“

„Das sieht nicht nur so aus, das ist das Modernste, was die Technik im visuellen Bereich zurzeit anbietet. Frau Professor Ming würde nie etwas Anderes zulassen. Als Regisseur bin ich extrem stolz, diese Mittel zur Verfügung zu haben. Unsere Standards werden noch in zwanzig Jahren top sein.

Und jetzt zum Ablauf: Wir schalten nun gleich Frau Professor live dazu, sie stellt Ihnen die Fragen, die Sie bitte sachlich korrekt und nicht zu ausführlich beantworten. Wir bearbeiten die Aufnahmen gleich anschließend hier und stellen sie noch heute ins Netz. Dann wird die Post abgehen und Sie werden aus ihrem provinziellen Dornröschenschlaf in das Zentrum millionenfachen Interesses weltweit hochgespült. Genießen Sie die letzten Minuten Ihrer Anonymität, morgen werden Sie von allen erkannt werden. Davon träumt fast jeder und Sie dürfen es erleben. Genießen Sie es in vollen Zügen.

Fiona, die Maske bitte! Selli, bitte die Liveschaltung vorbereiten!“

Oh, sie hat ja wirklich lange Ärmel an, sieht viel natürlicher aus als mit der zerstochenen Haut. Und wie aufreizend ihr Parfum duftet. So nahe ist mir seit Jahrzehnten keine Frau mehr gekommen. Träume werden wahr. Und wie zart sie den Pinsel führt. Au weia, jetzt rieche ich wie ein Vanillekuchen mit Erdbeeren. Hilfe! Sie sprayt mich mit einer riesigen Sprühflasche ein.

„Damit Sie nicht nachher bei all der Aufregung wie ein Schweinchen glänzen! Bei Bedarf schieße ich noch etwas nach.“

Aha, Krieg der Maskenbildnerinnen. Sie hat sich selbst auch mit dieser Bombe eingenebelt, alle Unebenheiten der Haut sind weg, aber die zahlreichen Piercinglöcher sieht man doch, igitt, drei in der Unterlippe, vier in den Augenbrauen und eins durch die linke Backe. Schlecht, wenn man kurzsichtig ist. Sie gehört wohl zu den Frauen, die überall davon …

„Jetzt muss ich Ihnen ein paar Mal ein wenig wehtun! Ihre Augenbrauen müssen gezupft werden, wir können nicht mit diesem Urwald auf Sendung gehen. Ab sofort müssen

Sie sich besser pflegen.“

Aua, das tut ja richtig weh! Jetzt revanchiert sie sich für die langen Ärmel. Elfmal, zwölfmal gezupft.

„Ist ein Ende abzusehen?“

„Wir haben knapp die Hälfte, ihr Männer seid schon Sensibelchen! Denken Sie an was Schönes, das hilft.“

Ich versuche es. In wenigen Wochen werde ich Raoul in die Arme schließen können. Er und ich werden ein Traumpaar sein. Wir werden durch die Straßen gehen - aua! - wie Zwillinge, die ein ganzes Leben nie Probleme oder gar Krach miteinander hatten. Wir werden Autogramme geben, Raoul schreibt seinen Namen nach links kippend, ich meinen nach rechts. Wir werden sehr ähnliche, wenn nicht sogar dieselben Gedanken haben. Wir werden nie Langeweile haben, weil wir von Talkshow zu Talkshow reisen, interkontinental. Heute Berlin und Hamburg, morgen Paris und Marseille, übermorgen Athen und Istanbul und dann Amerika. Wir werden nach ein paar Wochen einen langen Urlaub - aua! - auf Hawaii machen und wie zwei Frisch-verliebte - aua! - bei untergehender Sonne im endlosen Sandstrand tollen. Paul und Raoul, Raoul und Paul.

„Hat mein Tipp geholfen?“

„Oh ja, vor allem am Sandstrand von Hawaii habe ich gar nichts mehr gespürt. Sie sind die Beste Ihrer Zunft! Danke.“

„Ja, danke ebenfalls, das habe ich schon öfters gehört.“

„So Ruhe bitte, wir schalten Frau Professor zu!“

Wie beim Raumschiff Enterprise, Störung über Störung, jetzt ist sie grün, jetzt schwarzweiß, jetzt ist sie halbiert, huch, das ist ja gar keine Chinesin, sie sieht ja wie eine weiße Europäerin aus, was steht da im Untertitel? Eine neue Brille wäre auch nicht schlecht:

CEO Ming-Corporation, Professor Elisabeth Ming Elisabeth, Elisabeth … irgendwas stimmt da nicht. Angefangen mit Klonen hat doch er, Herr Dr. Ming. Da muss ich nachhaken. Achtung, jetzt haben sie sie richtig im Bild, sie schaut tatsächlich zu mir rüber, lächelt und fängt an zu sprechen – haha, das neueste Equipement, es funktioniert nicht, das tut gut. Peter ist nun kein Regisseur mehr, er ist Mensch, hat einen roten Kopf und tüftelt an seinen Schaltern herum, seine Zeichen sieht sie nicht … jetzt wartet sie auf eine Antwort von mir … endlich hat er ihr gesagt, dass man sie nicht hört … oh, dieser böse Blick … mit der möchte ich nicht verheiratet sein … Achtung, es geht richtig los!

„Welcome at Ming-TV, good morning Mister Paul!“

Scheiße, sie kann nur Englisch und ich kein Wort, das wird peinlich, ich muss mich irgendwie retten, sonst lacht sich die versprochene Million in der Community halbtot.

„Welcome und Tach!“

„You don’t speak English?“

„Nö.“

„Oh sorry, das wusste ich nicht. Ein gebildeter Mensch der heutigen Zeit kann halt Englisch, das haben wir vorausgesetzt!“

Bevor die mich weiter in die Pfanne haut, schlage ich zurück: „Lieber gar kein Englisch als eins mit sächsischem Akzent!“

Hoffentlich ist Edouard nicht im Bild, er klatscht Beifall.

„Lieber Herr Paul, ja, ich stamme aus Bitterfeld und habe in Dresden studiert, dazu stehe ich und bin auch etwas stolz, dass jemand aus dem Osten die Welt verändert. Das darf man ruhig hören. Ansonsten wird Peter das Ganze synchronisieren lassen, dann sprechen wir beide perfektes Oxford-English. Zufrieden?“

„Ja, das ist die geniale Lösung! Und warum macht nicht Ihr Mann das Interview?“

Mein Gott, was hat die denn? Ich habe doch nichts Böses gesagt. Sie zurrt sich ein Taschentuch aus dem Gürtel und hat Tränen in den Augen. Da bin ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten. Unabsichtlich. Sie weint. Vor laufender Kamera. Na, dann hat Peter einige Arbeit beim Schneiden.

„Lieber Mister Paul! Sie können es nicht wissen: Mein geliebter Mann ist vor drei Jahren gestorben, unser Sohn ist zu jung, - Peter: bitte Kameras aus! - also habe ich notgedrungen unsere Firma übernommen. Wir hatten uns auf der Uni kennengelernt und sofort begonnen, an dem Menschheitstraum Klonen zu arbeiten, ich habe deswegen noch ein Fachstudium gemacht und - was die meisten nicht wissen - alle Versuche haben wir gemeinsam realisiert, … bis er sich nach einem Selbstversuch, wochenlang mit starken Schmerzen, selbst erlöst hat. Auch diesen Schritt haben wir gemeinsam besprochen und ausgeführt. Jetzt wissen Sie mehr als die meisten. Ich bitte um eine kleine Pause, um mich zu sammeln, dann starten wir neu und auf Deutsch.“

Oh là là, also hat sie ihn umgebracht, … eine kleine Spritze genügt. Sie weint immer noch, vielleicht war es doch ganz anders. Oh bitte, nicht schluchzen und so laut und herzzerreißend, ich weine gleich aus Sympathie mit, Fiona tut es schon … und Edouard auch.

Irgendwie sollten wir jetzt eine längere Pause machen und sie trösten. Das ist ja mehr als Abenteuer. Ich konnte noch nie trösten, geschweige denn Frauen. Als mein Vater gestorben war, haben alle meine Mutter in den Arm genommen, ich bin ins Nebenzimmer geflüchtet, um niemanden berühren zu müssen … und habe versucht, meine Tränen zu unterdrücken, was mir deswegen erst recht nicht gelun-gen ist. Und jetzt die Tränen von Elisabeth auf Großlein-wand. Das wirkt. ‚Elisabeth … Elisabeth‘. Ich überlege gar nichts mehr, ich mache es, auch wenn es falsch rauskommt, es war das Lieblingslied meines Vaters, das sein Gesangverein mehr schlecht als recht an seinem Grab gesungen hat, ich singe es, ja, ich singe es:

„Hör mein Lied, Elisabeth,“

Oh, besser als erwartet.

„Hör mein Lied, Elisabeth,“

Was macht denn Edouard für einen Blödsinn?

Dum – dum – dum dum

Och, er imitiert gekonnt den Bass mit dem Mund.

„Öffne Herzen und Ohr“

dumdum dumdum, dum – dum

„und auch jenen Chor,“

dumdum dumdum dum

„der zärtlich erklingt“

dum dumdumdum

„und Grüße dir bringt,

dum dumdum dum dum

„Elisabeth.“

dumdumdumdum

Warum sind denn nun alle still? Als wäre wieder eine Beerdigung. Frau Professor ist weggeschaltet, nur ein schwarzer Bildschirm. Fiona wischt sich mit ihren Armen die Augen trocken, Peter dreht sich von der Kamera weg und Edouard, - mein Gott, was ist denn mit ihm? - er schluchzt und sein Körper bebt auf und ab, als hätte er einen heftigen Schluckauf. Soll ich weitersingen? Ich kann noch drei Strophen. Wenn das mein Vater sehen könnte, er wäre so gerührt, dass er das tun würde, was er sich und seinem Sohn verboten hat: Emotionen zeigen oder im schlimmsten Fall weinen. Ja, er täte es so wie Selli, der sich nach draußen in den Flur gerettet hat. Die unscharfen Schatten im Milchglas der Tür zeigen, dass er sich mit einem großen Taschentuch die Tränen abwischt - bis runter an den Hals.

Hey Paul, dies ist eine total unbekannte Seite deines Daseins! Paul bewirkt, dass Menschen gerührt sind. Ist das schon eine Alterserscheinung oder eine bisher versteckte, weil verbotene Begabung? Hey Raoul, das wirst du auch können müssen, wenn nicht, bringe ich es dir bei. „Hör mein Lied, Elisabeth“ wird unser erstes gemeinsames Lied sein. Damit wird jeder unserer Showauftritte beginnen und enden. Wir werden nicht nur mit gemeinsamer Logik glänzen, wir werden zusammen die Massen bewegen wie kaum ein Popstar. Simon and Garfunkel werden alt aussehen. „Paul und Klon Raoul inszenieren ihre göttliche Zweisamkeit wie einen Gottesdienst“ wird die Presse titeln. Die Hallen werden bald zu klein sein, wir treten in den größten Stadien der Welt auf, gemeinsam mit dem Papst vor dem Petersdom, die grüne Wiese vor dem Weißen Haus wird schwarz vor Menschen sein und auf den Platz des Friedens in Peking darf nur, wer sich einen Bonus für fünf Jahre besonderer Arbeit verdient hat. Ich sollte Elisabeth mal fragen, wie lange es geht, bis ich Raoul in die Arme schließen kann.

Aha. Jetzt hat sie sich wohl berappelt, auf dem Bildschirm bewegen sich Tausende kleiner Zahlen, der Rechner scheint zu arbeiten. Huch, was ist denn das? Keine Elisabeth, eine Mail:

*Lieber Herr Paul, solche Pannen sollten wir in Zukunft vermeiden. Wir sind hochkarätige Wissenschaftler und wollen keine Botschafter von unnötigen Sentimentalitäten sein, die unsere hehren Ziele verwässern oder vielleicht sogar Angriffspunkte für Gegner sein könnten. Bitte halten Sie sich an diesen Wunsch. In drei Minuten wird unser Interview mit genau den sechs vorgegebenen Fragen beginnen. Keine Extratouren, bitte! Ich zähle auf Ihr Verständnis! Danke. E.*

Bitte! P.! Also wenn es eine Seelenwanderung gibt, dann hat gerade mein Vater zu mir gesprochen. „Hehre Ziele“ hat auch er immer gesagt, wenn er seinen Willen durchsetzen wollte, über den nie zu diskutieren war, weil er immer Recht hatte. Ich habe verstanden, Elisabeth. Nie mehr wirst du mein Lied hören, nur noch meine sachlichen, un-emotionalen, logischen und für Wissenschaftler nachvollziehbaren Ergüsse. Und kurz werden sie sein, damit sie ausschließlich richtig interpretiert und verstanden werden können. Langsam werde ich der perfekte Klon-Geber. Wahrscheinlich hat sie diese Fähigkeiten schon längst mit ihrem Stab von Psychoanalytikern bei mir erkannt und mich deswegen auserwählt. Okay, da muss ich durch, der Zweck heiligt die Mittel. Ich bluffe laut und vernehmlich: „Ja, Elisabeth! Ich folge dir!“ Hat sie es gehört? Ja, Peter nickt begeistert, Selli lächelt, Fiona streichelt ihren linken Arm und Edouard guckt, als gäbe es in den nächsten Tagen keinen Rotwein.

Vater und Klon

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