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Initiationsriten

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Im Vorangehenden sahen wir, wie die Göttlichen zu bestimmten magischen Zeiten im Jahreskreis den Zaun der Zivilisation durchbrechen und die Menschen schicksalshaft berühren. Aber nicht nur kommen die Götter zu den Menschen, die Menschen gehen auch zu den Göttern. Sie gehen in die Wildnis, in die numinöse, zauberträchtige Welt hinter der Hecke, um Kraft aufzuladen, die sonst nirgends zu finden ist. Sie gehen beschwingt, erwartungsvoll, aber auch voller Ehrfurcht und Scheu.

Es gehen vor allem diejenigen, die selbst magisch aufgeladen sind: Jäger, kräutersammelnde Weiber, Schamanen, Narren. Sie schmücken sich mit den Federn und Fellen der wilden Tiere, die ihnen in der Vision begegnet sind oder die mit ihnen befreundet sind. Sie räuchern ihren Leib mit duftenden Kräutern, färben die Gesichter weiß mit Kreide, rot mit Ocker und schwarz mit Ruß. Sie tragen Blütenkränze und grüne Zweiglein im Haar und bringen auf diese Weise ihre Schwingung mit den Waldwesen, den Tier- und Pflanzengeistern, in Einklang. Wenn sie heimkommen, bringen sie nicht nur Heil- und Zauberpflanzen, Pilze, Harz, Geweihe, Jagdbeute und andere Kostbarkeiten mit, sondern sie können dann auch von manchen wunderlichen Begegnungen, von bestandenen Gefahren und erfahrenem Segen berichten.

Was solche Menschen einst beim knisternden Feuer den neugierigen Zuhörern erzählten, ist uns zum Teil bis heute in Märchen und Sage überliefert. Diese Grenzgänger waren Wissende, nicht gläubige Nachbeter, wie die Scharen der Kirchgänger und Sektenmitglieder heutzutage. Sie waren auch nicht Wissende im Sinne unserer heutigen Wissenschaftler, die ihr Augenmerk nur auf die äußeren Sinnesdaten richten und diese penibel messen, wiegen und numerieren. Nein, diejenigen, von denen hier die Rede ist, verbanden scharfe, genauste Naturbeobachtung mit einem Lauschen in das Innere der Natur. Im Spiegel ihrer Seele schauten sie die Seele des Waldes. Diese Waldseele erschien ihnen in der Gestalt von Zwergen und Mooswesen, die ihnen von den Heilkräften der Wurzeln und der Kristalle erzählten und auch die Eingänge zum Reich der Holle verrieten. Als Baumelfen, Sylphen und Feuergeister, als grimmige Trolle, sprechende Vögel und leuchtende Jungfrauen erschien die Waldseele und hielt mit ihnen Zwiesprache.

Fast alle Naturvölker schicken die pubertierenden Knaben zur Initiation in die Wildnis, die Quelle der Kraft und der Weisheit. Nur im tiefen Wald, in der Höhle oder einem anderen Ort weit abseits des Dorfes, jenseits menschlicher Zeit und Machwerke, fern mütterlicher Geborgenheit können die Jugendlichen ihre Kindheit ablegen und ihr wahres Wesen und den Sinn ihres Daseins erfahren. Unter der Anleitung erfahrener alter Männer, mit Hilfe geistbewegender Giftkräuter, durch Fasten, Schmerz und Entbehrungen entkräftet, stirbt ihr Alltagsbewußtsein. Selbst zu Toten, zu Geistern geworden, begegnen sie den jenseitigen Wesenheiten, die nun ihre Lehrer sein können. Sie begegnen ihrem Totemtier, sie lernen ihre Tierhelfer kennen, befreunden sich mit ihrer eigenen, ursprünglichen, wilden, von der Gesellschaft unberührten Natur. In diesem Tierselbst – die Indianer Mittelamerikas nennen es das »Nagual« – erfahren sie ungeahnte Urkräfte: Es erweckt in ihnen die Instinktsicherheit des Jägers, die heilige Wut des Kriegers, die Intuition des Heilers, die Begeisterung des Sängers oder die Geisteskraft des Denkers. Es läßt sie in die dunklen Tiefen tauchen oder in die lichten Himmel fliegen, wo sie den Göttern begegnen. Eine unerschütterliche Seinsgewißheit erwächst dieser Erfahrung im Bereich jenseits der Dornenhecke.

Das Initiationserlebnis ist eines des Todes und der Auferstehung: Wie Jagdwild werden die Initianden zur Strecke gebracht, zerstückelt und im Kessel der Großen Göttin gar gekocht. Mit einer neuen Persönlichkeit, einem neuen Namen, einer reiferen Sichtweise werden sie wiedergeboren. Sie sind Zweimalgeborene, das erste Mal von ihrer menschlichen Mutter, nun aber von der Großen Mutter. Nur so können sie wirkliche Männer werden, bereit und fähig, für die Frauen und Kinder, für die Alten und Siechen, für die Sippe und den ganzen Stamm Verantwortung zu übernehmen und zu tragen.

Bei den Mädchen verläuft die Initiation anders und meistens nicht so dramatisch. Bei der täglichen Arbeit mit Großmüttern, Geschwistern, Tanten und anderen weiblichen Blutsverwandten, beim Wildpflanzensammeln, beim Säen, Hacken und Jäten, beim Spinnen, Nähen und Kochen wurden die wichtigsten Frauengeheimnisse weitergegeben. Die eigentliche Initiation war, wie es bei vielen Völkern noch ist, die erste Menstruation. Die Indianer schickten die Frau in eine Menstruationshütte außerhalb des Dorfes, wo sie die Mysterien der Fruchtbarkeit und des weiblichen Körpers kennenlernte. Wie das Märchen Rapunzel andeutet, gab es auch bei uns Menstruationshütten für pubertierende Mädchen unter der Obhut einer alten »Hexe« (DIEDERICHS 1995: 267). Die Verheiratung und vor allem die Geburt des ersten Kindes stellt eine weitere Einweihung dar.

Psychedelische Pflanzen und schmerzhafte Traumata (Verwundungen, Hungerleiden, Ausschlagen von Zähnen, Tätowierung und Brandmarkierung, Beschneidung), die die Seele ins Jenseits katapultieren, spielen bei den Frauenmysterien eine weniger wichtige Rolle, da – so die Anthropologin Felicitas Goodman – das weibliche Menschenwesen von Natur aus sowieso seinen Instinkten und Intuitionen nähersteht. Die Schamaninnen und Prophetinnen, die »fliegenden Frauen«, vor allem im europäischen Kulturkreis, kannten sich jedoch bestens mit entheogenen Pflanzen aus.

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