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Die zornige Venus

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Mit der Entdeckung der Neuen Welt (1492) geriet das auf die Bibel bezogene biblische Weltbild schwer ins Wanken. Viele Fragen tauchten auf, auf die das »Wort Gottes« keine Antworten wußte: War die Erde doch etwa rund? Wer waren die Indianer? Die Frage, ob sie überhaupt eine menschliche Seele hatten, konnte der Papst erst im Jahre 1512 im Positiven beantworten. Sicherlich waren sie nicht Nachkommen Noahs, dessen drei Söhne, Japhet, Sem und Ham, als die Urväter der Europäer, Asiaten und Afrikaner galten. Waren sie – wie es einige klassische Gelehrte zu äußern wagten – Überlebende der untergegangenen Insel Atlantis, von der Platon in seinen Werken Timaios und Kritias erzählt? Waren es Antipoden, die wie Fliegen an der Decke kopfunter auf der Unterseite der Erdscheibe krabbelten? Waren es Prä-Adamiten, Geschöpfe einer vorhergehenden Schöpfung Gottes, wie Paracelsus mutmaßte? Waren es etwa die Nachkommen des verlorenen Stammes Israel?

Aber nicht nur derartige erkenntnistheoretische Teufel höhlten das grundlegende christliche Seinsverständnis aus. Ein Jahr nach der Rückkehr des Kolumbus brach im Söldnerheer des französischen Königs eine verheerende neue Seuche aus und verbreitete sich rapide über die gesamte Alte Welt. Man nannte sie die »französische Krankheit« (Morbus gallicus), Lues oder auch Syphilis nach dem frevelhaften Schäfer Syphilos, der den Sonnentempel geschändet hatte und dafür von Apollo mit schwärendem Aussatz bestraft wurde. Einreibungen mit Essigen, die Engelwurz, Rosmarin und andere Kräuter enthielten, und mit essentiellen Ölen und aufwendige Räucherungen mit kostbaren Harzen – Maßnahmen, die noch bei der Pest geholfen hatten – erwiesen sich als unwirksam. Weder Mastixgummi noch Gänsefett, Honig, Malvenwurzeln oder andere erweichende, kühlende Kräuter konnten die nässenden, übelriechenden Pusteln, die Schleimhautentzündungen in Rachen, Gaumen und Nase, den Dauerschnupfen und die wuchernden, feigenartigen Gebilde an den intimen Körperteilen aufhalten. Auch »Marspflanzen«, wie die Wurzeln der Narzissen oder Brennesseln, vermochten der »wütend gewordenen Venus« nicht Einhalt zu bieten. Kein Kraut schien dieser Krankheit gewachsen! Und der von der Kirche angebotene Patron der Syphilitiker, der heilige Fiacrus (ansonsten Hämorrhoiden-Patron), konnte erst recht nichts bewirken.

Auch das aus Amerika eingeführte Guaiakumholz, auf das man so viel Hoffnung setzte, Sarsaparilla, Sassafras und andere Pflanzen, mit denen die Indianer die Syphilis erfolgreich behandelten, erwiesen sich in Europa als nutzlos. Sie waren vor allem nutzlos, da die Ärzte den kultisch-rituellen Kontext ignorierten, innerhalb welchem die Kur in der Neuen Welt erfolgte – das strenge Fasten, die Schwitzbäder, die vollkommene Abstinenz und Enthaltsamkeit. All das war zu aufwendig, zu heidnisch. Inzwischen weiß man, daß das im Holz enthaltene Phenolderivat Guajacol, verbunden mit täglichen Schwitzbädern – wobei die Körpertemperatur mindestens 42° C erreichen soll –, die Syphilisspirocheten im Organismus durchaus zu töten vermag (GRIGGS 1982: 40).

Breite Schichten der Gesellschaft wurden durchseucht, vor allem aber die führenden Klassen. Es traf Kirchenfürsten wie Monarchen: Papst Julius II., dessen Füße von den Spätfolgen der Krankheit – Einschmelzung der Knochenstruktur – zerfressen waren, konnte niemanden mehr zum Fußkuß vorlassen. Trotz seiner acht Ehegattinnen wurden die Kinder des britischen Königs Heinrich VIII. entweder tot geboren oder erwiesen sich als lebensunfähig; sie waren schon im Uterus angesteckt worden. Der König glaubte, seine Frauen seien Schuld daran, und um sich legal scheiden zu können, schloß er sich der Reformation an und erklärte sich selber zum Oberhaupt der englischen Kirche. In Moskau terrorisierte Ivan der Schreckliche sein Volk, erschlug im Wahn den eigenen Sohn und die Frau: Die Syphilis hatte sein Hirn angegriffen.

Das einzige, das zu helfen schien, war eine der arabischen Alchemie entliehene, hochgiftige Quecksilberschmiere; gegen die Schmerzen gab es Opiumpräparate (Laudanum). Die ärztlich induzierte Quecksilbervergiftung ließ die Patienten schwitzen, zittern, unaufhörlich geifern; sie bekamen Durchfall und wurden danach apathisch und appetitlos. Geschwüre bildeten sich auf Zunge und Gaumen, die Haut verfärbte sich gelb, da die Leber in Mitleidenschaft gezogen wurde, Haare und Zähne fielen aus, es kam zu Nierenentzündungen und schweren Störungen der Darmfunktionen. Aber da diese »Quacksalberei« die syphilitischen Symptome teilweise beseitigte, galt sie als Erfolg und wurde nun – als die »miracle drug« der damaligen Zeit – bei praktisch allen anderen Krankheiten, vom Asthma bis zum Schnupfen, verschrieben. Resultat war eine iatrogene Katastrophe ersten Ranges. Die moderne chemische Medizin war geboren! »Heroische Medizin« – Schwermetalle, mineralische Gifte (Antimon, Vitriol, usw.) und starke Purgiermittel für kaputttherapierte Därme – galt als fortschrittlich. Die Kräuterweiber und ihr Wissen waren nicht mehr gefragt!


Zwei Ärzte, die Syphiliskranke mit Quecksilbersalbe behandeln. (AUS BARTHOLOMEO STEBER, A Malo françozo morbo Gallorum praeservatio ac cura, 16. Jh.)

Der Schreck, den diese Seuche einjagte, saß tief. Die heimtückische Krankheit, die durch Geschlechtsverkehr übertragen wurde, säte Mißtrauen zwischen den Geschlechtern. Auch der flüchtige sexuelle Kontakt mit der Frau, und sei sie noch so verlockend, konnte Leiden und Tod bringen. Puritaner bekamen Aufwind, sie predigten gegen Unzucht und unreinen Beischlaf. Die Kultur der Badehäuser mit ihrem sinnenfrohen, sorglosen Umgang zwischen den Geschlechtern kam zum Erliegen. Die fröhlichen Maien- und Mittsommerfeste mit ihren Tänzen und Liebeslauben befanden sich plötzlich in gefährlicher Nähe zum Hexensabbat. Typisch für die neue Gesinnung sind die Schriften des Puritaners Phillip Stubbes, der den Maibaum einen »stinkenden Götzen« nennt, den Herrn des Maifestes und -tanzes als Satan, Fürst der Hölle, identifiziert und warnt, daß »von den Mädchen, die in der Maiennacht in den Wald gehen, kaum ein Drittel makellos zurückkehren«.9

Ja, die Natur selber wurde nicht mehr als die Braut Gottes verstanden, als »das Erdreich, in das die heilige Gottheit das Korn säte« (Hildegard von Bingen), auch nicht mehr als gütige, weise Weltenseele, voller Zeichen und Wunder Gottes, sondern als gefährliche Hexe, die es galt unter Kontrolle zu bringen. Es ist bezeichnend, daß sich die schlimmste Phase der Syphilis-Epidemie – zwischen 1550 und 1650 – mit dem Höhepunkt der Inquisition deckt und daß in dieser Zeitspanne auch die fundamentalen Grundsätze der modernen Experimentalwissenschaft, deren Ziel es ist, die Natur zu beherrschen, formuliert wurden. Der Dialog mit der Weltenseele, das Gespräch mit Pflanzen und Tieren, wie es seit der alten Steinzeit und auch im Rahmen des volkstümlichen Christentums noch immer gepflegt wurde, kam zum Erliegen. Zölibate, misogyne Priester führten in Form der Inquisition einen über mehrere Jahrhunderte dauernden Vernichtungsfeldzug gegen die Träger altüberlieferter, schamanistischer Kultur. Und dies nicht nur in Europa, sondern mit gleicher Brutalität gegen die Götzendiener und Teufelsanbeter in der Neuen Welt und anderen Kolonien.

Wir kennen sie alle, die Greuelgeschichten, die die Kirchenmänner über die »Hexen« verbreiteten, etwa, wie sie Mißernten und Seuchen erzeugen, wie sie Säuglinge schlachten, um Fett für ihre Hexensalben zu gewinnen, wie sie den Pakt mit dem Teufel schließen, indem sie ihr Blut in ein Feuer tropfen lassen, in dem Totenknochen brennen, wie sie Unzucht mit dem Widersacher treiben, sein stinkendes Hinterteil küssen. Ja, da mußte die Gesetzesmacht, die Inquisition, hart durchgreifen. Denn hier war Satan am Werk, der die göttliche Ordnung ernsthaft bedrohte. Zwar beteuerten die »Handlanger des Bösen« – meist arme Bäuerinnen, Kräutersammler und Hebammen – ihre Unschuld, aber unter Folter gestanden sie fast jedesmal. Und falls sie nicht gestanden, dann war das der doppelte Beweis der Hexerei, denn welcher normale Sterbliche hätte ohne des Teufels Hilfe die Kraft, der Folter zu widerstehen.

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