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ERSTES KAPITEL:

DAS KIRCHENPROBLEM DES PROTESTANTISMUS

„Es weyß Gott Lob eyn kind von VII Jaren was die kirche sey. Nemlich die heylig(en) gleubigen und die schefflin die yhres hirten stymme ho(e)ren“. Joachim Rogge zitiert diesen Satz aus den Schmalkaldischen Artikeln Luthers von 1537 und bringt dann auch das Bonmot aus einem Seminar: „Dieses Kind möchte ich kennenlernen“ (1995, S. 1052 und 1054). Tatsächlich: Dogmatisch lässt sich im Protestantismus mit wenigen Worten sagen, was die Kirche nach evangelischem Verständnis ist oder sein soll, wo und wie man sie findet. Schwierig wird es erst bei der konkreten vorfindlichen Gestalt. Ein katholischer Kollege erzählt, dass sein Vater immer gesagt habe: „Gut, dass es uns nicht geht wie den Protestanten, denen alles zerfließt“. Ein Kollege aus der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit sagte aus irgendeinem Anlass zu den evangelischen Kollegen: „Ihr Evangelischen werdet euch doch nie richtig einig“. Bei einer Tagung zum Thema evangelisches Profil der Erwachsenenbildung meinte der Referent: „Ich weiß gar nicht, was ihr immer mit dem Profil habt. Man riecht doch meilenweit gegen den Wind, dass ihr evangelisch seid“.

Das sind ein paar Stimmen zum Kirchesein der Protestanten.

Wovon soll die Rede sein, wenn von Kirche gesprochen wird? Es geht um die geschichtlich gewordene Kirche, die in ihrer Gestalt immer Produkt mehrerer Faktoren ist. Man kann sie nicht auf einen einzigen Nenner bringen. Diese Kirche wird nicht nur geglaubt, sie hat als geschichtlich gewordene auch eine soziologisch beschreibbare Gestalt. Diese Gestalt ist semper reformanda. Die Mitglieder dieser Kirche werden befragt. In dieser Kirche werden Prioritäten gesetzt. Auf diese Kirche richten sich Erwartungen. Diese Kirche kann enttäuschen. In dieser Kirche wird mit theologischen Normen gemessen.

Die Gestalt der realen, geschichtlich gewordenen Kirche lässt Joachim Mehlhausen fragen, warum es keine Abhandlung über die Geschichte der evangelischen Kirche nach 1945 gibt. Worüber wäre zu schreiben, wenn es um eine Kirchengeschichte in der Nachkriegszeit ginge? Würde eine Institutionengeschichte schon die Entwicklung des protestantischen Christentums erfassen? Und welche Institutionen wären zu erfassen? Allein die EKD? Was ist mit den anderen konfessionellen Zusammenschlüssen und den Landeskirchen? Was ist mit dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR? Schon schwierig wäre es, hier die großen Linien heraus zu arbeiten. Selbst wenn dies gelänge, wäre das alles? „Es bliebe die ekklesiologische Grundsatzfrage unbeantwortet, ob mit der Erfassung dieser Ereignisse, Entscheidungen und Geschehensabläufe tatsächlich die Geschichte der evangelischen Kirche in der Nachkriegszeit beschrieben worden sei. Es blieben weite Bereiche des Gesamtgeschehens unberücksichtigt, die man zur Geschichte der Kirche hinzurechnen muss, wenn der Begriff der Kirche nicht auf die Institutionen beschränkt werden soll. Selbst der funktionale Kirchenbegriff von CA 7 (Augsburger Bekenntnis Art. 7 – W.L.) legt es nahe, mit dem Wort Kirche die Summe des gelebten Glaubens zu bezeichnen, der sich als je eigene Antwort auf die Verkündigung des Evangeliums versteht. Der kirchliche Zeithistoriker muss unter dem so erweiterten Kirchenbegriff alle jene Phänomene mit berücksichtigen, die sich in unterschiedlicher Distanz und Nähe zur institutionalisierten Kirche bemerkbar machen und den Anspruch erheben, auch (wenn nicht sogar vorrangig!) creatura verbi divini zu sein“ (1990, S. 425). Mehlhausen betont, dass sich bei aller intakten Struktur der Volkskirche in den vergangenen Jahrzehnten doch viele eigenständige Einheiten herausgebildet hätten, die womöglich in vielem die eigentlichen Anreger und Beweger der Kirchengeschichte nach 1945 gewesen seien. Gerade aufgrund der Erfahrungen in der NS-Zeit haben sich viele evangelische Christen bewusst für die Entwicklung verantwortlich gezeigt. Eine Folge dieses Engagements ist ein Pluralismus, der den gesamten innergesellschaftlichen Pluralismus widerspiegelt. Die offizielle Kirche reagiert in vielem bloß auf Entwicklungen. „Die zu Veränderungen oder Erneuerungen führenden Kräfte kommen nur sehr selten unmittelbar aus den Synoden oder Kirchenleitungen; viel öfter wachsen sie in Bereichen heran, die der institutionalisierten Kirche fern stehen und über die der kirchliche Zeithistoriker nur sehr wenig weiß“ (S. 428). Schließlich gehören zur kirchlichen Zeitgeschichte nicht nur Aktivitäten und Verlautbarungen der „Amtskirche“, sondern auch Kirchbauten, Kunstwerke und Musik. In solchen Zeugnissen spiegelt sich die theologische und spirituelle Entwicklung mindestens so gut wider wie in kirchlichen Denkschriften.

Die Frage entsteht, wie weit eigentlich die Verantwortung der Theologie reicht, und wo in diesem ganzen Geflecht von religiösen Entwicklungen die Kirche als Institution zu stehen kommt. Wofür trägt sie die Verantwortung? Welche Verantwortung ist sie bereit zu übernehmen? In jüngeren Untersuchungen der Praktischen Theologie wird immer wieder ein großer Horizont angemahnt. Martin Kumlehn fordert: „Die Kirche muss ... nicht nur ihr organisatorisches Potenzial zur situationsadäquaten Darstellung und Vermittlung christlichen Glaubens weiter ausbauen, sondern auch ihre Wahrnehmungskompetenz für die mannigfaltigen außerkirchlichen Religionsvollzüge zu steigern versuchen“ (2000, S. 13). Gerald Kretzschmar versucht nachzuweisen, dass distanzierte Kirchlichkeit einen Normalfall protestantischer Frömmigkeit darstellt (2001). Er nimmt die von Dietrich Rössler schon 1986 vorgestellte dreifache Gestalt der Entwicklung des neuzeitlichen Christentums als kirchliches, persönliches und öffentliches Christentum auf. Immer geht es um die Forderung, dass die Kirche und die Theologie in ihre Verantwortung und Reflexion die gesamte religiöse Landschaft einzubeziehen hätten und sich nicht auf einen kleinen Ausschnitt des explizit Kirchlichen beschränken dürften.

Die Zukunft der Kirche

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