Читать книгу Die Zukunft der Kirche - Wolfgang Lück - Страница 17

Die Wiederkehr der Religion

Оглавление

Es hat sich etwas verändert. Von dieser Beobachtung wird vielfach ausgegangen. Bereits seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist in der Theologie, aber auch in Philosophie und Kulturwissenschaft Religion wieder Thema geworden. Rainer Volp gab 1975 einen Aufsatzband heraus mit dem Titel „Chancen der Religion“. Im Klappentext heißt es: „Neue Formen der Religiosität haben in den letzten Jahren zunehmende Beachtung gefunden. Auf die eine Zeit lang verkannte Bedeutung von Religion in unserem Leben und Denken machen hier Theologen, Soziologen, Religionsphilosophen und Künstler erneut aufmerksam“. In der Einleitung schreibt Volp: „Die Beiträge kreisen um das Problem Religion und Erfahrung.“ (S. 8). Volp verweist auf Dorothee Sölle, die zur selben Zeit die Religiosität neu im Zusammenhang mit Erfahrung thematisierte. Sölles Buch „Die Hinreise“ aus dem Jahr 1975 trägt den Untertitel „Zur religiösen Erfahrung“ (1983). Es gibt in dieser Zeit ein Bewusstsein davon, dass Religion neu entdeckt wird. Und sie wird im Zusammenhang mit dem persönlichen Leben und Erleben der Menschen gesehen, nicht als Tradition, nicht als eine Sache der Kirche. Noch ist auch Religion nicht der alleinige Leitbegriff für das zu bezeichnende Phänomen. In Volps Sammlung findet sich auch ein Aufsatz von Leszek Kolakowski mit dem Titel „Die Rache des Heiligen an der profanen Kultur“ (Volp 1975, S. 17). Dietmar Kamper und Christoph Wulf gaben unter dem Titel „Das Heilige. Seine Spur in der Moderne“ 1987 einen Aufsatzband heraus, in dem sie von einer ähnlichen Beobachtung ausgehen wie Volp in Bezug auf die Religion: „Das Heilige ist nicht vergangen, sondern es ist als Verschobenes, Verborgenes, Verdrängtes und Vergessenes durchaus aktuell. Man muss es nur kenntlich zu machen verstehen, d.h. man muss es entdecken, darstellen und noch aus seinen verwischten Spuren rekonstruieren können“ (Kamper/Wulf 1987, S. 1). Kamper und Wulf meinen, wenn sich das Heilige so zeigen ließe, dann sei die These von Entzauberung der Welt hinfällig. Damit wird der Bogen geschlagen von der Entzauberung zur Wiederverzauberung der Welt. Max Weber hatte die These von der Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft aufgestellt (Daiber 1995, S. 10). Carsten Colpe begründet den Wandel: „Das neue Interesse am Heiligen kommt aus der natürlichen Theologie, aus Krisenbewusstsein und manchem anderen. ... die neue Beschäftigung mit ‚dem Heiligen kann auch ein Mittel zum Weiterdenken, Weiterglauben und Weiterhandeln sein“ (Colpe 1987, S. 57). Religion oder das Heilige sind nicht einfach eine Rückkehr zu Vergangenem, sondern eine Überwindung von gegenwärtigen Sackgassen.

Mit Beginn der neunziger Jahre verstärkt sich die Debatte um die Religion. Die Kirchenbünde der Lutheraner und der Unierten veröffentlichen 1991 eine Studie „Religionen, Religiosität und christlicher Glaube“. In der Studie wird gefragt, ob es sich am Ende des 20. Jahrhunderts um eine Wiederkehr der Religion handele (S. 25). Auch hier kommt man im Blick auf die Phänomene zu dem Ergebnis, es handele sich nicht um Rückkehr. „Es geht also in den religiösen Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Westeuropa nicht eigentlich um eine ‚Wiederkehr von Religion sondern offenbar vielmehr um ein starkes Freisetzen der Religiosität, d.h. zugleich ein Anwachsen der Nichtigkeitserfahrung des Menschen“ (S. 29). Insofern geht es nicht um die Wiederentdeckung von etwas längst Bekanntem, sondern um die Entdeckung von etwas Neuem, in dieser Art noch nicht Geläufigem oder mit bekannten Kategorien Erfassbares. Colpe meint deshalb: „Auf das ‚Phänomen des Heiligen stößt man überhaupt nur, wenn man sich irgendwie phänomenologisch einstellt“ (S. 53). Dieser Linie folgen dann später Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock und andere mit ihrem phänomenologischen Ansatz.

Die einen beobachten ein neues Aufkommen von Religion und sehen darin die Rehabilitation der Tradition von Christentum und Kirche. Die anderen verhalten sich spöttisch distanziert wie Eberhard Jüngel: „Damit Hand in Hand ging die – sit venia verbo – Entmythologisierung der Wissenschaft vonstatten. Gerade die von ihr ermöglichten gewaltigen Erfolge produzierten die bekannten Folgeprobleme, die ihrerseits das bisherige Grundvertrauen in die Wissenschaft und in den durch sie ermöglichten technischen Fortschritt nachhaltig erschütterten ... Es begann eine Entzauberung der Wissenschaft ... Und mit dieser Entzauberung der Entzauberin ging und geht auch eine neue Religiosität einher, die zwar eine ausgesprochen vagabundierende Religiosität (religio vagans) ist, aber gleichwohl als ‚Wiederkehr der Religion lauthals begrüßt wurde“ (1996, S. 180). Diese Religion mag viele altbekannte Elemente haben. Bei näherem Zusehen ist sie jedoch neu, weil sie auf eine neue Situation im Leben der einzelnen und der Gesellschaft mit neuen Mitteln reagiert, die es in der Form so noch nicht gab. Auf die Terrorakte in New York vom 11. September 2001 sah der Philosoph Jürgen Habermas die Religion neu in Erscheinung treten. Seine Rede aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels erregte deswegen großes Aufsehen, weil Habermas bis zu diesem Zeitpunkt sich kaum mit Religion beschäftigt und zu Religion geäußert hatte. Er meinte zu sehen, dass die Attentate, „eine religiöse Saite“ im Innersten der säkularen Gesellschaft zum Schwingen gebracht hätten (2001, S. 10). Habermas bricht dann in seiner Rede eine Lanze für religiöses Denken und Argumentieren, das durch die Säkularisierung durchaus nicht einfach als erledigt zu betrachten sei. Es müsse weiterhin in bestimmten Grenzen Gehör finden. Habermas wörtlich: „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren“ (2001, S. 24). Die Suche nach diesem Verlorenen mag auch die Erklärung sein für die Beliebtheit von Büchern wie denen von Aleida und Jan Assmann, in denen die Religion als das kulturelle Gedächtnis nachgezeichnet wird (1992 und 1998).

Hier ist Religion nicht einfach eine Erneuerung der goldenen Vergangenheit einer kirchlich geprägten Religion, sondern sie kann nur aus ihren Erscheinungen heraus verstanden und gedeutet werden. Theologie und Kirche können nicht mehr ihre kritischen Fragen allein stellen, sondern sie müssen sich selbst auch fragen lassen, wie sie auf die neue religiöse Situation zu reagieren in der Lage sind. „Wie religionsfähig ist die Volkskirche?“ fragte Volker Drehsen (1994) und nach ihm viele andere. Die Frage steht auch im Raum, wenn es um die Begegnung mit anderen Religionen geht. Die religiöse Landkarte ist ja nicht nur durch die Phänomene geprägt, die man als Reaktion auf die Technisierung und Verwissenschaftlichung unserer Welt ansprechen kann, sondern auch durch Wanderungsbewegungen, die alte und neue Weltreligionen in den Nahbereich gebracht haben, oder die Möglichkeit von Reisen in alle Kulturgegenden der Welt. Wie begegnet das Christentum den Religionen der Welt, die in so große Nähe gekommen sind? Auch das ist eine verhältnismäßig neue Situation, die mit überkommenen Kategorien nicht mehr hinreichend beschrieben und verstanden werden kann.

Mit diesen Entwicklungen hat sich auch die Situation der Kirche verändert. Es gibt keinen Weg mehr zurück hinter die Unterscheidung von Kirche und Religion. Religion ist kein Gegensatz zur Kirche. Sie spricht aber die individuelle Glaubenserfahrung an. Wenn also heute der Begriff der Religion ein Programmbegriff ist, dann in dem Sinne eines Plädoyers für die individuelle Seite der Religion. Von daher gesehen, geht es bei der gern wiederholten Feststellung von der Religion, die boomt, und der Kirche, die sich leert, nicht um eine Feststellung gegen die Kirche, sondern darum, dass sich offenbar Gewichte verlagert haben (Gräb 1995, S. 43). Religion greift weiter als das, was man mit Kirche verbinden kann. Religion umfasst auch Phänomene wie Esoterik, Satanismus, so manches aus der Therapieszene und vieles andere mehr (S. 47). Um diesen großen Bereich anzuzeigen wird deshalb oft nicht einfach nur von Religion, sondern gelebter Religion gesprochen. Neu ist hier vor allem, dass die Menschen Religion erfahren und erleben möchten. Religion ist für sie nicht nur Weltanschauung oder Ethik und hat auch nicht nur mit absoluten Wahrheiten zu tun, sondern mit der subjektiven Gewissheit eines und einer jeden einzelnen (S. 50). Hinzu kommt: Wie vieles andere muss auch Religion Erlebnischarakter haben (Schulze 1992).

Die Zukunft der Kirche

Подняться наверх