Читать книгу Die Zukunft der Kirche - Wolfgang Lück - Страница 16
Leitbegriff Religion
ОглавлениеIn der gegenwärtigen Theologie vollzieht sich ein Wandel. Vielfach werden die Fäden der Theologie vor dem Ersten Weltkrieg wieder aufgenommen. Ulrich Körtner sieht eine „Neuauflage des Kulturprotestantismus“. „Hierbei spielt die Abkehr von der dialektischen Theologie bzw. der Theologie des Wortes Gottes ... eine entscheidende Rolle. Die jüngere Theologengeneration fühlt sich nicht nur zu Schleiermacher, sondern auch zum Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts hingezogen“ (2002, S. 63). Christentum und Kultur werden neu zusammen gedacht. Solche veränderten Programmatiken äußern sich auch in der Terminologie. „Auch der von der dialektischen Theologie geächtete Begriff der Religion erfährt seine Rehabilitierung und hat den Begriff des Wortes Gottes längst als Leitbegriff evangelischer Fundamentaltheologie, der er seit den Tagen Barths und Bultmanns war, abgelöst“ (S. 63). Allerdings hat der Begriff durchaus auch eine neue Füllung erfahren. Man kann ihn nicht mehr unbefangen nur im Singular benutzen. Und das Religiöse selbst hat auch andere Erscheinungsformen angenommen. Religion ist an die Stelle des Leitbegriffs Wort Gottes getreten. Martin Kumlehn beobachtet, das Wort Religion habe in praktisch-theologischen Publikationen weithin das Wort Kirche verdrängt (2001, S. 355).
Die Veränderung im Sprachgebrauch lässt sich auch in der dritten Mitgliederbefragung der Evangelischen Kirche in Deutschland erkennen. Der Begriff der Volkskirche ist fast ganz verschwunden. Neben den Begriff der Kirche ist der Begriff Religion getreten. Nicht dass mit Religion dasselbe gesagt würde wie mit Volkskirche. Vielmehr erschien der Begriff Volkskirche nicht mehr geeignet zu sein für das, was man herauszufinden versuchte. Man beobachtete, wie religiöse Themen plötzlich wieder interessant waren. Religiöses als eine allgemeine Sinnsuche oder neues Weltdeutungsmuster konnte nicht mit den Begriffen Kirche oder Volkskirche angesprochen werden. So wurde gegenüber den beiden vorangegangenen Befragungen von 1972 und 1982 der Fragebogen insbesondere um das Religionsthema erweitert. Man wollte die subjektive religiöse Haltung und Sprache ermitteln (Engelhardt 1997, S. 34). Dazu wurde als neues Instrument das Erzählinterview eingesetzt. Man wollte so weit als möglich die Perspektive der Partnerinnen und Partner einnehmen. Die Menschen haben eine eigenständige Entwicklung des Themas für sich genommen, die sich nicht ohne weiteres mit kirchlichen Begrifflichkeiten beschreiben lässt (S. 56). Interessant sind vor allem die Distanzierten unter den Mitgliedern. Die These ist: „Die erzählte Lebensgeschichte ist der ‚Sitz der Religion“ (S. 61). Gefragt wird nach persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen, nach Weihnachtsgottesdiensten, Kirchenräumen, Orgelklängen und Kerzenschein (S. 60). Was da erzählt wird, findet bislang die Zustimmung der Kirche kaum. Doch für die Studie ist klar: Solange die Kirche „sich selbst – wie in manchen Interviews lebhaft geschildert – eher zur Wächterin einer korrekten, konventionell definierten Glaubenshaltung macht und ihre hermetische religiöse Sprachwelt ängstlich als Besitzstand verteidigt, statt Hilfestellungen zum Verständnis und zur Darstellung individueller religiöser Erfahrung zu geben und die christliche Sprachtradition anschlussfähig zu machen für das unabgeschlossene Feld lebensgeschichtlicher Erfahrungen, solange darf man sich nicht wundern, wenn etwa der Kfz-Meister Wolf den Begriff ‚Gott für sich selbst als autoritär und einengend verwirft und statt dessen lieber von seinem ‚persönlichen Schutzengel reden möchte“ (S. 64).
Religion ist die persönlich erlebte Seite des Glaubens. Für die Studie sind Kirche und Religion zweierlei. Daraus zieht sie die Konsequenz: Wenn man für die Zukunft der Volkskirche etwas tun wolle, müsse man sich nicht nur um das Kirchenverhältnis der Distanzierten kümmern, sondern auch und gerade um ihr Religionsverständnis (S. 35). Es ist nicht mehr nur die Frage, wer eigentlich alles zur Kirche gehört, sondern auch was diese Menschen glauben und wie sie ihren Glauben ausdrücken. Die Frage ist: Welches ist die Religion der Mitglieder?
Der Bericht der Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau „Person und Institution“ stellt Glaube und Religion nebeneinander. Beide sind zu einer „Sache der Subjektivität“ (1992, S. 23) geworden. Wenn der Begriff Religion neuerdings wieder vermehrt gebraucht wird, dann wird damit ausgedrückt, dass man die Subjektivität und die Autonomie der Subjekte anzuerkennen bereit ist. Die einzelnen sind nicht mehr gebunden an eine von Kirche, Theologie oder sonstiger Tradition sanktionierte Ausdruckweise und Begrifflichkeit. Es wird ihnen zugestanden, selbst über ihre Sprache und ihre Deutungen von Erfahrungen verfügen zu können. .
Insbesondere im neuzeitlichen Protestantismus wird diese enge Verbindung von Religion und Subjektivität, von Frömmigkeit und Individualität schon lange beobachtet, auch wenn dieses Grundprinzip nicht immer akzeptiert wurde. Für die Gegenwart kann man aber feststellen: „Die Religion bezeichnet somit die Dimension menschlicher Lebenspraxis, die den einzelnen Menschen in charakteristischer Weise von anderen Individuen unterscheidbar macht, und die Wirklichkeitsperspektive, die die Privatwelt als eine gegenüber den Konventionen und Institutionen der öffentlichen Lebenssphäre abgeschirmte und von der Logik individueller Selbstentfaltung und Selbstreflexion dirigierte Lebensregion konstituiert“ (Steck 2000, S. 118). Die einzelnen werden nicht mehr aus der Perspektive der Kirche betrachtet, sondern um ihrer selbst willen wahrgenommen.