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Gelebte und gelehrte Religion

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Die Menschen wollen Religion erleben. Herausgefunden werden muss aber auch, „ob und inwiefern im Alltäglichen von Subjekten selbst Erfahrungen von gelebter Religion gemacht werden können“ (Heimbrock 2000, S. 275). Wenn von gelebter Religion her gedacht wird, dann wird nicht nur an die Religionspraxis im Rahmen von Institutionen gedacht, sondern auch an eine Praxis, die fernab von „gelehrter Religion“ ihr Wesen treibt. Es geht um die religiösen Suchbewegungen, die sich oft außerhalb von aller „sonntäglichen und kirchlich normierten Religion“ vollziehen (Heimbrock 2000, S. 276). Diese Religion ist als Praxis nicht deduziert aus theologischen Einsichten, vielmehr ist es gerade umgekehrt. „Theologie als lehrhaft-reflexives Element von Religion in Gestalt (kulturell bedingter) wissenschaftlicher Theorie ruht auf lebensweltlich elementarer Theoriebildung, folgt der religiösen Erfahrung von Individuen und Gruppen rekonstruktiv sekundär, um die Identität ihres Erfahrungskerns sowie den Wahrheitswert von Religion systematisch zu explizieren und zu kommunizieren“ (Heimbrock 2000, S. 279). Gelebte oder erlebte Religion ist wie das Ethos, das der Philosophie oder dem konkreten Recht voraus liegt. Philosophie und Recht korrigieren wie die Theologie, aber sie bringen nicht selbst hervor, nicht Ethos und auch nicht Religion (vgl. Lück 1992, S. 23f).

„Religion wird als eine Gestimmtheit des Herzens aufgefasst, als eine Regung des Gemüts, als Nukleus persönlicher Überzeugung, als innere Verfassung der Persönlichkeit, als ein das Leben begleitendes Gefühl“ (Steck 2000, S. 117). Wie solche Beschreibung moderner Religion in der Praxis begegnet, wissen Seelsorgerinnen und Seelsorger wie andere Menschen, die in Gespräche gezogen werden über das, was im Leben wichtig ist. Noch vor dreißig Jahren machten sich Theologinnen und Theologen lustig über die Volksfrömmigkeit. Man verachtete Lieder wie „Stille Nacht, heilige Nacht“, „So nimm denn meine Hände“ oder „Stern, auf den ich schaue“. Diese und andere Lieder, die nicht im Einklang mit der „Hochtheologie“ oder der „gelehrten Religion“ zu stehen schienen, sind mit der Gesangbuchrevision der neunziger Jahre wieder in den akzeptierten Kanon aufgenommen worden. Man findet die genannten im Evangelischen Gesangbuch unter den Nummern 46, 376 und 407.

Während sich die beiden ersten Mitgliederbefragungen der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1972 und 1982 fast ausschließlich für das Verhältnis der Menschen zur Kirche und dem, was aus kirchlicher Perspektive wichtig zu sein schien, interessierten, ließ man bei der dritten Befragung 1992 die Menschen erzählen. Man gab ihnen Raum, ihre eigene Vorstellung von Religion zu entwickeln und merkte, „dass die erzählenden Personen ihre Religiosität kaum einmal abgehoben von der Lebensgeschichte in ihrem positiven, materialen Gehalt beschreiben“ (Engelhardt 1997, S. 62). Religion ist als gelebte und erlebte Religion kein allgemeines Denksystem, das losgelöst vom konkreten Leben und Erleben eine Bedeutung für sich haben könnte. Religion kann eigentlich nur bezogen auf den Kontext, auf Wirtschafts-, Herrschafts- und Schichtungsverhältnisse sowie deren Folgen für Kultur und Lebensführung betrachtet werden, meint Helmut Bremer im Blick auf Webers Überlegungen zum Beziehungsgeflecht des Religiösen und Bourdieus These vom ‚religiösen Feld . Religion ist keine feststehende „Substanz“, sondern historisch und sozial wandelbar (Bremer 2002, S. 75ff). Auch hier zeigt sich: Wenn nach Religion gefragt wird, wird nach den einzelnen, nach dem individuellen Leben und Erleben gefragt. Insofern also Religion Thema wird, sind Kirche und Theologie auf dem Weg zu den Mitgliedern.

An dieser Stelle soll nicht die ganze Diskussion um die Wahrnehmung von gelebter Religion wiederholt werden. Es sei auf die Arbeiten von Failing, Heimbrock und Lotz mit den Titeln „Gelebte Religion wahrnehmen“ (Failing/Heimbrock 1998) und „Religion als Phänomen“ (Failing/Heimbrock/Lotz 2001), sowie auf Albrecht Grözingers „Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung“ (1995) hingewiesen. Vielmehr soll eher zur Veranschaulichung in einer kleinen Skizze vorgestellt werden, was man zu sehen bekommt, wenn man die besagte gelebte Religion zu sehen bereit ist. Die Skizze entstand als Ergebnis eines Auswertungsgesprächs in einem Projekt der Erwachsenenbildung. Das Projekt hatte das Ziel herauszufinden, inwieweit religiöse Fragen und Sinnfragen bei den „jungen Alten“, also in der Altersgruppe 55 plus – so hieß das Projekt denn auch – eine besondere Rolle oder überhaupt eine Rolle spielen. Ausgangspunkt war die Kritik an einem Buch über religiöse Bildung Erwachsener gewesen. Hier waren die Zielgruppen und insbesondere die unterschiedlichen Lebensalter nicht weiter differenziert worden. Aber stellen sich mit dem reifen Erwachsenenalter nicht womöglich andere Fragen und ergibt sich nicht überhaupt ein anderes Fragen, als es im frühen Erwachsenenalter der Fall ist? Junge Eltern fragen anders als es Großeltern tun, so hieß die These. In dem Projekt waren vier Teilprojekte entstanden.

In einem Ort stand ein Kirchenjubiläum an. Der Ort war fast ausschließlich von einem einzigen Industrieunternehmen geprägt. Der Pfarrer der Kirchengemeinde hatte sich vorgenommen zusammen mit Werksvertretern aus Anlass des Kirchenjubiläums auch ein Stück weit die Ortsgeschichte aufzuarbeiten. Hier kam es zu Erzählrunden an Nachmittagen. Die Teilnehmenden erzählten aus der Geschichte des Ortes und ihrem eigenen Leben. Besonders standen die Traditionen der jahreszeitlichen Feste und des Kirchenjahres im Mittelpunkt des Interesses.

In einem anderen Ort ging die Mitarbeiterin in einen Ehepaarkreis, der nach Aufträgen bzw. Aufgaben Ausschau hielt. Hier entstand die Idee, zur Advents- und Weihnachtszeit in der Kirche eine Ausstellung über Weihnachtsbräuche durchzuführen. Der Kreis konzipierte und erstellte die Exponate und setzte den Plan in die Tat um bis hin zur Präsenz während der Öffnungszeiten.

In der Stadt des Dekanats wurde die Öffnung der zentralen Kirche betrieben. Sie sollte regelmäßig für Besuche offen sein. Was dazu alles nötig war, wurde in einer Gruppe erarbeitet.

Zusammen mit der Volkshochschule und der Personalabteilung eines Autowerks wurde ein Seminar für Vorruheständler und angehende Ruheständler geplant und durchgeführt. Es ging um Fragen der Gesundheit, des Testaments und der Patientenverfügung. Neben den rein sachlich an den Themen orientierten Fragen kamen hier auch Beziehungsfragen zur Sprache. Zur Begründung, warum man sich mit den juristischen Fragen beschäftigte, wurde u.a. angeführt, dass man doch „alles recht machen“ wolle.

Auf den ersten Blick sind diese Veranstaltungen Unternehmungen, die man für Senioren überall anbietet und die nicht besonders an religiösen Fragen orientiert sind. Gelebte Religion wahrnehmen heißt nun aber, Religion auch im Alltag und in der Lebenswelt der Menschen wahrzunehmen, d.h. sie auch da wahrzunehmen, wo weder die Beteiligten noch die Beobachtenden im alltagssprachlichen Sinn von Religion reden würden (Failing/Heimbrock 2001, S. 15ff). Sieht man genauer hin, so geht es natürlich in allen Beispielen des Projekts um religiöse Fragen. Einleuchtend ist, dass die Beschäftigung mit Kirchengebäuden und Kirchenjahr schon an sich eine Beschäftigung mit religiösen Themen ist. Man mag zwar einwenden, die Motivation der Teilnehmenden sei eher nur volkskundlich oder kunstgeschichtlich, doch wird dabei missverstanden, wie sich die Mitglieder tatsächlich an die Kirche und ihre Tradition binden. „Die praktischtheologische, am tatsächlichen Handeln der Kirche orientierte Wahrnehmung der Mitgliedschaft wird darum in die Irre gehen, wenn sie eine bestimmte kirchliche Zugangslogik normativ hervorhebt“ (Hermelink 2000, S. 351). Es kann nicht um eine Bewertung der Zugänge zum Religiösen gehen, sondern nur um eine Wahrnehmung dessen, was tatsächlich geschieht und was einen gemeinsamen Rahmen für alle Mitglieder darstellt: „In einer spezifischen Raum- und Zeiterfahrung, im Kontakt mit der biblischen und kirchlichen Überlieferung, in der Wahrnehmung elementarer Texte und Riten realisiert sich der Zusammenhang der kirchlichen Bindungsformen. Dazu sind es die für den Gottesdienst verantwortlichen Personen, die Pfarrerinnen und Pfarrer, die für jede Zugangslogik fundamentale Bedeutung haben“ (Hermelink 2000, S. 352). Wenn Menschen sich diesen Personen, dem Kirchenraum oder dem Kirchenjahr aussetzen, so kann man davon ausgehen, dass es sich, auch subjektiv gesehen, um einen religiösen Akt handelt.

Auch biografisches Arbeiten ist religiös motiviert, selbst wenn es den einzelnen so nicht bewusst ist. Dass es sich bei der Reflexion der Lebensgeschichte um Religiöses handelt, wird klar, wenn man erkennt, wie eben dieses Erzählen dazu führt, Ordnung und Deutung in das eigene Leben zu bringen. „Im lebensgeschichtlichen Erzählen versichern wir uns gegenseitig unserer Identität und bringen sie zur Darstellung, indem individuelle und kollektive Geschichte bewahrt, verdrängt, gestaltet und gedeutet und indem sie darüber zum artikulierten Bestandteil der jeweiligen Gegenwart wird“ (von Engelhardt 1990, S. 240).

Schließlich ist die Maxime „es recht machen“ zu wollen ein Hinweis auf eine ethische Grundeinstellung. Wer so etwas zum Ausdruck bringt, will damit sagen, er oder sie fühle sich einer Ethik verpflichtet. Es wird als selbstverständlich vorausgesetzt, worum es sich dabei handelt, und dass die entsprechenden ethischen Grundhaltungen auch allgemein akzeptiert sind. Über das „recht“ oder „richtig“ braucht nicht diskutiert zu werden. Das ist die Grundlage, auf der alle gemeinsam stehen. Es geht im Grunde um das, was „mir heilig ist“, um „Ehrfurcht vor dem Leben“.

Religion und Religiöses in diesem Verständnis müssen in aller Regel erst entdeckt werden. Sie begegnen nicht in ausgeformten Sätzen und Bekenntnissen. Sie werden vielmehr gelebt. Ich möchte im Blick auf die Erscheinungsformen, die uns bisher begegnet sind, vier Typen solcher gelebten Religion unterscheiden: Die Alltagsreligion, die Familienreligion, die religiöse Tradition der Kirche und die religiöse Tradition des persönlichen Lebens.

Was sieht man, wenn man gelebte Religion wahrzunehmen sich bemüht? Einen Ausdruck von Alltagsreligion haben wir oben bereits angesprochen: Die selbstverständlich vorausgesetzte gemeinsame Basis der Ethik, wie sie in dem Satz „ich möchte es recht machen“ zum Ausdruck gebracht wird. Alltagsreligion wird meist nicht als Religion wahrgenommen. Unter Religion wird in der Regel ein Zusammenhang verstanden, der eben nicht alltäglich und schon gar nicht bei allen Menschen zu finden ist. Religion ist insbesondere nach Ansicht von Theologinnen und Theologen oder kirchlich Verantwortlichen eher etwas Separates oder Apartes. Deshalb erscheint der Satz „ich möchte es recht machen“ auch nicht als speziell religiös begründet. Alltagsreligion wird als solche nicht wahrgenommen. Sie wird normalerweise den alltäglichen Regeln und Spruchweisheiten zugeordnet. Dazu gehören Sätze wie „immer wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt dir von irgendwo ein Lichtlein her“. Dazu gehören Goethe-Zitate genauso wie Bibelverse. Dazu gehören auch Grundsätze wie „ich will niemandem zur Last fallen“ oder Sitten wie der Gang zu den Gräbern. Alltagsreligiös ist auch die goldene Regel „was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. In den Tageszeitungen findet man Sprüche des Tages und Sprüche der Woche, die ebenfalls Religiosität ausdrücken. Im Kulturteil kann man z.B. unter der Überschrift Tagesspruch lesen: Kein Mensch hat Geist genug, um niemals langweilig zu sein (Luc de Vauvenargues). Wahrscheinlich geht man nicht fehl mit der Vermutung, die protestantische Spruchkultur habe hier Pate gestanden hat. Es ist evangelische Sitte, zu Taufe, Trauung und Konfirmation Bibelsprüche zuzusprechen. Im 19.und 20. Jahrhundert gab es kleine Büchlein mit Sprüchen für jeden Tag: Das christliche Vergissmeinnicht. In kirchlichen Kreisen liest man die Herrenhuther Losung. Auch Spruchsammlungen mit eher profaner Ausrichtung sind beliebt. Nach Form und Inhalt ist die so skizzierte Alltagsreligion der jüdisch-christlichen Herkunft verpflichtet.

Gelebte Religion hat vielfach die Gestalt einer Familienreligion. Diese Form wird erlebbar in den Festen und wie man die Feste feiert. Sie können als „privatisierte Gottesdienste“ (Steck 2000, S. 390) angesehen werden. Die häuslichen Geburtstagsfeiern sind mit ihrer Fokussierung auf den einzelnen eine typisch protestantische Erscheinung. Familienfeiern aus Anlass von Taufe oder Trauung oder Beerdigung werden in je eigener Weise begangen. Sie sind Ausdruck von Familienreligion, die über die Brüche des Lebens hinwegzuhelfen in der Lage ist. Das berühmte Lied Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“ hat seinen Ursprung in der Familienreligion. Bonhoeffer hat das Lied im Gefängnis geschrieben. In den Weihnachtstagen vergegenwärtigte er sich die Stimmung und den Ablauf der häuslichen Weihnachtsfeier. In dieser Erinnerung verspürte er jene „Mächte“, die ihm Geborgenheit selbst in der Gefangenschaft vermitteln konnten (Lück 1992, S. 70). In protestantischer Tradition ist die Familie oder das Haus die kleinste Zelle der christlichen Gestaltwerdung. Man könnte sagen: Die protestantische Gemeinde ist die Hausgemeinde. Luther schrieb seine Katechismen für die Hausväter. Hauskreise, Hausmusik, Haustaufen, Hausandachten usw. sind die religiösen Formen, die sich herausgebildet haben. Der protestantische Herrgottswinkel ist die Ecke mit den Fotos der Familienmitglieder. Ältere Menschen erzählen von ihren Kindern und Enkeln. In ihnen leben sie weiter. Schlimm ist es für sie, Kinder zu verlieren oder keinen Kontakt mehr mit ihnen zu haben.

Am selbstverständlichsten wird mit Religion alles das verbunden, was mit der Kirche zu tun hat: Das Kirchenjahr, die Kirchengebäude, die Pfarrerinnen und Pfarrer, Gottesdienste und Amtshandlungen, sowie der Religions- und Konfirmandenunterricht. Daran haben die meisten Menschen aus eigenem Erleben Erinnerungen. Sie wissen, was damit anzufangen ist und was man damit tut. Dabei ist nicht gesagt, dass die einzelnen was die kirchliche Tradition anbietet auch im Sinne des kirchlichen Selbstverständnisses und der kirchlichen Lehre nutzen. Vielmehr folgen sie eigenen Interessen und eigenen Interpretationen. Familienreligiöse Traditionen und alltagsreligiöse Gepflogenheiten und Einstellungen sind vielfältig mit dem kirchlichen Angebot verknüpft. Dies zeigt sich etwa da, wo als Aktion von Erinnerungsarbeit Ausstellungen oder Erzählrunden arrangiert werden. Da mag zwar das Weihnachtsfest ein Fest des Kirchenjahres sein und von daher seine Impulse bekommen haben, aber wie das Fest dann tatsächlich gefeiert wird, oder was die Menschen damit verbinden und welche Gegenstände etwa dazu gehören, das unterliegt nicht kirchlicher Kontrolle, sondern wird frei gestaltet. Entsprechendes kann man bei Konfirmationen als kirchlicher Amtshandlung hören. Es ist höchst unterschiedlich, welche Bedeutung und welche Nachwirkung dieses kirchliche Angebot letztlich für die Menschen gehabt hat, wenn sie z.B. nach fünfzig Jahren zur Goldenen Konfirmationsfeier zusammenkommen und sich erinnern. Ähnliches lässt sich beobachten, wenn es um die Rolle geht, die die Kirchengebäude für die einzelnen spielen. Im Zusammenhang mit der Öffnung von Kirchen und mit kirchenpädagogischen Veranstaltungen kann man viel von dem erfahren, was die Gotteshäuser für die einzelnen bedeuten. Die hier zum Vorschein kommende Kirchenreligion ist nicht unbedingt identisch mit dem, was Kirche und Theologie über die Kirche lehren. Gebäude sind dabei nicht nur Veranstaltungsorte, sondern auch Orte der persönlichen Frömmigkeit. Geöffnete Kirchen mit einem Angebot von Stille, meditativem Lichteinfall, Bildwerken, Bänken, Gästebuch, Kerzenständer und Schriftentisch geben Gelegenheit nach eigener Vorstellung, nach eigenem Rhythmus sich Zeiten der Andacht, der Meditation, der Bitte und Fürbitte zu nehmen.

Eine vergleichbar privatreligiöse Bedeutung haben auch Pfarrerinnen und Pfarrer als an sich öffentliche Vertreterinnen und Vertreter der Kirche. Sie werden als priesterliche Gestalten genauso angesprochen wie als Nachbarn und theologische Gewährsleute. Die Pfarrerin bzw. der Pfarrer sind so etwas wie die personifizierte Religion. In der Begegnung mit ihnen, begegnet man der Religion. Das bedeutet nicht, dass die Auslegung von Religion und Glauben, die die Pfarrerin oder der Pfarrer im Sinn haben, auch angenommen wird. Vielmehr wird die Gestalt des Pfarrers durchaus auch kritisch gesehen. Die Erwartungen an die Religion richten sich auch an ihn oder sie. Es gibt Grunderwartungen, die Pfarrerinnen und Pfarrer durchaus nicht immer erfüllen. Man wünscht sich einen „volksnahen“ Pfarrer, einen oder eine, die sich einmal sehen lassen – sei es in den Vereinen, sei es am Stammtisch, sei es in der Familie (Lück, Arbeiter 1992, S. 48ff). Die Füllung der Kirche und der Religion inhaltlich wird von den Menschen selbst vorgenommen. Die Geistlichen werden daran gemessen. Von der Bedeutung der Gebäude und Personen wird im Übrigen ausführlicher in den folgenden Kapiteln gehandelt.

Schließlich ist die religiöse Tradition der einzelnen zu nennen. Es gibt auch heute nicht viele Menschen, die von sich ernsthaft behaupten können, sie seien nicht in der einen oder anderen Weise von Religion geprägt worden oder hätten nicht wenigstens Religiöses bei anderen erlebt. In den meisten Biographien finden sich die Spuren des Religiösen. Damit verbinden sich positive wie negative Gefühle. Das beginnt bei den Gute-Nacht-Ritualen, die das Kind erlebte, geht weiter über Lieder, Sprüche und Geschichten, die je nach Empfänglichkeit geprägt haben und wenn sie im Erwachsenenalter wieder begegnen Erinnerungen hervorrufen und unterschiedliche Gefühle auslösen. Und das endet vielleicht bei den Zweifeln und heftigen Streitgesprächen mit Menschen, die anderes glaubten. Vieles verbindet sich mit dem Leben in der Familie. So manches aber hat auch seinen Ort in der Gruppe der Gleichaltrigen, oder auch in kirchlichen Veranstaltungen. In diesen Begegnungen bildet sich mit der Zeit die eigene Meinung in Sachen Religion heraus. Fragt man gezielt nach dem Religiösen im Lebenslauf, so können wohl die meisten recht deutlich Auskunft geben und sogar eine religiöse Biographie erzählen. Was in solch einer Erzählung aufbewahrt ist, hängt mit der Identität des jeweiligen Menschen eng zusammen. Es ist eine Religiosität des Subjektiven, die Religion der einzelnen.

Die Zukunft der Kirche

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