Читать книгу Die Zukunft der Kirche - Wolfgang Lück - Страница 13

Das neue Interesse an den Mitgliedern

Оглавление

Ergebnis der Entwicklungen im 19. Jahrhundert war, dass Religionszugehörigkeit und Staatsbürgerschaft für die Menschen nicht mehr identisch waren. „Nun galten die staatsbürgerlichen Rechte nicht mehr als unmittelbar mit der Kirchenmitgliedschaft verknüpft, damit war im prinzipiellen Sinn die Kirchenmitgliedschaft freigestellt und der Entscheidung der einzelnen anheim gegeben – auch wenn diese Verschiebung nur sehr allmählich in ein allgemeineres Bewusstsein Eingang fand, so dass bis heute für einen großen Teil der Bevölkerung die Kirchenmitgliedschaft als vorgegebene Selbstverständlichkeit, als ‚zugeschriebenes Merkmal also, gilt“ (Huber 1979, S. 153). Außenstehende merkten zunächst nichts von den Veränderungen. Der Rückzug von Theologie und Pfarrerschaft fiel weiter nicht auf und hatte für diese auch keine nachteiligen Folgen. Die Geldmittel flossen weiter. Weder Staat noch Mitglieder hatten irgendwelche materiellen Konsequenzen gezogen. Dass die entstehende innerkirchliche Kommunikation mit einer eigenen Sprach- und Begriffswelt sich nicht mehr zum Austausch mit der Außenwelt eignete, kam nicht weiter zum Tragen (Matthes 1964, S. 9). Trotz der Turbulenzen von Erstem und Zweitem Weltkrieg, sowie Drittem Reich blieb die Kirchenmitgliedschaft erstaunlich stabil. Man konnte die Kirchenpolitik der zwanziger Jahre als ein Meisterstück feiern. Martin Dibelius nannte das 20. Jahrhundert gar „Das Jahrhundert der Kirche“, so der Titel seines 1926 erschienenen Buches.

Das änderte sich für viele überraschend am Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. „Lautloser Abschied von der Kirche?“ fragen die Autoren der ersten Mitgliederbefragung der Evangelischen Kirche in Deutschland und beginnen die Schilderung des Hintergrunds für die Befragung mit den Sätzen: „Das Jahr 1969 markiert, kirchenstatistisch gesehen, einen bedeutsamen Einschnitt. Die Kurve der Kirchenaustritte schnellt in die Höhe, die des Gottesdienst- und Abendmahlsbesuchs in die Tiefe.“ (Hild 1974, S. 7). Sicher hatte es schon in der Weimarer Republik und im Dritten Reich hohe Kirchenaustrittszahlen gegeben. Doch dass die Austritte innerhalb von zwei bis drei Jahren sich vervielfachten, hatte es in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Das war eine überraschende Neuheit. Armin Kuphal kommentierte das so: „Wenn Ereignisse überraschen, so ist dies stets ein Zeichen für fehlende Theorie oder für mangelhafte Messinstrumente – was freilich mit dem Theorie-Manko einher geht“ (1979, S. 2). Die Mitglieder hatten sich zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg erkennbar zu Wort gemeldet. Sofort entbrannte ein Streit darüber, wie die Austrittswelle zu verstehen sei. Kuphal meint, dass es im Grunde keine wirklich dramatischen Ereignisse oder Bewegungen waren, die zu der Flut an Austritten geführt hätten. In der Zeit habe sich hinsichtlich der Kirchen „kein Lüftchen geregt“ (S. 472). Vielmehr sei eingetreten, was längst zu erwarten gewesen wäre: „Das Kontinuum der Kirchenferne hat seinen ‚natürlichen Nullpunkt erhalten – den formellen Austritt aus der Kirche als echte Handlungsmöglichkeit“ (S. 470). Mit anderen Worten: Nach fast hundert Jahren merkten die Mitglieder erst, dass die Kirchenmitgliedschaft ihnen frei gestellt war.

Für die Kirchenleitungen und -verwaltungen war das neue Verhalten ein Grund zur Nachfrage bei ihren Mitgliedern. 1972 wurde die erste Mitgliederbefragung durchgeführt. Sie wird seither im Abstand von zehn Jahren mit modifizierten Fragestellungen wiederholt. In den Auswertungen werden Erklärungsmuster erarbeitet, aber auch Handlungsempfehlungen formuliert. In allen drei Untersuchungen (Hild 1974; Hanselmann 1984; Engelhardt 1997) wird davon gesprochen, dass zwischen den Mitgliedern und der Institution Kirche ein Kommunikationsproblem bestehe. Die „da drinnen“ verstehen die „da draußen“ nicht und umgekehrt. Die Kirchenverantwortlichen sehen bzw. akzeptieren nicht, was die Mitglieder eigentlich von der Kirche haben wollen bzw. was die Kirche für sie bedeutet. Die Mitglieder umgekehrt nehmen große Teile der sich ausdifferenzierenden Kirchenwelt nicht wahr und sehen auch überhaupt nicht ein, was das alles mit ihrem Leben zu tun haben soll (Engelhardt 1997, S. 354).

In der Auswertung der ersten Befragung wird überlegt, ob man nicht das kirchliche Selbstverständnis hinsichtlich der Erwartungen der Mitglieder und hier insbesondere hinsichtlich des Stellenwerts der Amtshandlungen korrigieren müsse (Hild 1974, S. 233ff). Auch wenn Bildung eher zu Kirchendistanz führt, hilft zu einer bewusst bejahten Kirchenmitgliedschaft wiederum nur Bildung (Hild 1974, S. 252ff). Reformen allein helfen noch nicht, wenn es nicht auch gelingt, den Konsens der Mitglieder über Soll und Nichtsoll der Kirche zu verändern. Schließlich wird man – so die Studie „Wie stabil ist die Kirche?“ – von der Beschränkung auf den Sonntagsgottesdienst als Kommunikation mit den Mitgliedern Abschied nehmen und eine größere Vielfalt anstreben müssen (S. 259ff). Die Organisation Kirche wird sich mit anderen Worten mehr auf ihre Mitglieder zu bewegen und von ihnen her zu denken lernen müssen.

Die Studie „Was wird aus der Kirche?“ (Hanselmann 1984) hebt darauf ab, dass sich die Kirchenmitglieder untereinander über Kirche und Christentum anders zu verständigen scheinen als dies kirchliche Handlungsträger tun. „Daraus ergibt sich für die Kirche vordringlich die Aufgabe, ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern, ein offenes Sensorium als Voraussetzung von Kommunikation und Verständigung zu entwickeln. Vereinfacht gesagt: Wer wirklich mit den Menschen reden will, muss ihnen ‚aufs Maul schauen , muss lernen, mit den Augen der anderen, seiner Partner zu sehen und ihre Sprache zu sprechen“ (Hanselmann 1984, S. 65).

Die dritte Mitgliedschaftsstudie will die Mitglieder ernst genommen wissen. Die Kirche habe keine Monopolstellung mehr. Sie müsse begreifen, dass sie nach außen wie im Innern in einer pluralen Situation sei. Die Formen der Mitgliedschaft sind genauso vielgestaltig geworden wie die Praxis der Kirche und die Positionen ihrer Mitarbeitenden auch (Engelhardt 1997 S. 352). Die Kirche selbst muss sich neu verstehen lernen. „Unsere Kirchen leben – so die Studie – weithin aus dem Herkommen und den sich abschwächenden Traditionsbindungen und Konventionen. Sie müssten dagegen ihre Organisation darauf ausrichten, aktiv, initiativ, quasi ‚unternehmerisch um Akzeptanz, Förderung und Mitgliedertreue zu werben ... Das Gewiesensein an alle war unter Monopolbedingungen kein Organisationsproblem, unter Konkurrenzbedingungen ist es ein solches geworden“ (S. 353). Dazu gehören nach der Studie: Besuche, Öffentlichkeitsarbeit in den Medien, Gestaltung der Amtshandlungen so, dass sie als lebensdienlich erfahren werden, religiös kompetentes Profil und Verantwortung für die Gesellschaft. 2002 folgte eine vierte Befragung, die in ihren Ergebnissen noch deutlicher forderte, sich auf die Mitglieder und ihre Weltsichten einzulassen (Weltsichten 2003).

Mit anderen Worten: Die Kirche muss ihre Mitglieder als ihrer selbst mächtige und kompetente Partnerinnen und Partner anerkennen und ansprechen. Wenn das geschieht, ist das Drinnen und Draußen im Grunde überwunden. Die Kirche tritt wieder in die Öffentlichkeit ein. Die Kirchenaustritte ohne politische Agitation wie vor den Weltkriegen haben dafür die Augen geöffnet. Eine Kirche, die sich als Teil der Öffentlichkeit, als öffentliche Religion begreift, kann auch die Frage besser beantworten, weshalb es Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und theologische Fakultäten an öffentlichen Universitäten geben soll. Sie wird auch eher Antworten finden auf die Frage, was mit den großen Citykirchen geschehen soll, die keine oder nur noch sehr kleine Gemeinden haben usw. Im folgenden soll beispielhaft vorgestellt werden, wo erkennbar wird, dass sich die evangelischen Kirchen in Deutschland wieder in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hineinbegeben.

Die Zukunft der Kirche

Подняться наверх