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Das Ende des Kirchenmonopols
ОглавлениеIn dreierlei Hinsicht kann beobachtet werden, wohin die Entwicklung der kirchlichen Praxis wohl gehen mag. Kirchenpolitisch bzw. -organisatorisch lässt sich ein Trend hin zu einer Orientierung an Mitgliedern und Öffentlichkeit erkennen. Entsprechende Plädoyers sind in verschiedenen praktisch-theologischen Studien zu finden. Seit den 90er Jahren ändern sich auch das Vokabular und die Denkmuster in der kirchlichen Praxis.
Es ist nicht mehr die ihrer selbst bewusste Mehrheits- oder Monopolkirche, Staatskirche oder Volkskirche, die den Weg in die gesellschaftliche Öffentlichkeit antritt. Es ist vielmehr eine Kirche, die sich selbst als Organisation zu betrachten lernt, die sich selbst zu reflektieren beginnt und ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit wie ihren Mitgliedern neu zu bestimmen versucht. Es ist eine Kirche, die nicht mehr ganz selbstverständlich die Vorgaben macht, sondern sich selbst auf die Suche begibt, die ihre Geschichte neu entdeckt, die Spuren zu lesen versucht, die das Christentum in der kulturellen und sozialen Geschichte des Landes hinterlassen hat.
Wolfgang Huber hat wohl weniger in seiner Rolle als Professor für Systematische Theologie denn in der Rolle des Bischofs der Evangelischen Kirche von Berlin und Brandenburg diese Kirche und die vor ihr liegenden Aufgaben zu beschreiben unternommen (1998). Hubers Stichwort ist Öffentlichkeit und öffentliche Kirche, wenn es um das Bild einer zukünftigen Kirche geht. „Das Leitbild der ‚Volkskirche hat seine Selbstverständlichkeit verloren – schreibt Huber –; aus der vor allem im Osten Deutschlands gegebenen Situation einer ‚Minderheitskirche ist eine Zukunftsvision nicht abzuleiten. Mit dem Begriff der ‚offenen und öffentlichen Kirche werden Konturen einer Kirche gezeichnet, die sich den Herausforderungen der Gegenwart stellt und die ihr anvertrauten Überzeugungen öffentlich zur Geltung bringt“ (S. 37). Die Kirche muss sich als Institution in der Gesellschaft neu definieren. Sie hat sich ihrer öffentlichen Orte bewusst zu werden und sie hat öffentlich Verantwortung zu übernehmen.
Die Kirche darf sich nicht mehr als staatsanaloge Institution verstehen, sondern sollte lernen, sich als eine intermediäre, eine vermittelnde Institution in der Zivilgesellschaft zu begreifen. Sie kann und darf nicht mehr obrigkeitlich orientiert sein. Sie muss sich als ein Faktor innerhalb einer pluralistisch bestimmten Gesellschaft erkennen. Die Kirche ist für Huber nicht nur als soziale Institution in der Gesellschaft präsent, die durch ihre Gottesdienste und anderen Veranstaltungen Orte der Begegnung schafft, sondern auch durch ihre Gebäude. In ihnen steht leibhaftig vor Augen, worum es der Kirche geht. Sie sind wörtlich genommen Orte der Begegnung, des Schutzes und der Geborgenheit und das in aller Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit.
Die öffentliche Verantwortung der Kirche sieht Huber wiederum an drei Punkten, nämlich in der Verantwortung für Bildung, in der Wahrnahme einer politischen Verantwortung, wie sie etwa in dem Konsultationsprozess zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in den neunziger Jahren zum Ausdruck kam, und in dem Einstehen für eine Kultur des Helfens. Voraussetzung für eine zukünftige Kirche bzw. für die Zukunft der Kirche ist, dass die Kirche ihre Mitglieder ernst nimmt, sich um ihre Mitarbeiter kümmert, sich als Organisation begreift und verbessert und erkennbarer wird in dem, was ihre Botschaft ist.
Damit ist eine Reihe von Stichworten genannt, die auch in anderen Landeskirchen diskutiert werden.
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat 1988 eine Perspektivkommission eingesetzt, die die Aufgabe hatte nach einer Kirche zu suchen, „die von ihrem Wesen her einladend ist, nach einer Kirche, die Fragen stellt und Antworten gibt, in denen sich die Menschen wiederfinden und weiterfinden, nach einer Kirche, die ihr Geheimnis als Lebensgeheimnis auslegt und erfahrbar macht“ (Person und Institution 1992, S. 5). Schon in den ersten Sitzungen wurde der Kommission klar, dass auch nach den Lebenssituationen und Erfahrungen der Menschen gefragt werden musste, an die man sich wenden wollte. Auf keinen Fall wollte man „in einer rein binnenkirchlichen Sicht befangen bleiben“. So kreisen die Überlegungen im Grunde um zwei Fragen: Wie soll und kann die Kirche ihre Mitglieder sehen und Beziehungen zu ihnen herstellen? Und: Wie kann und soll sich die Kirche auf die Gesellschaft beziehen? Mit Blick auf Formulierungen der Kirchenordnung wird festgestellt: „Dieses Bild des Kirchenmitglieds als jemand, der fürsorglich angeleitet wird, steht im Widerspruch zu Eigenverantwortung und Engagement“ (S. 112). Man fragt sich, ob die Mitarbeiterschaft, insbesondere die Pfarrerinnen und Pfarrer, hier nicht einiges zu lernen hätten. Reicht die Parochialstruktur, um der heutigen differenzierten Gesellschaft und den eigenverantwortlich agierenden Menschen noch gerecht zu werden? Die Kirche wird auf den Prüfstand aus der Sicht der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Mitglieder gestellt.
Auch eine Vorlage der Evangelischen Kirche von Westfalen aus dem Jahr 2000 fragt nach gegenwärtig notwendigen Akzentsetzungen. Man plädiert für eine mitgliederorientierte kirchliche Arbeit. Auch hier wird dann sogleich nach den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefragt und den für eine mitgliederorientierte Kirche angemessenen Strukturen.
Die Beziehung zwischen einer mitgliederorientierten Kirche und ihren Mitgliedern charakterisiert das Proponendum der Evangelischen Kirche von Westfalen als ein „Gespräch auf Augenhöhe“. „Mitgliederorientierung ergibt das Bild einer auf Charismen, Begabungen und Fertigkeiten angewiesenen Kirche, die sich an ihren Mitgliedern erfreut“ (2000, S. 31). Das klang dreißig Jahre zuvor in der vorangehenden Strukturdebatte noch anders. In einer Schrift der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau hieß es damals: „Grundlegend für das Verständnis der Kirche ist ihre „ missionarische Struktur“. Damit ist gemeint, dass ihr Dienst ohne Vorbehalt allen Menschen gilt, gleich ob sie am kirchlichen Leben teilnehmen oder nicht, aufgeschlossen oder ablehnend sind“ (Roessler/ Dienst 1971, S. 7). Die Kirche will für alle da sein, nicht nur den inneren Kreis, den Kern. Dabei kommt sie mit ihrem Dienst oder Angebot jedoch gewissermaßen von außen. Ihr Angebot entsteht nicht im Dialog mit den Menschen, nicht in der Mitte der Mitglieder und aus deren Interessen heraus. Diese Struktur erkennt Karl-Fritz Daiber auch noch für die Kirche der neunziger Jahre. In einem Geleitwort zur Bestandsaufnahme von Kooperationsmodellen in der Braunschweiger Landeskirche schreibt er: „Eine Angebotskirche ist eine von ‚Mitarbeitern gestaltete Kirche. Dieser Eindruck drängt sich in den Braunschweiger Berichten auf... Die Volkskirche ist nicht mehr eine reine Pastorenkirche, eher eine Kirche der ‚Mitarbeiter . Mitarbeit und Nichtmitarbeit stehen einander gegenüber“ (1995, S. 14). Daiber ist kritisch. Mit einem Verständnis von Kirche als Dienstleistungsunternehmen kann zwar in einer differenzierten Gesellschaft den Bedürfnissen der Mitglieder besser Rechnung getragen werden. Doch kommen die verschiedenen Beteiligungsformen der Mitglieder so nicht in den Blick. Nicht jedes Engagement kann als „Mitarbeit“ bezeichnet werden. Die Teilnahme an einem Hauskreis, das Singen im Chor usw. ist von einer anderen Struktur und lässt sich kaum als Mitarbeit definieren. Es ist eine eigene Form der Beteiligung. Zielvorstellung für eine Kirche der Zukunft ist für Daiber eine Gemeinde, die weitgehend von selbstverantwortlichen Gruppen gestaltet wird. Es ginge – wenn man so will – nicht um eine Kirche für andere, für die Menschen, für die Mitglieder, sondern um eine Kirche aller, eine Kirche der Menschen und der Mitglieder.
Die an diesen Beispielen aufscheinende Tendenz der Kirchenpolitik ist auch in Entwürfen der Praktischen Theologie zu erkennen.
„Notwendig ist es ..., über handlungswissenschaftliche und empirische Forschung hinaus zu einer integralen Wahrnehmung christlicher Lebenspraxis im Kontext nicht nur der Kirche, sondern auch von Gesellschaft, Kultur und Alltag zu kommen“, meint Günter Heimbrock (2001, S. 224). Es macht einen Unterschied, ob Kirche und Theologie der alles bestimmende Horizont sind oder ob Religiöses nur als eine Dimension des Lebens unter anderen erscheint, die noch nicht einmal ständig präsent zu sein braucht. Gelebte Religion oft im Gegenüber zu gelehrter Religion, Lebenswelt, Alltag, Kontextualität, Wahrnehmung, Phänomenologie sind Begriffe, die anzeigen, dass man die Religion der Menschen zu erforschen versucht und nicht die Anwendung von theologischen Einsichten für das Handeln der Kirche in den Vordergrund stellt.
„Während in der dogmatischen Kirchenlehre versucht wird, von der theologischen Theorie her die Praxis zu erfassen und zu normieren, definieren die Kirchenmitglieder ihr Christsein oftmals in bewusster Abgrenzung gegen ein theologisch fixiertes Kirchenverständnis“, stellt Reiner Anselm fest (2000, S. 11). Für die Kirchenmitglieder stehen nicht wie für die theologische Tradition Verkündigung und Sakramentsverwaltung im Mittelpunkt, sondern die Erfahrung, wie ihnen die Organisation und insbesondere der Pfarrer bzw. die Pfarrerin konkret begegnet. Das heißt aber: Ohne die kritische Auseinandersetzung mit der gelebten Kirchlichkeit kann auch die Dogmatik nicht ans Ziel kommen. Sie würde zu einem „geschichtslosen Konstrukt“ ohne Wirkung.
Martin Kumlehn entwirft eine Kirchentheorie, die „die Strukturen individueller Frömmigkeit ebenso erschließt wie die Funktionsmechanismen kirchlich bzw. gesellschaftlich vermittelter Religiosität“. Ziel ist es, die bleibende und besondere Funktion der Kirche für christliches Glauben und Handeln zu verdeutlichen. Dabei ist nicht daran gedacht, christliches Glauben und Handeln an kirchliches Glauben und Handeln zu binden. Vielmehr geht es darum, die Kirche als Institution auch für die nicht-kirchliche Religionspraxis zu erschließen. Kumlehn will die Kirche öffnen hin zu einer „Kirche für die Religion der Menschen“ (Kumlehn 2000, S. 219). Sie muss sich als eine „religionsvermittelnde Organisation“ begreifen.
Gerald Kretzschmar hat untersucht, wie die distanzierte Kirchlichkeit in der praktischen Theologie vorkommt und wahrgenommen wird (Kretzschmar 2001, S. 32). Er verlangt, dass „distanzierte Kirchlichkeit als eigenständige, nicht defizitäre Form praktizierter Kirchenmitgliedschaft“ verstanden werden müsse. Man brauche einen mehrdimensionalen Kirchenbegriff. Kretzschmar findet einen solchen differenzierten Kirchenbegriff bei Albrecht Ritschl vorgeformt. Ritschl unterscheidet zwischen einem dogmatischen und einem rechtlichen Kirchenbegriff. Zwischen beiden vermittelt ein ethischer Kirchenbegriff. „Insbesondere die ethische Dimension von Ritschls Kirchenbegriff erlaubt die ekklesiologische Verortung distanzierter Kirchlichkeit. Schließlich wird mit ihr die Tatsache wahrgenommen, dass die im Raum der Kirchenorganisation anzutreffende Verkündigung der liebenden Zuwendung Gottes zum Menschen ethische Folgen im Leben jeder und jedes einzelnen hat“ (S. 306). Entscheidend ist, dass die Kirche nicht nur dogmatisch und rechtlich-organisatorisch beschrieben werden kann, sondern dass die Kirche auch da ist, wo die einzelnen die kirchliche Verkündigung auf ihr Leben beziehen. Will man der Kirchenmitgliedschaft in ihrer individuellen Ausgestaltung gerecht werden, bzw. will man möglichst allen Mitgliedern „Andockpunkte“ an die Organisation Kirche geben, muss man mehrdimensional oder mehrschichtig denken und handeln. Jan Hermelink führt die negative Entwicklung in der Mitgliedschaft auf eine Reduktion des kirchlichen Angebots zurück (2000, S. 21). Soziologisch bzw. phänomenologisch betrachtet hat die Kirchenmitgliedschaft im wesentlichen eine rituelle Struktur. Sie baut sich im Laufe des Lebens durch die Begegnung mit entsprechenden Gottesdiensten auf (S. 282). Sie bezieht sich auf eine allgemeine Zugänglichkeit „in räumlicher, personaler und in ritueller Hinsicht“. Man kann nicht einen Zugang davon als normativ hervorheben (S. 351). Die Kirchenmitgliedschaft ist keine Sozialbeziehung, sondern sie stellt eine institutionelle Bindung dar (S. 365). Auch für Hermelink also besteht die Problematik der kirchlichen Perspektive darin, dass sie zu wenig differenziert ist und den Mitgliedern zu wenig Spielraum lässt.