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Wechselwirkung: Religion und Kirche

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Es stimmt, „dass die religiöse Praxis des Einzelnen im Zuge gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse nicht länger deckungsgleich mit der von religiösen Großinstitutionen wie Kirchen vorgeschriebenen Praxis übereinstimmt“ (Failing/Heimbrock 2001, S. 39). Doch es ist nicht zu einer vollkommenen Trennung von Religion und Kirche gekommen. Failing und Heimbrock definieren deshalb „gelebte Religion“ völlig zu Recht als „vornehmlich private, subjektive, unreflektierte Gesinnung und Praxis oder auch die persönliche Aneignung institutioneller Religion“. Auch wenn es kirchlich Orientierte erstaunen mag, so gibt es eine starke Wechselwirkung zwischen kirchlicher und privatreligiöser Praxis.

Dies war eine der Entdeckungen der dritten Mitgliedschaftsbefragung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hier hatte man erstmals Erzählinterviews durchgeführt. Die Auswertung dieser Interviews beginnt mit einem Eingeständnis. „Zu Beginn unserer Arbeit an den Interviews stand eine Irritation: Wir hatten ‚distanzierte Kirchenmitglieder gesucht – Leute, die von sich behaupteten, wenig mit der Kirche zu tun zu haben. Begegnet aber waren wir Menschen, die engagiert ihre Erfahrungen mit der Kirche erzählten, ihre persönliche Perspektive auf Religion und Glauben entwickelten; Menschen, die mal wütend, mal anerkennend, mal kritisch, begeistert oder sehnsüchtig, kaum einmal aber gleichgültig schilderten, was ihnen zu den genannten Stichworten in den Sinn kam. Sie alle hatten ihre Geschichte mit der Kirche, hatten gute und schlechte Erfahrungen gemacht, und die Intensität, mit der sie diese schilderten ließ aufhorchen. Sind das die ‚Distanzierten? Sind das diejenigen, von denen so gerne behauptet wird, sie hätten ja doch kein Interesse mehr an der Kirche und ihr Austritt sei nur noch eine Frage der Zeit oder der günstigen Gelegenheit?“ (Engelhardt 1997, S. 58f.). Es wird viel von Enttäuschungen und Ärger erzählt. Wenn die Interviewten jedoch auf religiöse Erfahrungen zu sprechen kommen, ändert sich der Tonfall. Erinnerungen an Ereignisse der Kindheit, an Geschichten, Weihnachtsgottesdienste, Klang der Glocken, einen bestimmten Kirchenraum, Orgelspiel und Kerzenschein sprechen eine andere Sprache. Hier gibt es die Distanzierung von der Kirche und ihrer Tradition nicht (S. 60). Deshalb scheint bei den Interviewten auch in der Regel durch, wie sie sich zu Unrecht von der Kirche zurückgewiesen und nicht akzeptiert fühlen. Sie selbst meinen dazu zu gehören, erfahren aber bei gelegentlichen Kontaktversuchen, dass sie nicht angesprochen und wahrgenommen werden.

Für kirchlich Distanzierte ergibt sich insbesondere hinsichtlich der religiösen Sprache ein Problem. Die traditionell kirchlich-dogmatische Redeweise wird nur unter großen Vorbehalten benutzt. „Woran jemand im Letzten glaubt, worin der Sinn des Lebens gesucht und was als religiöse Erfahrung qualifiziert wird, das alles wird in vielfältigen Sprach- und Bildtraditionen kommuniziert“ (S. 63). Dabei fließen Elemente aus verschiedenen Quellen ein. Volksreligiöses, Aberglaube, humanistisches Bildungsgut, fernöstliche Weisheiten und vielfach auch psychologische Denkmuster kommen zusammen. Die einzelnen suchen nach ihnen plausibel erscheinenden Ausdrucksmöglichkeiten für ihre Erfahrungen. Der Schutzengel kann dann für Bewahrung in einer kritischen Lebenssituation stehen. Astrologisches mag zur Erklärung für einen besonderen Schicksalsweg herangezogen werden. Insgesamt scheint es durchaus keinen Verlust an religiösen Erfahrungen zu geben. Vielmehr ist eine größere Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten zu erkennen. Die kirchliche Sprache wird deshalb oft abgelehnt, weil sie als Bevormundung angesehen wird.

Den kirchlichen Praktikern bleiben diese Vorbehalte nicht verborgen. Vielfach versuchen sie die „steile“ theologisch-kirchliche Sprache verträglicher zu machen. Das mag sich auf feministisch-theologische Anliegen beziehen, aber oft ist es eher auch der oben schon zitierte „Kfz-Meister Wolf“ (Engelhardt 1997, S. 64), der mit einer anderen Sprache erreicht werden soll. In Gebeten wird Gott dann nicht mehr traditionell mit Gott, Herr oder Vater angesprochen, sondern z.B. mit „Gott, der du uns Vater und Mutter bist“. Neuerdings lässt sich vermehrt die Anrede „guter Gott“ feststellen. Soll Gott hier verträglicher gemacht werden, wie das sicher mit der Anrede „lieber Gott“ geschehen ist? Theologisch lassen sich gute Gründe für die Prädikate „gut“ und „lieb“ anführen. Aber wenn es um Gebetssprache geht, kommen doch die alltagssprachlichen Ober- und Untertöne mit ins Spiel. Man kann fragen, ob hier womöglich die dunklen Seiten Gottes ausgeblendet werden und Gott und mit ihm die Kirche allein für die Sonnenseiten des Lebens in Anspruch genommen werden sollen (vgl. Heusel 2003, S. 54f.). Das würde darauf hinaus laufen, die kirchliche Praxis der gesellschaftlichen Praxis der Werbung anzugleichen.

Die Theologie hat natürlich immer nach der Sprache Ausschau gehalten, in der das Evangelium unter den jeweiligen Bedingungen am verständlichsten kommuniziert werden kann. Doch es hat auch immer den Streit darüber gegeben, was bei einer bestimmten Sprache womöglich alles inhaltlich verändert wird oder verloren geht.

Es gibt im übrigen ja auch die Übernahme theologisch-kirchlicher Begrifflichkeit in den gesellschaftlichen Bereich. Oft beobachtetes Beispiel ist die ältere Debatte um den Umweltschutz. Besonders in konservativen Kreisen wurde hier gern der Begriff der Schöpfung benutzt: Die Gesellschaft trägt eine Verantwortung für die Schöpfung. Es gilt die Schöpfung zu bewahren.

Nicht nur in sprachlicher Hinsicht ist eine Wechselbeziehung zwischen kirchlicher Praxis und privatreligiöser Sphäre zu beobachten. Wolfgang Steck meint, man könne das kirchliche Leben der Gegenwart überhaupt nicht verstehen ohne den Zusammenhang von privatem und kirchlichem Christentum. Die Praxis in der Kirchengemeinde trägt wesentliche Grundzüge der ursprünglich im Haus kultivierten privaten Frömmigkeit. „Die kirchliche Religionskultur nahm im Zuge ihrer neuzeitlichen Entwicklung vielfältige Momente der privaten Religionspraxis in sich auf und entwickelte die in der Privatwelt ausgearbeiteten Formen ästhetischer und reflexiver Religionspraxis kunstvoll weiter.“ Und umgekehrt: „Das private Christentum lebt, wenn auch in schwindendem Maße, von Impulsen, die es aus der kirchlich praktizierten Religion erhält“ (2000, S. 309). Steck macht diese Entwicklung fest u.a. an einer gefühlsbetonten Gebetssprache, an der in persönlichem Ton gehaltenen Predigt oder den zeitgenössischen Liedern, die ins Gesangbuch aufgenommen wurden. Die Kultur der Familiengottesdienste ist ein schönes Beispiel für die Übernahme von Elementen aus dem privaten Bereich, aber auch für die Weitergabe von kirchlichen Stücken in die private Familienpraxis. Für Steck sind Familiengottesdienste und Christvespern „Klammern zwischen häuslicher und parochialer Lebenswelt“ (S. 376). Er sieht die „häuslichen Geburtstagsfeiern als privatisierte Gottesdienste“ und die „familiären Weihnachtsfeiern als privatreligiös inszenierte Festliturgien“ (S. 390).

Ein Beispiel für die Übernahme von Motiven aus dem privaten Bereich in den kirchlichen sind für Steck auch die in Frauenkreisen entwickelten Liturgien und Gottesdienstformen. Die Hochschätzung von Ganzheitlichkeit und Körperarbeit einschließlich Tanzkultur haben für ihn nicht ursprünglich in der theologisch-kirchlichen Tradition ihren Ort, sondern sind aus einer veränderten gesellschaftlichen Praxis eingewandert (S. 321ff).

Religiöses wird aus anderen Bereichen in die kirchliche Praxis hinein geholt. Zu nennen wäre hier auch die „Lebenskunst“ als zur Gestaltung des Lebens der einzelnen wichtiger Methode. Sie lehrt die einzelnen wichtige Situationen und Fragen des Lebens verstehen und darin eine eigene Wahl zu treffen. Wenn die einzelnen die Verantwortung für ihr Leben haben, brauchen sie auch die Fähigkeit zur Lebensgestaltung. Sie können sich nicht mehr einfach nach vorgegebenen Regeln verhalten und an vorgegebenen Mustern orientieren (Schwindt 2003). So wird denn auch die Philosophie der Lebenskunst in der Kirche neu entdeckt (Die Kunst zu leben 2001).

Es scheint in der kirchlichen Praxis einen Bedarf an Einführung in die Welt der Religion zu geben. 2002 veröffentlichte Manfred Josuttis eine „Handlungslogik spiritueller Methoden“ für Menschen, die im Bereich der Religion tätig sind. Er will vor allem das Handwerkliche vermitteln. Er definiert: „Religion ist ein Handwerk, das in der Theologie überdacht wird“ (2002, S. 9). Und er fährt fort: „Wenn Religion ein Handwerk ist, dann bedeutet das auch, dass die Leibesübungen der Spiritualität – keine Anwendung theologischer Lehre und – kein Ausdruck persönlicher Frömmigkeit sind. Sie werden von Menschen praktiziert, nicht weil diese Menschen fromm sind, sondern weil sie fromm werden wollen. Und sie werden in der Theologie reflektiert, um sie, soweit das in diesem Rahmen möglich ist, vor gesetzlicher Verfälschung, emotionaler Aufladung und profaner Entleerung zu bewahren“ (S. 18). Josuttis zieht einen deutlichen Trennungsstrich zwischen einerseits Kirche und Theologie und andererseits Religion und Spiritualität. Man kann die Methoden der Spiritualität erlernen, aber man kann dieses Lernen nicht durch eine Institution oder durch Integration in ein Curriculum herstellen (S. 47). Die Vermittlung geschieht allein in der Begegnung von Personen. Die Kirche kann sich also die Sache der Religion nicht zu eigen machen. Religion bleibt eine Sache der einzelnen Menschen.

Die einzelnen Menschen kommen nun andererseits zur Kirche, um für sich religiöse Güter zu bekommen. Failing und Heimbrock beobachten eine intensive Suchbewegung vieler Menschen in Richtung auf das Heilige, das sie als die „verdichtete Präsenz der Religion im Alltag“ bezeichnen (Failing/ Heimbrock 2001, S. 207). Menschen mit unterschiedlichster religiöser Einstellung erwarten etwas vom Segen. Darauf weist eine „zunehmende Nachfrage nach Segenshandlungen außerhalb kirchlicher Kasualien (Einsegnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen; Segnungen von Eltern bei Totgeburt)“ hin (S. 193). Hinzu kommt ein Zweites: „In der Gesamtkultur wie in gesellschaftlichen Teilkulturen der Gegenwart ist ein resistentes bzw. wieder erwachendes Bedürfnis nach besonderen, ‚heiligen oder auch sakralen Räumen zu beobachten“ (S. 194). Hier also ist ein traditionelles Angebot der Kirchen auf Grund eines religiösen Bedarfs gefragt. Die Befriedigung dieses Bedarfs ist innerhalb der Kirche jedoch auch umstritten. Zwischen den einzelnen Landeskirchen wird gegenwärtig die Legitimität der Segnung homosexueller Paare noch unterschiedlich gesehen. Auch die Segnung von Eltern bei Totgeburten ist noch keine Selbstverständlichkeit. Nur zögerlich geht man auch auf die Nachfrage nach „heiligen Räumen“ ein. Hier spielt die kirchliche Erwachsenenbildung derzeit noch den Vorreiter. Ein Zögern ist auch bei einer umgekehrten Bewegungsrichtung zu beobachten. Das große Interesse, das gegenwärtig das Thema Engel findet, ist zweifellos nicht in der Kirche entstanden. Aber es wird hier aufgenommen, einerseits weil es zu den religiösen Phänomenen gehört, die gegenwärtig gefragt sind, andererseits weil Engel in der kirchlichen Tradition selbstverständlich ihren Platz haben. Doch ist man nicht bereit, den Engeln einen so zentralen Platz einzuräumen, wie er in der religiösen Literatur und sonstigen Szene zu beobachten ist. Insbesondere werden besondere Engelsrituale vermieden.

Das religiöse Interesse der Gegenwart hat seine eigene Dynamik entfaltet. Ob in der Beratungspraxis, der Erwachsenenbildung oder der Kinder- und Jugendarbeit, überall stößt man auf die Anwendung und Einübung von Ritualen. Auch den Einzelnen werden Rituale empfohlen. Hauptthema des Heftes April 2004 der populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Psychologie heute“ war Rituale. Auf dem Cover war zu lesen: „Rituale. Nutzen Sie die Kraft sinnvoller Traditionen“. In einem Werbetext wird erläutert, heute seien die konventionellen Rituale und Zeremonien im Schwinden. Man hat in ihnen zu viel Zwang erfahren. Doch die neue Formlosigkeit macht auch nicht glücklich. So müssten nun alle ihre eigenen kleinen Rituale erfinden, um so ihrem Leben Struktur und Tiefe zu geben. Rituale werden eingesetzt, um neuem Verhalten Dauer zu verleihen. Veranstaltungen zum Thema Rituale finden sich in so manchem Bildungsprogramm.

In der Seelsorge andererseits kann man beobachten, wie traditionelle Rituale durch Gespräch ersetzt werden, das es ermöglicht, erst einmal religiöse Erfahrungen selbst zu machen. Seelsorger und Seelsorgerinnen regen dazu an, im Gespräch Religiöses zu erleben (Nassehi/ Saake 2004, S. 74). Glaube wird nicht mehr vorausgesetzt, sondern induziert. Die Seelsorger reden von „Gesprächsbereitschaft“ angesichts von Tod und Sterben. Im Gespräch soll das Religiöse, das nicht mehr empfunden wird, ins Erleben kommen. Nicht das Faktum allein scheint mehr Religiöses anzuregen (S. 75).

Aus den Medien kommen andererseits an die kirchliche Praxis auch ganz eigene und neue religiöse Gestaltungswünsche heran. Die „Traumhochzeit“ ist zwar nur ein Spiel, aber sie ist auch als eine Herausforderung an die kirchliche Trauung zu sehen (Dutzmann 1999, S. 28). Wie in diesem Fall für die Trauung aus dem Fernsehen kommen neue Bestattungsformen, -sitten und -gebräuche auch bei der Beerdigung von außen auf die kirchliche Praxis zu. An die Stelle der festgelegten Tradition tritt auch hier die Wahlmöglichkeit (Nüchtern 2003, S. 452). Die kirchliche Beerdigung findet sich auf einem Markt wieder. Das fordert zu einer bewussteren Gestaltung dieser kirchlichen Amtshandlung heraus. Die Kirche hat religiöse Konkurrenz bekommen.

So besteht an verschiedenen Punkten eine gewisse Spannung zwischen Religion und Kirche, wie es eine Spannung zwischen der individuellen und der kirchlichen Religion, zwischen Person und Institution gibt. Diese Spannung kann man nicht auflösen. Die Kirche muss die religiöse Selbstständigkeit achten. Die Menschen sollten sich andererseits mit der theologischen Tradition konfrontieren und in einen bleibenden Dialog ziehen lassen.

Die Zukunft der Kirche

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