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Verschiedenartige Schrumpfungsprozesse

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Vielfach wird von dem Eindruck berichtet, dass die Kirchen leerer würden. In absoluten Zahlen gefasst, ist diese Beobachtung richtig. Doch meist wird der Gottesdienstbesuch in Prozenten bezogen auf die Zahl der Mitglieder ausgedrückt. Danach besuchen dann vier oder fünf Prozent der Kirchenmitglieder sonntäglich den Gottesdienst. Diese Prozentzahl nimmt nicht ab, sondern ist seit Jahrzehnten konstant (Weltsichten 2004, S. 8). Allerdings: Die Zahl der Mitglieder nimmt ab und deshalb nimmt dann auch bei gleichbleibenden Prozentzahlen die absolute Zahl der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher ab. Zwei Prozesse kommen hier zusammen: Kirchenaustritte und der Überhang von Sterbefällen gegenüber den Geburtenraten der Evangelischen. Seit der ersten Erhebung über Kirchenmitgliedschaft der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahr 1972 sind 5,2 Millionen Mitglieder aus der Kirche ausgetreten. Dem stehen nur 1,2 Millionen Aufnahmen gegenüber. Die andere Entwicklung, der Geburtenrückgang, betrifft nicht nur die Kirchen. Er ist ein Phänomen der deutschen und europäischen Gesellschaft. Für die Zeit von 1970 bis 1990 errechnet Meinhard Miegel bei der deutschen Bevölkerung ein Geburtendefizit von 3,2 Millionen Menschen (2002, S. 15). Hätte es nicht die Zuwanderung gegeben, hätte Deutschland heute statt 82 Millionen Einwohnern nur siebzig Millionen. Nun wandern aber bis auf einige Gruppen von Aussiedlern aus dem Osten kaum Evangelische zu. So muss man davon ausgehen, dass der Verlust infolge des Sterbeüberhangs auf der evangelischen Seite voll eingetreten ist und sich auch künftig verstärkt zeigen wird. Wolfgang Huber geht von einem jährlichen Verlust von 250.000 Menschen aus (S. 229). Miegel wirft den Politikern vor, dass sie die demografische Entwicklung kaum berücksichtigten. Auch in der Kirche und der Praktischen Theologie ist dies kaum jemals ein Thema. Huber, die Studie „Kirche mit Zukunft“ der Evangelischen Kirche von Westfalen und eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (Christsein gestalten 1986, S. 21) bilden eine Ausnahme. Dabei ist im kollegialen Gespräch davon durchaus die Rede. Mir fallen ein paar Anlässe ein. In einem Stadtviertel mit Blockrandbebauung aus der Gründerzeit zogen straßenweise die deutschen Mieter aus und es kamen Griechen, Italiener und später Türken nach. In der Kirchengemeinde dieses Stadtviertels kam es auffällig oft zu Konflikten. Eine Analyse im Kollegenkreis der Pfarrerinnen und Pfarrer lautete: Die Gemeinde wird sich in ihrem Stadtteil selbst fremd. Ihre Mitglieder werden weniger. Ganze Straßenzüge sind nicht mehr evangelisch. Die jungen Leute ziehen in die Neubaugebiete. Eine andere Beobachtung: In den ersten Jahren meiner Tätigkeit als Pfarrer nach 1968 hatte ich im Konfirmandenunterricht Jahrgangsstärken von ca. 40 Mädchen und Jungen. Fast über Nacht halbierten sich die Jahrgänge. Der s.g. Pillenknick hatte seine Wirkung getan. Diese Entwicklung bedauerte zunächst niemand. Unterricht und Konfirmationsfeiern wurden eher spürbar entlastet. Allerdings wurde es im folgenden schwieriger aus den Neukonfirmierten Jugendgruppen zu bilden. Einem Erfahrungssatz zufolge konnte man damit rechnen, dass ein Viertel eines Konfirmandenjahrgangs für die weiterführende Jugendarbeit ansprechbar ist. So konnte ich anfangs noch mit einer Gruppenstärke von zehn rechnen. Aber bei zwanzig Konfirmanden blieben nur noch fünf und, als die Zahl später weiter zurückging, noch weniger. Da hatte Jugendarbeit im Gefolge der Konfirmation keine Chance mehr. Die Jugendarbeit ist es denn auch, die vor allem den Geburtenrückgang zu spüren bekommt. Kenner spotten bereits, dass die Jugendarbeit mangels Jugendlicher eingestellt werden müsse. Bislang wurden solche Beobachtung jedoch damit abgetan, dass es sich wahrscheinlich nur um örtliche Entwicklungen handele. Dies geschieht mit einem gewissen Recht, weil die Entwicklung regional durchaus unterschiedlich verlaufen kann. In der Evangelischen Kirche von Westfalen gibt es eine Bandbreite von 15% Wachstum bis zu einem Rückgang von 30% (2000, S. 24). Die Gesamtentwicklung ist jedoch negativ.

Auch die Veränderung der statistischen Zahlen im Zusammenhang mit der Vereinigung Deutschlands hat zu dem Eindruck von Krise beigetragen. Die Anzahl der Evangelischen, bezogen auf die Gesamtzahl der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, hatte sich drastisch reduziert. Dies war die Folge davon, dass nun die Zahlen aus der ehemaligen DDR mit einem überaus hohen Anteil an Konfessionslosen mit denen aus der alten Bundesrepublik zusammengerechnet wurden. Plötzlich gab es neben 26,65 Millionen Katholiken, 26,45 Millionen Evangelischen auch 23 Millionen Konfessionslose, sowie 3,3 Millionen Moslems und gut 2 Millionen Andersgläubige. Hatte man bis dahin noch grob gerechnet, dass knapp die Hälfte der Bevölkerung evangelisch sei, so musste man nun von nur noch einem Drittel ausgehen. Da auch die Kirchenmitglieder insgesamt nur noch Zweidrittel der Bevölkerung ausmacht, ist für viele auch das politische Gewicht der Kirchen geringer einzustufen.

Ist die Zahl der Mitglieder rückläufig, so sind selbstverständlich auch die Einnahmen der Kirchensteuer davon betroffen. Enttäuschend ist es dann, wenn Pfarrstellen gestrichen oder nicht mehr besetzt werden, Mitarbeitende in der Jugendarbeit reduziert werden oder die Zukunft der Evangelischen Akademie in Frage gestellt wird. Die Zahl der Pfarrer wird nach einem Schlüssel berechnet, der vor allem die Zahl der Mitglieder berücksichtigt. Wieviel Pfarrstellen eine Kirche sich leisten kann, hängt aber auch von den Einnahmen ab. Und da gibt es neben der Entwicklung der Mitgliederzahlen auch noch den Faktor, dass bei den Steuerreformen der jüngsten Zeit eine Tendenz weg von den personbezogenen Steuern zu beobachten war. Das bedeutete geringeren Finanzspielraum für die Kirche, da einerseits die Kirchensteuer sich nur an die personbezogenen Steuern anlehnt und damit die Einnahmen sinken, andererseits aber bei der Erhöhung von Verbrauchssteuern höhere Ausgaben im Sachkostenbereich zu kalkulieren sind. Zur akuten Finanzkrise trug nicht wenig auch die Vereinigung Deutschlands bei. Sie traf die Kirche nicht nur hinsichtlich des Kirchensteuerrückgangs, sondern auch hinsichtlich der Transferzahlungen der westdeutschen Landeskirchen für die ostdeutschen.

Gegenwärtige Erfahrung ist: Es gibt kein Wachstum mehr. Rückbau ist angesagt. Die Kirche hatte Teil gehabt an dem allgemeinen Wirtschaftswachstum in der Nachkriegszeit. Man konnte zahlreiche Kirchen und Gemeindezentren neu bauen. Die Zahl der Pfarrstellen und der anderen Stellen in der kirchlichen Praxis wuchs. Man konnte das Verhältnis von Pfarrerinnen und Pfarrern zu Gemeindegliedern um die Hälfte herabsetzen. Nun kamen auf eine Pfarrerin und einen Pfarrer nicht mehr dreitausend Mitglieder, sondern nur noch tausendfünfhundert. Wie aber die Kirche das Wirtschaftswachstum teilte, so teilt sie nun auch – wie Meinhard Miegel es nennt – die „Rückkehr zur Normalität“ (S. 94). Das Wachstum der Nachkriegsjahre ist nach Miegel ziemlich einmalig gewesen. Wäre es weitergegangen, wären wir heute bei aberwitzigen Zahlen hinsichtlich der Einkommen, aber sicher auch hinsichtlich der Umweltzerstörung und dergleichen. Doch die Politik wie die Bevölkerung wollen die einfache Rechnung nicht wahrhaben, dass hohes Wachstum nicht der Normalfall sein kann. Sie sehen in der Rückkehr zur Normalität eher eine unverdiente und unbegreifliche „Heimsuchung“. In der Kirche hatte man zwar immer davon gesprochen, dass das Wachstum nicht unendlich sein könne und dürfe. Doch wenn Stellen abgebaut werden müssen, Gemeinden um ihren Gemeindepädagogen oder die dritte Pfarrstelle bangen müssen, oder Dörfer ihren Pfarrer verlieren sollen, dann ist auch in der Kirche die Empörung groß. Dabei ist gar nicht ausgemacht, dass eine höhere Dichte an Hauptamtlichen auch zu einer lebendigeren und effektiveren kirchlichen Praxis führt! Auch vor dem starken Anstieg der Personalstellen in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es durchaus lebendige Gemeinden und viele engagierte Mitglieder. Etwas zynisch meinte ein Mitglied einer Kirchenleitung kürzlich: „Die Zeit der größten Pfarrerdichte war auch die Zeit der höchsten Kirchenaustritte“. In manchen Kirchengemeinden erzählt man sich noch immer begeistert von der lebendigen Zeit, als man keinen Pfarrer hatte und alles selbst machen musste. Die Kirche hat mit Gesellschaft und Wirtschaft hohe Zuwachsraten geteilt. Sie wird jetzt auch die Rückgänge zu teilen haben.

Dabei wird es nicht nur um die geringeren Finanzmittel gehen, sondern auch um die geringere Zahl an Mitgliedern. Man muss sich auch in der Kirche mehr Gedanken über die Fragen machen, die daraus entstehen, dass es immer weniger Mitglieder gibt. Wie kann die Kirche sinnvoll schrumpfen? Es geht dabei nicht nur ums Gesundschrumpfen, wie man in der Vergangenheit gern die Entwicklung der Kirchen in der DDR beschrieb. Es wird immer beides geben, Chancen und Nachteile, Mut Machendes und Angst Machendes. Unter dem Motto „Wir werden weniger“ diskutierte im Herbst 2004 die Wochenzeitung DIE ZEIT die verschiedenen Aspekte der Schrumpfungsprozesse in der Gesellschaft. Es zeigt sich, dass weniger Menschen auch mehr Chancen bedeuten können. Man wird viel umgestalten müssen. In der Kirche wird diese Diskussion bislang vor allem an zwei Punkten geführt: Der Zusammenlegung von Gemeinden und Kirchenbezirken einerseits und dem Verkauf, der Umwidmung, dem Abriss von kirchlichen Gebäuden andererseits. Meist reagiert die kirchliche Öffentlichkeit kritisch auf die Forderung nach Umstrukturierungen, die außerkirchliche Öffentlichkeit reagiert kritisch, wenn es um die Gebäude geht. Am besten bewältigt werden diese Probleme wahrscheinlich dann, wenn Bürger und Bürgerinnen oder eben Kirchenmitglieder möglichst viel Verantwortung selbst übernehmen und die Veränderungen nicht den „Machern“ überlassen. Meinhard Miegel plädiert hinsichtlich des Umbaus im staatlichen Bereich dafür, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Abhängigkeit vom Staat stärker zurückdrängen sollten (S. 210). In eine ähnliche Richtung gehen meine Überlegungen für die Kirche.

Die Zukunft der Kirche

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