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Religiöse Evolution

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So gesehen betrifft der gesellschaftliche Wandel auch die theologisch-religiösen Aspekte und Inhalte. Die Menschen nehmen für sich in Anspruch, bei der Wahrheitsfrage mitreden zu können. Nur die Inhalte und Angebote, die für sie nach eigener Einschätzung lebensdienlich sind, können akzeptiert werden. Wahrheit kann darüber hinaus nur als steter Prozess der Suche verstanden werden. Ein Besitz der Wahrheit ist Menschen in der Gegenwart schlichtweg unverständlich und unakzeptabel. Wahrheit kann nur streng geschichtlich gedacht werden, abhängig von Situation, Zeit und Ort. Es gibt sie nicht an sich. Und was Religion ist, ändert sich damit jeweils. So kann es in der Gegenwart dazu kommen, dass die Kirche nicht als Ort der Religion erlebt wird. Als „geistige, geistliche, religiöse Größe“ fällt nach Matthias Kroegers Beobachtungen die Kirche weitgehend aus (1997, S. 165). Vielfach würden nur theologische Richtigkeiten mitgeteilt, aber nicht zu lebendiger Religion und Spiritualität angeleitet. Die Religion, die jeweilige Ausprägung von Christentum entwickeln sich fort. Gegenwärtig lässt sich u.a. eine Tendenz hin zur Mystik erkennen. Das ethisch und dogmatisch geprägte Christentum verliert an Interesse. Traditionelle Gottesdienste werden als langweilig und lebensfremd empfunden. Auch für die Ergebnisse der historisch-kritischen Erforschung der Bibel interessiert sich kaum jemand. Das Programm der Entmythologisierung, das eine ganze Generation von Theologinnen und Theologen geprägt hat, bewegt niemanden mehr. Nahrung für die Seele erwächst daraus nicht. So kommt es zu dem Slogan „Religion ja, Kirche nein“. Matthias Kroeger beschreibt zwei Modelle möglicher Orientierung der kirchlichen Praxis. Das offene Modell lässt Suche zu, erlaubt Häresie und versucht mit dem Schatz der Tradition der Seele Nahrung und Hilfe zum Verstehen zu geben. Es erkennt die religiöse Autonomie der Menschen an. Dieses Modell wird jedoch in der Regel in der Kirche abgelehnt. Hier wird das geschlossene Modell bevorzugt und praktiziert, das sich orientiert an Offenbarung, Buße und Gehorsam. Wo die an der Autonomie der einzelnen orientierte Religion abgelehnt und nicht unterstützt wird, kommt es zu einer Privatisierung der Religion, die sie gesellschaftlich und kirchlich zum Verschwinden bringt. Das war die These, die Thomas Luckmann schon in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in seinem Essay „Die unsichtbare Religion“ vertreten hat. In Deutschland und auch sonst in Europa gibt es davon noch die besondere Variante, dass Religion nicht nur Privatsache ist, sondern auch eine Angelegenheit von höchster Intimität. Nach dem auch mit viel religiösen Motiven ausgefochtenen Wahlkampf zur Präsidentenwahl in den USA 2004 eröffnete Bernd Ulrich seinen Leitartikel „Glauben oder eifern“ in DIE ZEIT mit dem Satz: „In Deutschland kennt man seine Politiker in allen Lebenslagen – beim Tanzen, beim Joggen, beim Küssen, beim Kochen. Nur beim Beten, da sehen wir sie nie“ (2004, S. 1). Den eigenen Glauben nicht zu zeigen sei eine deutsche Besonderheit, die von nur wenigen Völkern geteilt werde. Ulrich stellt einen Zusammenhang mit fehlenden Gemeinschaftswerten und Bindekräften in der Gesellschaft überhaupt fest. Ähnlich sieht es Kroeger, der von Entsolidarisierung spricht (1997, S. 16). Tatsächlich ist es möglich, dass in Deutschland kirchliche Feiertage immer wieder zur Disposition gestellt werden. Man diskutiert über die Zeitgemäßheit des Gottesbezugs in der Verfassung. Reimer Gronemeyer meint, Kirche und Religion seien nur noch archäologische Themen (1995, S. 37). Begründet werde diese Nichtachtung mit dem vielfältigen Versagen der Kirchen im Dritten Reich und an vielen anderen Punkten der abendländischen Geschichte vorher. Mit der Kirche als religiöser Institution will man nichts zu tun haben. Als kürzlich ein zufälliger Gesprächspartner erfuhr, dass ich Pfarrer gewesen sei, bekannte er herausfordernd: „Ich bin Atheist“. Kroeger unterstellt den Medien, dass sie sich des „Kitzels des Blasphemischen“ (1997, S. 70) nur zu gern bedienten. Was die in diesen Äußerungen liegende Aggressivität gegenüber der Kirche angeht, hege ich die Vermutung, dass sich hier die fehlende Wahlmöglichkeit, die fehlende Anerkennung der religiösen Autonomie der einzelnen, das Missbehagen an der Gehorsamsforderung und an dem Überlegenheitsgestus niederschlagen. Das würde auch die andersgeartete Stimmung in den USA erklären. Dort hat es nie eine flächendeckende Staatskirche gegeben. Kirchenmitgliedschaft war immer ein autonomer Akt der Wahl. Trotz aller Pluralisierungen in der Gesellschaft hat es in Deutschland keine wirkliche Pluralisierung von Frömmigkeitsformen gegeben, die ein entspannteres Verhältnis zur Kirche hätte entstehen lassen können.

Wie es scheinbar nur eine sanktionierte Frömmigkeitsform gibt, so gibt es scheinbar auch nur eine sanktionierte theologische Sprache und eine sanktionierte theologische Vorstellungswelt. Gottesbild und Deutung Jesu Christi scheinen festzuliegen. Wer aufgrund seiner Erfahrungen und intellektuellen Einsichten dem nicht zustimmen kann, fühlt sich ausgestoßen. Mancher vermutet, dass selbst Theologinnen und Theologen diese Dinge so nicht mehr glauben könnten. Aber es gibt für die Mitglieder kaum eine Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen. Dass der Himmel leer ist, dass es Gott nicht „gibt“ usw. mögen sich Theologinnen und Theologen selbst noch eingestehen, aber öffentlich bekennen sie sich nicht dazu. Das führt dazu, dass die Menschen vermuten, dass die Geistlichen selbst nicht glauben, was sie verkündigen. Das wiederum führt zu neuem Misstrauen und das ist der Grund dafür, dass Matthias Kroeger einen „Ruck in den Köpfen der Kirche“ fordert. Es ist viel in Bewegung auf der Seite der Mitglieder und es ist viel in Bewegung auf den Seiten der Theologinnen und Theologen. Aber es fehlt an dem offenen und ehrlichen Gespräch.

Trotz dieser Spannungen, dieses Misstrauens und der fehlenden Kommunikation sprechen alle Mitgliedschaftsuntersuchungen der Evangelischen Kirche in Deutschland von einem erstaunlichen Maß an Stabilität der Mitgliedschaft. Eine Massenabkehr von der Kirche findet nicht statt. Man geht in der Mehrzahl der Fälle auf Distanz, bricht aber die Beziehungen nicht vollständig ab. In der jüngsten Untersuchung vermutet man, dass diese Spannung in der Geschichte des deutschen Protestantismus begründet liegt. „Seit der Reformation war die Kirche einerseits institutionell bis nach dem 1. Weltkrieg vom Staat getragen, was auch in die volkskirchlichen Verhältnisse seitdem nachwirkte. Andererseits haben Reformation und Aufklärung die Freiheit des Gewissens, Denkens und Urteilens befördert. Die Kombination beider Faktoren scheint in der Mitgliedschaft bei allen Größenverhältnissen gleichbleibend ein relatives Gleichgewicht von Distanz und Nähe zu bewirken“ (Weltsichten 2003, S. 10).

Um beim Letzten anzufangen: Man wird sich auch die Geschichte des Protestantismus ansehen müssen, um die gegenwärtige Krise der Kirche verstehen und damit umgehen zu können. Dazu gehört die Geschichte des evangelischen Kirchentums mit den durch es geprägten Mentalitäten genauso wie die jüngere Theologiegeschichte mit ihren Weichenstellungen. So beginnt diese Arbeit mit der Frage nach der Zukunft der Kirche mit einem Blick in die Vergangenheit protestantischer Gestaltwerdung. Welches waren und sind die Leitideen im Kirchenverständnis? Wie war und ist das Verhältnis von Institution und Person? Wie kamen und kommen die Mitglieder in den Blick? Was bedeutete und bedeutet die Kirche für die einzelnen? Wenn die Zahlen zurückgehen, werden ja die Einzelnen um so wichtiger. Man kann sich um sie mehr kümmern, muss es auch, wenn der Bestand nicht noch weiter schrumpfen soll. In einer Gesellschaft, die von Individualisierung und Pluralisierung gekennzeichnet ist, muss auch eine Großinstitution wie die Kirche sich intensiv mit den einzelnen beschäftigen als ihren Mitgliedern mit den Erwartungen und Wünschen, als religiösen Menschen mit dem, was Religion heute im Leben der Einzelnen und im Leben der Gesellschaft bedeutet. Als Kirche der Reformation muss sich die evangelische Kirche außerdem immer fragen, wie sie es institutionell mit dem von ihr verkündeten allgemeinen Priestertum der Getauften halten will. Und die Evangelischen selbst sollten sich Klarheit darüber verschaffen, was für eine Kirche sie wollen und brauchen. Sie müssen ihrer selbst bewusst die religiöse Autonomie pflegen und einfordern, aber auch deutlich machen, was sie dazu brauchen. In erstaunlich hohem Maße nehmen die Protestanten ihre Verantwortung für die Kirche durch die Zahlung der Kirchensteuer und von Spenden wahr. Sie haben das Recht, entsprechende Forderungen zu stellen.

Mit dieser Arbeit soll der Blick für die Mitglieder und die Einzelnen geschärft werden. Nur darin dürfte die evangelische Kirche eine Zukunft haben, dass sie entschlossen zu einer Kirche der Mitglieder und der Einzelnen wird. Schrumpfungsprozesse, gesellschaftlicher Wandel und religiöse Entwicklung weisen in diese Richtung. Worauf müssen Verantwortliche wie Evangelische achten, wenn ihre Kirche „mitgliederorientiert“ sein soll? Welche Entwicklungen gehen längst in die notwendige Richtung, ohne entsprechend gewürdigt zu werden? Ist die Wirklichkeit der evangelischen Kirche wirklich so defizitär einzuschätzen, wie es vielen vorkommt? Die vorliegende Studie folgt einem phänomenologischen Ansatz. Sie versucht anhand von Beobachtungen und nicht von Glaubenssätzen ein Bild von Kirche zu zeichnen. Selbstverständlich wird das entstehende Bild mit den reformatorischen Einsichten abgeglichen, aber es wird nicht aus ihnen abgeleitet. So werden auch keine Rezepte zur Rettung der Kirche formuliert. Wenn Vorschläge gemacht werden, dann verdanken sie sich den analysierten Beobachtungen. Allenfalls am Rande wird deshalb auch überlegt, wie mit den Folgen der Schrumpfungsprozesse konkret umgegangen werden soll, also mit zurückgehenden Finanzmitteln, zu großem Gebäudebestand usw. Hier geht es um einen Schritt davor, um das Bewusstsein für eine mitgliederorientierte Kirche.

Eine mitgliederorientierte Kirche ist nicht unbedingt auch eine Kirche, die ihre Mitglieder umwirbt, etwa eine einladende Kirche, die damit wirbt, das es bei ihr „lebendige Gemeinschaft“ gibt, dass sie „Raum für persönliches Engagement“ schafft, dass sie für ihre Mitglieder „in Glück und Trauer da“ ist usw. So wirbt ein Mitgliederprospekt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Das Leben 2003). Mitgliederorientierung heißt, wahrnehmen was die Mitglieder nutzen, wofür sie sich interessieren und was sie aus ihrer Sicht brauchen. Aus dieser Perspektive heraus werden in dieser Arbeit fünf Bereiche näher in den Blick genommen. Es geht um den Bedarf an Religion, das Interesse an „heiligen“ Orten und Räumen, die Orientierung an den Pastoren, die Notwendigkeit von Bildung auch in religiösen Fragen und nutzerfreundliche Strukturen. Mit diesen Punkten dürften die meisten Fragen abgearbeitet werden können. Die Auswahl ist nicht systematisch begründet, sondern folgt der Wahrnehmung. Sie ist eine Erweiterung der drei Aspekte, die Jan Hermelink als Bezugspunkt für die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche heraus gearbeitet hat: Rituale, Räume und Personen (2000, S. 343).

Für die Darstellung wird vielfältiges Material verwendet: Die Ergebnisse der Mitgliedschaftsbefragungen der Evangelischen Kirche in Deutschland seit dreißig Jahren, Praxisberichte und eigene Beobachtungen aus der kirchlichen Praxis. Verarbeitet wird außerdem die neuere praktisch-theologische Literatur. Argumentiert wird nicht nur im theologisch-kirchlichen Rahmen. Vielmehr werden auch anthropologische, soziologische und kulturtheoretische Überlegungen einbezogen.

Die Zukunft der Kirche

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