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Die Differenz von Kirche und Welt
ОглавлениеDass sich die Kirche von anderen Organisationen unterscheiden, dass kirchliche Aktivitäten erkennbar anders sein sollten als nicht kirchliche, ist eine in der Christentumsgeschichte immer einmal wieder auftauchende Forderung. Sie war selbstverständlich in Verfolgungssituationen. Sie gehörte zum Selbstverständnis der Christen in der gesellschaftlichen Minderheit. Im Protestantismus hat dieser Gedanke im Pietismus und in der Erweckungsbewegung einen wichtigen Platz. Die wahrhaft Glaubenden unterscheiden sich von der Welt. Eine bildliche Darstellung hat diese Forderung in den „Zwei-Wege-Bildern“ gefunden, die in immer neuen Varianten noch bis heute im Buchhandel erhältlich sind. Obwohl es sich um eine Komposition mit gemeinsamem Rahmen und Thema handelt, sind die linke und die rechte Hälfte des Bildes völlig voneinander getrennt. Vorgestellt werden zwei separate Welten, in die man auch nur durch separate Eingänge gelangen kann. Das Wort aus der Bergpredigt „Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind ihrer, die ihn finden“ (Mt. 7,13 - 14) liegt diesem Bildmotiv zugrunde. In einer Fassung von 1866, die Martin Scharfe wiedergibt, sind die zwei Pforten mit einem Hinweisschild versehen: Reich der Welt und Reich Gottes. Das Reich der Welt enthält Vergnügungsstätten aller Art. Dazu gehört auch das Theater. Der breite Weg führt jedoch weiter, kreuzt die Eisenbahn und endet in Krieg und allgemeiner Zerstörung. Der schmale Weg führt an einer gotischen Kirche, der Sonntagsschule, der Kinderrettungsanstalt und dem Diakonissenhaus vorbei steil ansteigend zum himmlischen Jerusalem (S. 85). Welt und Reich Gottes (Kirche) haben nichts miteinander zu tun. Die Menschen müssen sich zwischen beiden Sphären entscheiden. Der hier sichtbar werdende Dualismus zwischen einer Welt des Heils und einer Welt des Unheils hat in der Christentumsgeschichte unterschiedliche soziale Gestalten gehabt. Er war zuweilen mehr auf die Gesinnung, die innere Einstellung, den Glauben bezogen. Sozial wirksam wurde er, wenn Menschen „der Welt entsagten“ und „ins Kloster gingen“. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Gegenüberstellung von Kirche und Welt im Protestantismus in neuer Weise soziale Realität. Mit evangelischen Einrichtungen neben den Kirchengemeinden in Dörfern und Städten, wie sie am schmalen Weg des Bildes angesiedelt sind, konnte man eine eigene christlich geprägte Welt errichten. Man fing an, ein gesellschaftliches Teilsystem Kirche zu denken, das nach eigenen Grundsätzen gesteuert wurde. Theologisch war die Besinnung auf die Kirche als Sonderwelt eine Reaktion auf die Aufklärung und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen. Lutherische Theologen suchten nach einer Theologie, die in all den Veränderungen Halt geben konnte. Wolf-Dieter Marsch versucht die Stimmung der Zeit einzufangen: „Hatte nicht Luther mit seiner Rechtfertigungsfrömmigkeit sola fide einen Bruch nicht nur mit der römischen Kirche, sondern auch mit allen weltlichen Vermittlungen des Heils vollzogen? Konnte sich eine Theologie der Differenz – zur Zeit, zur Kultur, zum autonomen Ethos – nicht zu Recht auf ihn berufen? Und musste nicht in der Kirche auch dieses Bewusstsein der Differenz lebendig bleiben, wenn sie nicht angesichts von Aufklärung und Idealismus zum ideologischen Überbau des Zeitgeistes werden wollte?“ (1970, S. 40). Im Gefolge solchen Fragens kam es zu lutherisch konfessionalistischen Bestrebungen, die die Kirche zu einer festen Burg gegenüber allen Verfallserscheinungen der säkularen Kultur ausbauen wollten. Der prägnanteste Verfechter dieser Kirche-Welt-Differenz war Friedrich Julius Stahl. Marsch zitiert dessen Bekenntnis gegen den Zeitgeist: „Zwischen den Prinzipien, die sich feindlich gegenüberstehen, gibt es keine Versöhnung und keine Mitte. Entweder alle Ordnung und Obrigkeit ist vom Menschen gesetzt und besteht zu Menschen Zwecken, oder sie ist von Gott gesetzt und um seinen Willen zu erfülle“. Auch die zweite Welle des Pietismus, die Erweckungsbewegung, richtete die Aufmerksamkeit auf die Kirche. Sie ging wie der alte Pietismus von dem Gegensatz von Glauben und Unglauben aus. Sie sah die Organisation der Kirche aber nicht tendenziell auf der Seite des Unglaubens, sondern fand in der Kirche den Ort, an dem man seinen Glauben leben konnte. Die Differenz verlagerte sich. Es ging bei Glaube und Unglaube jetzt um Kirche und Welt.
Verstärkt, vielleicht auch allererst hervorgerufen, wurde diese kirchliche Orientierung durch die politischen Entwicklungen in der nachnapoleonischen Zeit. In großem Maßstab waren mit dem Wiener Kongress 1815 die deutschen Staaten neu zugeschnitten worden. Häufiger als zuvor zählten diese neuen Staaten sowohl Protestanten wie Katholiken zu ihren Bürgerinnen und Bürgern. Die Staaten waren nicht mehr nur von einer Konfession geprägt. Sie waren mehr als einer Konfession verpflichtet. So wurde beispielsweise in der fast rein evangelischen Stadt Darmstadt in den 1820er Jahren eine große katholische Kirche gebaut. Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt hatte im Zuge der politischen Neuordnung große Gebietsanteile mit überwiegend katholischer Bevölkerung bekommen. Da sollte auch die katholische Konfession in der Hauptstadt entsprechend repräsentiert sein. Staatsbürgerschaft und religiöses Bekenntnis waren erkennbar nicht mehr identisch. Musste sich da die Kirche nicht ganz neu auf sich selbst besinnen?
Die Veränderung der politischen und konfessionellen Lage führte nicht nur zu Kirchbauprojekten wie in Darmstadt, sondern auch zu Bestrebungen einer kirchlichen Neuordnung im Sinne einer kirchlichen Verfassung. Besonders in Rheinland und Westfalen kämpfte man für eine synodal-presbyteriale Kirchenordnung. Es kam zwar in diesen Jahren noch nicht zu einer eigenständig organisierten evangelischen Kirche. Doch erschien dieser Schritt als die logisch notwendige Folge davon, dass sich der Staat nicht mehr konfessionell verstand. Was aber zustande kam, war ein neues Verständnis des landesherrlichen Kirchenregiments. „Nach der neuen Anschauung war der Landesherr nicht als Staatsoberhaupt, sondern als vornehmste Standesperson, der die erbliche Würde des ‚summus epsicopus zusteht, der Herr des Kirchenregiments; aus der Kirche des Staates war die Kirche des Landesherrn geworden“ (Heussi 1960, S. 457). Was bedeutete das für das Selbstverständnis der Kirche? Mit dem Ende des Alten Reiches 1806 war auch die Auflösung des Corpus evangelicorum (Zusammenschluss der evangelischen Reichsstände) verbunden. Damit hatten die evangelischen Landeskirchen in Deutschland kein gemeinsames Organ mehr. Nach langen Auseinandersetzungen kam es 1853 in Eisenach zur Einrichtung der „Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz“. Ziel dieser alle zwei Jahre tagenden Konferenz war, über wichtige alle evangelischen Kirchen betreffende Fragen wie Kirchenreform, Gesangbuchreform, Kindergottesdienst usw. zu gemeinsamen Regelungen zu gelangen (Graf RGG Bd 4, Sp. 1179). Die politischen Verhältnisse zwangen die Landeskirchen zu einem eigenständigen Handeln.
Schließlich muss daran erinnert werden, dass das kirchliche Christentum in dieser Zeit stark an Akzeptanz verlor. Zunächst waren es die Gebildeten, die auf Distanz gingen. Im Zuge der Industrialisierung waren es auch die Arbeiter, die sich den kirchlichen Forderungen entzogen. Für viele in der Kirche waren die Modernisierungsschübe der Zeit Grund genug, sich auf das Kirchliche allein zurückzuziehen. Die Kirche verlor in vielem ihre selbstverständliche gesellschaftliche Anerkennung. War Rückzug in den eigenen Bereich, der unumstritten war, nicht die notwendige Folge?
Oliver Janz hat in einer groß angelegten historischen Untersuchung für die preußischen Gebiete herausgearbeitet, wie sich die verschiedenen oben genannten Faktoren auf Selbstbild und Verhalten der evangelischen Pfarrerschaft ausgewirkt haben (1994). Am Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Pfarrer ein wichtiges Segment des Bürgertums. „Ihr Status, Prestige und Selbstverständnis basierte vor allem auf ihrer Bildung und auf der engen Verflechtung von Kirche und Staat“ (S. 130). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es jedoch zu einem massiven Bedeutungsverlust im Vergleich zu anderen Berufen. Der Anteil an der Gesamtzahl der Akademiker sank rapide: von 34 % im Jahr 1830 auf 4,5 % vor dem Ersten Weltkrieg. Verglichen mit Ärzten, Anwälten usw. sank die Nachfrage nach den theologischen Dienstleistungen stark. Die Teilnahme am kirchlichen Leben seitens des gehobenen Bürgertums ging zurück. In kirchlichen Gremien, die z. T. erst nach 1850 eingerichtet wurden, kam es zu einer klaren „Verkleinbürgerlichung“. „Parallel zur Entkirchlichung, dem Bedeutungsverlust der Pfarrerschaft, dem Wandel der Gemeindestruktur und der Entbürgerlichung des kirchlichen Lebens zogen sich bedeutende Teile der preußischen Pfarrerschaft zunehmend in das kirchlich-pastorale Milieu zurück, Prozesse, die sich gegenseitig bedingten und verstärkten. Sie wurden erheblich gefördert durch Neuluthertum und Erweckungsbewegung“ (S. 134). Bis dahin hatten den Pfarrer die persönliche Qualifikation und seine pädagogisch-sittlichen Leistungen in Staat und Kirche ausgezeichnet. Das änderte sich. „Mit dem Neuluthertum und der Erweckungsbewegung traten die sakramentalen und kultisch-liturgischen Kernelemente der Pfarrerrolle wieder in das Zentrum des Amtsverständnisses. Durch die Dogmatisierung des kirchlichen Bekenntnisses wurde das Amt gegenüber den Laien stark aufgewertet“. Die Ordination bekam den Charakter einer Amtsweihe. Der Pfarrer wurde wieder zu einem über der Gemeinde stehenden Mittler zwischen Gott und den Menschen. „Mit der Resakralisierung der Pfarrerrolle trat die Bildung als zentrale Amtsvoraussetzung deutlich zurück“. Das hatte Folgen für das soziale Verhalten und Selbstverständnis der Pfarrerschaft. „Große Teile der Pfarrerschaft orientierten sich nun an einem klerikalen Sonderethos, das sie deutlich von anderen bürgerlichen Berufsgruppen abhob und alle Bereiche der pastoralen Lebensführung durchdrang“. Selbst liberale Pastoraltheologen forderten die Einhaltung einer „geistlichen Amtswürde“ und warnten vor dem Besuch von Theater, Opern und Bällen. „So wurde letztlich die gesamte Pfarrerschaft in Kleidung, Sprache, geselligem Umgang und Auftreten, in Lebensstil und Sozialverhalten auf eine soziale Distanz verpflichtet, die sie nicht nur nach unten abgrenzte, sondern auch aus dem Bürgertum herauslöste“ (S. 135). Damit solch ein Ausscheren auch materiell möglich wurde, wurden neue Möglichkeiten kirchlicher Beschäftigung in der Zeit nach 1850 eröffnet. An den Beginn der amtlichen Laufbahn kam die Hilfspredigerzeit. Zusammen mit Studium, Lehrvikariat und Predigerseminar bildete die Hilfspredigerzeit einen durchstrukturierten Ausbildungsblock. Dies förderte die Verkirchlichung des Pfarrernachwuchses insofern, als jetzt eine genaue Kontrolle möglich wurde. Bis zur Jahrhundertmitte waren die jungen Theologen zwischen Studium und Antritt ihrer ersten Pfarrstelle weithin auf sich gestellt. Sie suchten sich Stellen als Hauslehrer, in der Schule oder anderen Tätigkeiten und waren damit einer kirchlichen Sozialisation entzogen. Einher mit der beruflichen Verkirchlichung ging auch die Verkirchlichung des privaten Lebens. Zu Beginn des Jahrhunderts waren Pfarrer noch in großer Zahl in Geselligkeitsvereinen, Casinogesellschaften, Kunstvereinen des Bürgertums maßgeblich vertreten und beteiligt. Nach 1850 zogen sie sich jedoch aus diesen bürgerlichen Aktivitäten zurück und beschränkten den geselligen Verkehr fast ausschließlich auf die eigene Berufsgruppe.
Diese wenigen Hinweise auf die kirchliche Lage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mögen genügen, um zu verstehen, welche Bedeutung die Forderung nach einer Selbststeuerung der Kirche für Teile des Protestantismus in dieser Zeit gewann und seither behalten hat. Es ging um die Verarbeitung der Prozesse der Loslösung vom Staat und vom Bürgertum, sowie der Erfahrung von gesellschaftlichem Bedeutungsverlust im Zuge von Modernisierung durch Aufklärung, Industrialisierung, Verstädterung und Differenzierung. In dem Maße allerdings wie sich die Kirche aus den gesellschaftlichen Bezügen löste und in eine kirchliche Sonderwelt eintrat, verlor sie die Instrumentarien um die Gesellschaft, deren Teil sie doch war, angemessen wahrnehmen zu können. Man nahm zu Thesen wie der der Säkularisierung Zuflucht. Jahrzehnte später, nach Jahrhundertwende, Erstem und Zweitem Weltkrieg konnte Joachim Matthes in seinem Aufsehen erregenden Buch „Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft“ die entstandene Situation so schildern: „Die Vorstellung, dass eine entkirchlichte Gesellschaft und eine ‚entgesellschaftlichte Kirche einander gegenüberstehen, beherrscht das zeitgenössische Denken ‚außerhalb und ‚innerhalb der Kirche und bestimmt den Rahmen des kirchlichen Handelns, den Zweitakt der Sammlung, des Herausrufens der Gläubigen aus ihren gesellschaftlichen Bindungen, und der Sendung, des Hineinschickens der Gläubigen auf die vielfältigen Felder der funktionalen Gesellschaft“ (1964, S. 16). Matthes hält diese Sicht für falsch und empfiehlt, sich aus der Vorstellung zu befreien, als ob der Gesellschaft als Objekt die Kirche gegenüber stehe. Was geschichtlich geschehen sei, sei die Folge der Emanzipation der Kirche aus staatskirchlichen Verhältnissen. Man dürfe diese Emanzipation nicht zu einer Emigration umdeuten oder gar zu machen versuchen. Für Matthes stellt sich hier im wesentlichen ein Wahrnehmungsproblem, ein Problem, das die kirchensoziologische Arbeit und die Praktische Theologie weiter beschäftigen sollte. Dies geschah dann jedoch nicht freiwillig oder aufgrund intensiver Wahrheitssuche, sondern weil gesellschaftlicher Druck die lieb gewordene Sicht der Dinge nicht mehr weiter zuließ. Darüber ist im folgenden Abschnitt zu handeln.