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Experiment mit Bilsenkraut - Besuch auf dem Friedhof

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Nach ‘ner milden Nacht erwachten wir anderntags in der taunassen Wiese. Ich kroch als erster aus dem Schlafsack ins Gras, dann folgte Dieter. Der hat gleich gefragt, ob wir nicht ‘nen kleinen Abstecher nach Norden machen könnten, bevor‘s Richtung Spanien ging? Dort oben in dem Dörfchen Auvers an der Oise, liege ‘n guter Freund von ihm begraben, an dessen Ruhestätte wollt er ‘nen kollegialen Gruß hinterlegen. Hab mich gewundert, was Dieter wohl für ‘nen Kumpel, ausgerechnet hier in Frankreich, haben könnte, hab aber nicht weiter nachgebohrt. So packten wir umständlich zusammen und brachen stärker verkatert auf als sonst immer.

An der ersten Bäckerei deckten wir uns wieder mit diesen meterlangen Baguettes ein, die wie Baseballschläger aus‘n Satteltaschen herausstakten, und dann brummten wir nordostwärts in ‘ne Gegend rein, die aussah wie die zwischen Schwanheim und Höchst.

In Pontoise meinte Dieter, hier hätt ‘n gewisser Cezanne gewirkt und ‘n Teufelskerl namens Pissarro wär da mit Gauguin herumgeturnt - die wär‘n aber längst tot und begraben. Dieter hat manchmal so ‘nen Hang zu Leuten, die sich längst die Radieschen von unten angucken - ich glaub manchmal, mit dem nimmt‘s kein gutes Ende.

»Diet, diet«, machte Dieters Hupe.

»Diet, diet«, klang‘s fröhlich in den jungen Morgen.

Wir schnurrten dahin wie die Hummeln.

»Warte mal, Kurti, halt ma an!«

Ich kam zum Stehen, wendete die Karre und rollte langsam zurück. Dieter war schon abgestiegen. Seine Karre lag mitten aufm Weg, im Dreck. Dieter stand gebückt am Feldrain und wühlte beidhändig in irgendwelchem Unkraut. »Bilsenkraut«, hör ich ihn murmeln. »Hyoscyamus niger … des Bilsenkrauts schwarzer Wahnsinn!«

Er begann wie beknackt, die kleinen, braunen Fruchtkapseln von ‘ner zottigen Staude abzurupfen und in die Taschen von seiner Kutte zu stopfen. »Da kriegste Visionen von, da denkste, du fliegst! Ham sich die Hexen früher unten rangeschmiert, bevor‘s zum Teufel ging - Mensch - dass ich das nochmal finden würde - Wahnsinn! einfach Wahnsinn -; hier halt doch mal, Mensch, nimm doch mal ab …«

Ich war so verdutzt, dass ich zugegriffen hab, bis ich selber beide Hände voll hatte.

»Fast so gut wie Stechapfel, kann ich dir sagen, und doppelt so stark wie Tollkirsche! Junge, Junge, Junge, jetzt sollste mal sehen, Kurti, jetzt zeigt dir der olle Dieter mal, wie man abhebt!«

Hab ich ‘n Moment aufgehört mit Pflücken und das Ding etwas genauer unter die Lupe genommen. Hässliches Geschöpf und fast so lang wie Dieter. Die dunkelgrünen, stinkigen Blätter war‘n mit ‘nem widerlich klebrigen Pelz aus weißen Haaren überfilzt, die kränklich gelben Blüten von violetten Adern durchzogen; mir kam‘s vor, als würd das seinen Lebenssaft direkt aus der Hölle aufsaugen.

»Pass auf, Kurti, wir fahr‘n noch ‘n Stückchen weiter, bis wir die Türme von Auvers sehn, dann packen wir den Kocher aus.«

Wir schwangen uns in den Sattel. Dieter grölte hinter mir her, als hätt er Geburtstag und war am Schlangenlinienfahren, als hätt er schon jetzt nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Als er den Kirchturm von Auvers erkannte, zogen wir links rüber und parkten unter ‘nem Feldahorn. Während ich meinen Goldstrahl gegen das Dörfchen richtete, fummelte Dieter schon den Kocher aus‘m Gepäck. Schraubt den Deckel ab, gießt Spiritus rein, gibt Feuer und knallt die Pfanne drauf. »Haste mal ‘nen Trichter da oder so was ähnliches?«, grölte er, auf der Erde kniend, »sonst geht das Beste noch daneben.«

Trichter hatt ich nicht aber ‘ne zusammengedrehte Bild. Gab ich die ihm hin, und da hat er mich auch gleich aufgefordert, ebenfalls niederzuknien. Dann nahm er paar Kapseln, hielt sie über die Pfanne und zerdrückte sie zwischen Daumen und Zeigefinger, bis der Deckel von den Kapseln absprang und ‘ne Masse winziger runder Körnchen rausrieselte wie aus ‘nem Salzstreuer. Kaum das heiße Blech berührt, fingen die Körnchen zu singen und zu zischen an, hüpften durcheinander wie ‘n Flohzirkus, färbten sich dunkelbraun und qualmten drauflos. »Beeilung!« Dieter hielt mir ‘ne Papiertröte vor die Nase, nahm selber eine und kommandierte: »Einatmen, tief einatmen und Luft anhalten …«

Also jetzt hätten die uns mal sehn sollen, die Kumpels von der Schicht! Da knieten wir zwei ausgewachsene Kerls, wie zu ‘nem Feldgottesdienst vereint, hielten den Rüssel über ‘ne Bratpfanne und war‘n fürchterlich am Husten.

Zuerst hab ich nicht viel gemerkt von Fliegerei. Nur kratzig war‘s im Hals, und in der Nase brannte es, als wär ‘ne mittelprächtige Grippe im Anzug. Doch irgendwie schwer und süßlich lockend drang der Bilsendampf in meine Lunge. Und dann ging‘s ab wie Schmidts Katze! Ich begann mich seltsam leicht zu fühlen. Mein Kopf schien zu schwellen und sich vom Körper zu lösen, als wär er nichts weiter wie ‘n Jahrmarktsluftballon. Gleichzeitig hatte meine Pumpe angefangen zu wummern wie nach ‘ner durchsoffenen Nacht und fünf Kannen Kaffee hinterher. Als ich mit tränenden Augen aufblickte, sah alles irgendwie verändert aus. Jeder Grashalm, jedes Laubblatt, jede Wolke war von so ‘ner dünnen Linie aus Licht umgeben und hat dadurch ‘ne unheimliche Klarheit gewonnen. Die Farben der Felder, des Himmels, der Büsche wirkten viel intensiver, irgendwie plastisch und aufgebläht. Mir wurd‘s elend schwindelig, und wie ich mich aufrappeln will, dreht sich die gute alte Erde unter mir weg und will in ‘nem grauen Strudel verschwinden. Ich wollt sie zu fassen kriegen, aber konnt sie nicht anhalten - die drehte sich nur umso schneller. Da bin ich zum Ahorn rüber getorkelt und hab dem das ganze Frühstück vor die Füße gespuckt.

Dieter blieb noch vor der Pfanne hocken. Ich konnt ihn keuchen und röcheln hörn, und dann hat er so ‘n Gebrumm ausgestoßen - so tief aus‘m Bauch heraus - man konnt richtig Angst dabei kriegen. Und dann ist er zusammengeschrumpft, winzig klein, zu ‘nem Rumpelstilzchen mit feuerwehrrotem Zorngesicht. Über seinem Kopf stieg ‘n Ring in die Höhe, schwebte da auf und ab und blieb schließlich zitternd stehn wie ‘n falscher Heiligenschein. Aber nicht lange blieb der da, der ist mitsamt seinem Besitzer hintenübergekippt, als der das Gleichgewicht verlor.

Ich ließ den Baumstamm los, taumelte hin und hab ihn bei den Schultern gerüttelt und geschüttelt - doch lag er stumm und hatt die Augen aufgerissen. Da gab‘s nicht ‘ne Spur von Iris mehr drin, nur noch Pupillen wie ‘n schwarzes Loch im All.

»Herr, du mein lieber Gott«, lallte Dieter. »Dies irae - dies illa - Ritter, Tod und Teufel … der Schnitter Tod … Hüt dich, schönes Kindelein …«

Der hat nicht die Spur mehr gepeilt. Und dazu ist ihm die Schweißbrühe über die Stirn geflossen und Schaum aus‘m Mund gequollen. Dann begann er mit der rechten Hand Zeichen in die Luft zu schreiben und faselte ‘nen Stuss zusammen, den will ich hier lieber nicht aufschreiben.

Was war das für ‘n Zeugs, dieses Bilsenkraut? Wie hat der davon gewusst? Und wie hab ich nur mitmachen können bei dem Blödsinn? Zu spät! Auf alle Fälle war‘n wir vergiftet, krank. Vielleicht würden wir sogar dran krepieren!

Ich hab versucht, in den Sattel zu steigen, wollt ins Dorf, Hilfe holen, bin aber gleich wieder runtergekippt. Dabei muss ich wohl die Besinnung verloren haben, denn es wurd zappenduster um mich her.

Als ich erwachte, ging‘s mir etwas besser. Die Übelkeit war verflogen, nur tat mir die Rübe weh, und ich war wacklig auf den Beinen wie ‘n Tattergreis. Dieter saß noch. Saß da im Schneidersitz, und blies in seine Mundharmonika - zum ersten Mal auf dieser Reise: Ich hatt einen Kameraden… Ich gab dem Kocher ‘nen Tritt, dass die Pfanne scheppernd ins Kraut hüpfte; ich gab Dieter ‘nen Schubs, dass er vornübergekippt ist und ihm die Mundorgel mit ‘nem schrägen Akkord von den Lippen flutschte. Hab meinen kompletten Wortschatz durchwühlt und dem klarzumachen versucht, was ich von solchem Schwachsinn halten würd, und dass er sich nächstes Mal wen anders suchen könnt.

»Okay«, sagt er in so ‘nem Ton, als wär er nicht Dieter. »Okay, okay, okay - is ja schon gut Mann. Reg dich bloß nicht auf, Mann, mir geht‘s blendend - ganz ausgezeichnet geht‘s mir!«

Wie dem seine Augen dabei geglüht haben! Sülzt er weiter: »Mein lieber Kurti«, - so von oben herab - »wie dir scheinbar entgangen ist, handelt es sich beim Bilsenkraut um eine uralte Zutat der Bierbrauerei. Du trinkst doch auch gern mal ‘n Pils - tuste doch, oder hab ich mich da geirrt? Haste Malzbier geschluckt all die Jahre, und ich hab‘s nicht mitgekriegt?«

Hat der mir ‘ne ohrenklingelnde Vorlesung gehalten vom Mittelalter und von böhmischen Gärten, wo‘s Bilsenkraut von Klosterbrüdern gepäppelt wurde, weil die ganz genau gewusst hätten, wie man ‘nem Dünnbier die rechte Würze beibringt; weil das ganze Kerle gewesen wär‘n und nicht so ‘n Weichei wie ich.

Nachdem er sich leergequasselt hatte, haben wir uns irgendwie zusammengerauft, alles wieder hübsch aufgesammelt und verstaut. Dann versöhnten wir uns mit zwei Dosen Bier und sind losgeschwankt, dem Dorf entgegen.

Kurz vor Auvers kam uns wieder ‘n Hund in die Quere - ‘n rabenschwarzer Pudel - war aber so winzig, dass ich glatt drübergerollt bin und noch nicht mal ins Schlingern kam. Dieter machte ‘nen Riesenaufstand und wollt das Vieh aufladen und aufn Friedhof mitschleifen, aber ich hab mich geweigert. Da hat er feuchte Augen gekriegt und gejammert: wie einer nur so hartherzig sein könnt und wie er‘s nur all die Jahre nicht geschnallt hätt, was für ‘ne Sorte Mensch ich wär?

Auvers ist ‘n ziemlich kleines Kaff in ‘ner Senke. Ringsum von Kornfeldern umgeben, liegt es in der Sonne, und rosa Wolken ziehen drüberhin. Wir sahen kaum Menschen in den Straßen; es war mollig warm, beinah frühsommerlich.

Am Dorfbrunnen stießen wir auf ‘nen Kerl vor seiner Staffelei, der malte mit Wasserfarben. Dieter schien ihn zu kennen, denn er sagte freundlich: »Bon jour, Monsieur Daubigny!« Worauf der lachte, die Achseln zuckte und mit dem Finger auf die Kirche zeigte.

Die Kirche war ‘n graues Ungetüm mit ‘nem stumpfen Turm und irgendwie nach außen geschwollenen Mauern. Außerdem stand sie leicht schief, als würd sie auf weichem Boden schwanken. Die Turmuhr schlug ‘n rostiges 11 Uhr, ein Schwarm Dohlen stürzte durch das gotische Fenster ins Freie, kreiste dreimal um den Turm und flog rüber zu den Getreidefeldern. Gleich hinter der Kirche zog sich ‘n Acker den Hügel hoch, der war voller Mannstreu und Mohnblumen. Und dann kam der Friedhof.

»Warte«, sagt Dieter, »‘nen kleinen Moment noch.« Und kramt seinen Zeichenblock raus und haut mit wenigen Kugelschreiberstrichen die Kirche runter, rollt ‘s Papier zusammen - und dann: »Jetzt bin ich bereit!«

Was der für ‘nen Glanz in den Augen hatte! Als ob er sich fürchterlich auf was freuen würd. Wir haben die Böcke an die Friedhofsmauer gelehnt, das Tor aufgesperrt, und Dieter ist voran gepilgert mit eingezogenem Kopf und ganz vorsichtigen Schrittchen, als wenn er achtgeben müsst, dass keiner da aufwacht.

Ich tappte hinterdrein, immer den Kiesweg entlang, bis zur hintersten Ecke. Dicht an der Mauer zwei Grabsteine. War‘n kaum zu erkennen, so dick hatte der Efeu die eingesponnen.

Dieter steht ‘n Weilchen rum, mit betenden Händen, und sagt nichts. Dann verneigt er sich plötzlich, kneift die Augen zusammen - und rammt sich den Kugelschreiber ins Nasenloch! Das Blut läuft auf die gerollte Zeichnung, tropft aufn Efeu, tropft auf den Leichenstein. Dieter sinkt auf die Knie, lacht und heult wie verrückt, und ich konnt den gar nicht ansprechen, der hat nicht die Spur reagiert.

Ich riss ‘ne Efeuranke runter, und als ich die Inschrift entziffert hatte, konnt ich mir halbwegs ‘nen Reim auf Dieters Gehabe machen. Stand da, ziemlich verwittert:

ICI REPOSE

VINCENT VAN GOGH

1853 - 1890

Das Nachbargrab, so dichte bei wie ‘ne Doppelbetthälfte, wollt ich gar nicht wissen. Vermutlich dem Maler seine Frau.

Dieter hat sich aufs Grab draufgeschmissen, als wollt er‘s beschützen, hat mit den Händen im Efeu rumgewühlt, hat weiter geblutet und gelacht und geheult und dabei die Stiefel verloren, weil er dazu mit den Beinen um sich geschlagen hat.

Bin ich zu meiner Maschine gerannt und wieder zurück und wieder zur Maschine und wieder zurück, weil ich nicht gewusst hab, was ich machen soll. Hab mich endlich an den Pfeffer erinnert, doch wie ich damit ankomm, liegt der Dieter schon still und ist ganz ruhig am Atmen und Vor-sich-hin-flüstern, von einer gewissen Aline und ‘nem Doktor, der Gachet hieß - oder so ähnlich.

Ich hielt‘s nicht länger aus und hab mir gewünscht, ich säß gemütlich in der Fabrik, neben meinem Rührwerk, und würd schön aufpassen, dass nichts überkocht - das hab ich mir sehnlich gewünscht und noch paar Sachen dazu; nur aufm Friedhof bleiben wollt ich nicht mehr und mir das angucken. Ich mir ‘n Herz gefasst und tief Luft geholt und ein Letztes probiert. Wie ‘nen Kartoffelsack hab ich ihn hochgezogen und ihm zwei, drei Ohrfeigen runtergeschmiert und mehrmals um seine Achse gedreht.

Da hört er zu Flüstern auf und legt dafür los mit Kreuzeschlagen - Da hab ihn machen lassen. Bin runter zur Mofa, hab den Motor angetreten und weg. Ich steuerte die nächstbeste Bar an, ich brauchte dringend paar gesunde Leute in meiner Nähe.

Die Bar lag gegenüber vom Rathaus, ‘nem weißen Kasten, der vollgehängt war mit Fahnen und Wimpeln in den französischen Nationalfarben. Eine Blaskapelle lärmte auf dem Rasen davor und aus den blühenden Kastanien schneite es weiß herunter auf die blauen Uniformen - ich kann‘s heute noch deutlich vor mir sehen, weil‘s mir damals so fremd erschien wie alles in diesem Dorf.

Da stimmte nichts. Die Jahreszeit war falsch, die Leute rannten in altmodischen Klamotten herum, und nicht ein Auto tuckerte durch die Straße. Der Schrankraum von der Kneipe war schwefelgelb ausgeleuchtet von drei Gasfunzeln, die an der Decke über ‘nem Ungetüm von Billardtisch baumelten. Die Wände war‘n blutrot und grün gestrichen, und die Dielenbretter liefen auf schwindelerregende Weise in einem Punkt zusammen. Sah aus wie ‘n Ort, wo man den Verstand verlieren, ein Verbrechen begehen könnte.

Kaum Leute da. Nur ‘n schlafender Penner mit dem Kopf aufm Tisch und zwei Billardspieler mit bleichen Gesichtern. Und der Wirt, ein halbnackter, haariger Affe im Unterhemd, ‘ne dreckige Schürze vor den Bauch gebunden. Und hinten, neben ‘ner hellgrünen Kommode mit ‘ner giftgrünen Blumenvase mit Rosen, ein buckliges Mädchen. Es hockte vorm Klavier und tippte mit dem Zeigefinger auf den Tasten herum. Klang irgendwie schüchtern und mitleiderregend. Das Mädchen steckte in ‘nem nachtblauen Puppenkleid, ihre weiß-blonden Haare hatte sie mit einer riesigen, altmodischen Schleife zusammengebunden. Sie trug schwarze Puppenstiefel und schien mir blutarm, so bleich schimmerte auch ihr Gesicht. Die Billardspieler kasperten um den Tisch herum, lachten, schimpften, lochten ein, klapperten mit den Queues, wetzten die Kreide. Obwohl sie französisch sprachen, verstand ich jedes Wort.

Mir kam das alles immer seltsamer vor, fast wie ‘n Traum.

»Wer ist die Kleine?«, hör ich mich auf Französisch fragen. »Was hat die in so ‘nem Laden verloren?«

Einer der Spieler antwortet: »Is die Tochter von Ravoux, is doch die kleine Aline. Hat ‘n bisschen Kummer: Ihr Liebster hat sich vor paar Tagen erschossen. Gleich hinterm Dorf. Mit der Pistole vom Doktor … direkt durch die Brust. Starb drei Tage später hier oben unterm Dach. Riesenschweinerei! Der Bursche war nicht ganz dicht, wenn Sie mich fragen. Nannte sich Maler, hat sich seit Mai hier im Dorf herumgetrieben und der Kleinen den Kopf verdreht und der Tochter vom Doktor auch. Jetzt ist er hin, und die sitzt immer nur am Klavier da hinten und kriegt keinen Ton mehr raus und tut nichts mehr. Totaler Verdienstausfall. Und ‘ne zweite Tochter hat der Alte nicht.«

Na, denk ich, geh mal rüber, dir die Puppe bisschen näher begucken. Schnapp meinen Stuhl, marschier zum Klimperkasten, setz mich neben sie, und die spielt immer weiter »Pling, pling« und seufzt dabei ganz erbärmlich und wackelt mit dem Kopf. So ‘n richtiges Spitzmausgesicht hatte die und ganz alte Augen. War trotzdem höchstens fünfzehn oder sechzehn.

»Magst ‘ne Limonade?«, frag ich.

Keine Antwort - nur »Pling, pling, pling …«

»Magst ‘n Schluck von mir?«

Kopfschütteln. »Bitte, Monsieur, ich kann nicht. Ich kann‘s heute nicht. Gehen Sie wieder - bitte … bitte!«

»Wirst du wohl etwas freundlicher zu dem Monsieur sein? Hast lange genug geschmollt in deiner Ecke … Nun sei mal ein braves Mädchen!« Der Wirt war hinzugetreten. Im Unterhemd stand er da, die nackten Arme bis an die Schultern schwarz behaart wie ‘n Tier. »Zeig dem Monsieur jetzt das Zimmer und mach keine Zicken!«

Ich wollt eben sagen: »Ich will gar kein Zimmer«, da steht die Kleine auf, und die Tränen laufen ihr nur so übers Gesicht. Macht ‘nen Knicks, reicht mir die Hand und piepst: »Bitte sehr, ich bin bereit.«

War neugierig, was das zu bedeuten hatte und ließ mich aus der Stube hinausziehen.

Wir waren eben die halbe Treppe hoch im Stiegenhaus, da hör ich plötzlich so ‘n Lärmen im Flur unten und Stimmen. Und da seh ich im Handgemenge den Dieter herumfuchteln, mit der Luftpumpe in der Hand. Schreit er: »Wo ist mein Bruder? Ich will meinen Bruder sprechen! Lasst mich los, ihr verdammten Lümmel …« Und ruft einen Namen - meiner war‘s nicht - und reißt sich endlich los und kommt die Treppe hochgepoltert. Und da erstarrt er plötzlich, als er die Kleine neben mir sieht, stottert herum, kriegt kein Wort mehr raus. Und die Kleine genauso will was sagen und kann auch nicht. Auf einmal fliegen die beiden aufeinander zu sich in die Arme; schmeißen sich gegen das Treppengeländer, schluchzen drauflos und heulen sich was vor und beachten mich nicht mehr; lassen mich dumm stehen und verschwinden in ‘ner Dachkammer; machen die Tür hinter sich zu und sind nicht mehr rausgekommen.

Mich hakten zwei Kerle unter und bugsierten mich nach unten. Der Wirt schlug mir seine Pranke auf die Schulter, lachte dröhnend und schob mich zurück in die Gaststube, wo er mir befahl, an der Theke Platz zu nehmen.

»Sehen Sie, Monsieur, es geht schon wieder bergauf mit ihr, so gefällt mir das viel besser. Und ich dachte schon, die würd ewig so da vorm Klavier versauern. Ist der komische Bursche da ihr Freund? Sieht fast so aus wie der übergeschnappte Schmierfink - Ja, ja, das Herz - das Leben. Das Leben siegt immer!« Dann schmiss er ‘ne Lokalrunde nach der anderen, bis ich vom Hocker gesackt bin.

War dunkel draußen, als ich mich an einem der Tische wiederfand. Sie spielten wieder Billard, aber der Platz am Klavier war leer.

»Sie bleiben doch über Nacht, Monsieur?«, fragte der Wirt, indem er sich mit der Schürze die Nase putzte. »Heut Abend gibt‘s gebratenes Herz - Cœur, verstehen Sie?« Dabei patschte er sich mit der rechten Faust auf seine fette, linke Brust.

»Moment«, sag ich. »Muss erst mal wohin.«

Trat vor die Tür. Im Garten vom Rathaus war Lampionfest mit Musik und Tanz. Neben der Tür, vor Ravoux‘ Gasthaus, lehnte neben meiner die hochbepackte Mofa von Dieter an der Wand. Und Dieter war oben im Zimmer?

»Ja«, sag ich, als ich zurück bin, »ich bleib wohl die Nacht, falls Sie noch ‘ne Kammer für mich haben. Und Herz ess ich auch mit.«

Dieter kein Herz, er drückte eins an sich. Ich verdrückte also ‘ne Riesenportion Ragout und drei Omeletten, spülte mir noch ordentlich einen zur Nacht rein und ließ mir endlich meine Kammer anweisen. Die lag auch unterm Dach, wie die von Dieter, war eng und muffig, und nur ‘n wackliges Bett stand drin und ‘n Waschtisch mit ‘nem altmodischen Krug.

Legte mich aufs Ohr und grübelte so im Dustern. Nebenan tolles Gekicher und Gejuche: »Vincent, mein Vincent«, und »Ja!« und »Oh!« und solche Sachen. War ja ‘ne Schau, was da abging. Dieter als Herzensbrecher. Vom Null auf Hundert. Auf den ersten Blick! Das gibt‘s doch gar nicht, das kann doch nicht möglich sein! denk ich. Als ob zwei sich nach langer Trennung endlich wiedersahen.

Stand ich, standen wir noch immer unter der Wirkung von Bilsenkrauts schwarzem Wahnsinn? Hatten wir dauerhaft den Verstand verloren? So konnt‘ ich jedenfalls nicht einschlafen. Nochmal runter an meine Karre, mir ‘ne Buddel Doppelkorn gekrallt, und, nachdem ich mir einige kräftige Schlucke als Medizin verordnet hatte, driftete ich lustumkichert ins Reich der Träume.

Anderen Morgen Katzenwäsche in der Schüssel. Kleidete mich an und lauschte an der Wand. Nichts.

Ging runter in die Gaststube. Noch keiner da, außer dem Wirt, der Kaffee aufbrühte und in einem fort gähnte. Gab ‘n Frühstück in Auftrag und vertrat mir inzwischen die Beine, vor der Tür. Und: Seh nur noch meine Karre an der Wand lehnen. Die von Dieter war weg!

Ich renne rauf, klopf an der Tür, klopfe zweimal, klopfe dreimal und reiße die Tür auf - und da ist niemand mehr! Da liegt nur ‘n Zettel aufm Nachttisch. Und was les ich?

Lieber Theo, es tut mir leid, sind abgereist. War schön mit dir, und tausend Dank nochmals für das viele Geld, das du in mich investiert hast - aber alles hat seine Zeit. Sei nicht böse mit mir und lebe wohl. Dein Vincent.

Ich stand da, wie vorn Kopf geschlagen. Steckte den Zettel in die Tasche, ging zitterig runter, verschlang das Frühstück, und rauf auf die Mühle und ab die Post. Die Turmuhr schlug sieben.

Wie ich an die Ortsgrenze komme, steht da ‘ne riesige Kastanie. Die zum Ort gewandte Seite war ganz dunkelgrün belaubt, und weiße Blütenkerzen war‘n darin am Leuchten. Die andere Hälfte, nach Westen hin, sah völlig normal aus, nämlich herbstlich braun und gelb verfärbt. Pralle Igelfrüchte hingen an den Zweigen oder lagen schon aufgeplatzt im gefallenen Laub. Und ich hatte so ‘n Gefühl, als würd was von mir abfallen, als wär ich neu geboren.

Ich rollte so sachte durch ‘ne frühherbstliche Gegend, passend für September. Ein Citroën kam mir entgegen, die Felder lagen größtenteils abgeerntet und umgepflügt - da hab ich gewusst: der Spuk war vorbei und bin ganz locker geworden, als würd nun alles gut werden.

Erreichte die Stelle, wo wir gestern (oder war‘s vor hundert Jahren?) unterm Baum experimentiert hatten.

Und wer hockte dort neben dem Spirituskocher, blies die Mundharmonika und machte Wasser heiß?

»Na, wo bleibste denn, alter Schwede?«, ruft Dieter. »Mach hin, Kaffee ist fertig!«

Dieter sitzt also unterm Ahorn, hat sich so ‘nen Propellerflügel auf die Nase gekleistert, wie ‘n Kind, und ist ganz quietschvergnügt. Will sich an nichts erinnern, fummelt aber an ‘ner Haarschleife herum.

Frag ich: »Wo isse denn hin, deine Herzensdame? Wo haste sie denn versteckt? Rück nur raus mit der Sprache, vor mir brauchste keine Geheimnisse zu haben.«

»Weg isse! Plötzlich hat sie nicht mehr hintendrauf gesessen. Abgehauen wird sie sein, ins Dorf zurück, wohin sonst?«

»Und die Schleife hat sie dir dagelassen als Erinnerung, wie?«

»Muss wohl so sein, sonst hätt ich die ja nicht.«

Mehr hab ich nicht rausgekriegt aus dem, und so haben wir die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Dieter hat mir noch versprochen, die Finger von Drogen zu lassen, solang ich mit dabei wär, und damit hatte sich‘s.

Wie wir so westwärts weiterschnurrten und die Sonne so schien und die Leute auf den Feldern arbeiteten und wir‘s nicht mussten - da sind wir wieder richtig gut drauf geworden.

Ich und Dieter nach Afrika

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