Читать книгу Ich und Dieter nach Afrika - Wolfgang Manfred Epple - Страница 8
Der Schneckenzwerg mit sieben Schneewittchen
ОглавлениеKurz bevor‘s mit den Vororten von Paris richtig losging, wollten wir nochmal ‘nem menschlichen Bedürfnis nachgehen und sind dafür in so ‘nen versteckten Seitenweg eingebogen - man konnt ihn kaum sehn von der Straße aus. Von ‘ner Pappelreihe gesäumt, endete der vor ‘ner alten Villa. Niemand schien drin zu wohnen, denn fast sämtliche Fensterscheiben war‘n kurz und klein geschlagen, und das Dach war durchlöchert wie ‘n Schweizer Käse, den zusätzlich ‘ne Schrotladung geimpft hatte.
Als wir absteigen wollten, wussten wir nicht, wo hintreten - der ganze Boden war übersät mit ‘nem Teppich leerer Schneckenhäuser; und je näher wir zu dem Haus vorrückten, desto dichter lagen die Dinger. Komischer Laden. Unheimliche Stimmung. Nur dieses Bersten von Kalkgehäusen unter unseren Stiefeln und dazu so ‘n leises Grillengezirps ringsum. Kreideweiß stand die Ruine vor ‘ner zinn-grauen Wolkenwand, in der es heftig blitzte, aber kein Donner rausgepoltert kam.
Knirschend tappten wir vorwärts. Die Treppenstufen zum Portal rauf lackierte ‘ne dicke Schicht aus getrocknetem Schleim, vermischt mit Kalksplittern.
Ich hämmerte an die protzige Holztür. Keine Reaktion. Danach Dieter: immer noch keine Antwort. Wichen paar Meter zurück, latschten um die Ecke und steckten plötzlich in ‘nem wildverkrauteten Garten drin. Wie verirrte Kleinkinder standen wir zwischen himmelhohen Sonnenblumen mit schwarzen Gesichtern und ‘nem Urwald aus Lampionblumen, Stachelbeeren und Brennnesseln. Die stanken durchdringend nach warmer Katzenpisse, und außerdem war‘n sie mit weißen Gespinsten überzogen, worin fingerlange Raupen wie unter Schmerzen herumzuckten. Die Skelette mehrerer uralter Kirschbäume verrotteten in Gesellschaft einer Horde wüster Vogelscheuchen, für die‘s hier nichts mehr zu tun gab, nach unserer Einschätzung. Die Scheuchen trugen Umhänge und Halsketten und ‘nen Kopfputz aus leeren Schneckenhäusern und kamen uns vor wie die verzauberten Teilnehmer von ‘nem afrikanischen Schamanenkongress.
Konnt die Augen nicht losreißen davon, bis ich Dieter warnen hörte, wir sollten hier abhauen, es würd gleich mit Regnen anfangen. Tatsächlich schmetterten jetzt einzelne schwere Donnerschläge. Die Sonne war nochmal mit Macht durchgebrochen, war schmerzhaft am Blenden, so grell, da sind die Wolken hinterm Haus beinahe pechschwarz erschienen. Doch kein Lüftchen war zu spüren, dafür zirpten immer mehr Grillen im Chor.
Weil‘s immer noch trocken blieb, streiften wir weiter durch den Garten bis auf die Rückseite der Villa.
Unter den Stachelbeer- und Pissgeruch hatte sich ‘n weiteres Aroma reingemischt, das stank irgendwie metallisch-feucht wie Kupfermünzen in ‘ner schwitzigen Hand. Und dann prallten wir auf ‘ne Reihe Holzbaracken. Zusätzlich zum Grillenkonzert war‘n jetzt noch andere Geräusche zu hör‘n. Ein seltsames Saugen und Schmatzen und Sabbern kam durch die lückigen Bretter gekrochen, und Dampfschwaden fauchten durch rostige Röhren aus ‘m Teerdach oben raus. Wir hörten auch Gläserklirren, die Stimme von ‘nem Kerl und Weibsgekicher.
Riskierten ‘nen Blick hinter die Baracken, und da wurd‘s noch seltsamer. Ein langgestreckter Weinberg zog sich da drüben hin, und zwischen den Rebstöcken war ‘ne Anzahl Weiber in langen weißen Kleidern in gebückter Haltung am Herumschleichen. Die sammelten irgendwas auf und warfen es in die geflochtenen Kiepen hinter ihren Rücken. Keine von denen hätt der Kurti von der Bettkante gestoßen, so lecker wie die aussahen mit ihren ebenholzschwarzen langen Haaren und rote Bäckchen und blauen Augen - waschechte Schneewittchen eben -, das fand auch der Dieter. So vertieft sind die in ihre Arbeit gewesen, dass sie uns nicht bemerkt haben, wie wir die mit Stielaugen anglotzten.
Da steckte Dieter zwei Finger ins Maul und tat zweimal schrill pfeifen.
Die Schneewittchen erschraken und stoben schreiend nach allen Richtungen auseinander.
Ein mörderischer Donnerschlag haute uns fast aus den Stiefeln, und ‘ne Fallbö kam niedergesaust und fuhr wie ‘ne Riesenfaust in die Pappelreihe. Unter Krachgesplitter ging die halbe Allee zu Bruch, auch der Baum wo unsere Mofas dran lehnten machte den Abgang, indem er halbiert auf den Weg krachte. Die Schneckenhäuser kreiselten wie wahnsinnig umeinander, kollerten wie winzige Totenschädel aufs Haus zu, wo sie sich ruck-zuck an der Treppenkante zu ‘ner Düne auftürmten. Wir nichts wie rüber zum Kellereingang, uns an die Wand gequetscht unter das schmale Vordach. Gebracht hat‘s nicht viel, denn was darauf folgte, war ‘ne wilde Veranstaltung.
Der Sturm war jetzt in einem fort am Brausen. Gewaltige Blitze rissen den Wolkenvorhang vom Horizont weg und entblößten ‘nen schwefelgelben Streifen, der nur eins bedeuten konnte - Hagel! Schon brach der Weltuntergang los. Eisgranaten, groß wie Gänseeier, kamen herniedergeprasselt, zerplatzten in tausend Stücke, und da kapierten wir, weshalb Dach und Fenster von der Villa so ‘n schweizerkäsiges Aussehen boten. Wir drückten uns noch dichter in den Eingang rein und erkannten schemenhaft durch den schmetternden Eissturz, wie drüben die Schneewittchen zwischen die Weinstöcke fielen und es nicht schafften, die schützenden Baracken zu erreichen.
Schlimmer wurd der Hagel und dicker die Eisgeschosse, bloß sind sie allmählich weicher geworden und am Schluss wie nasse Schneebälle zerplatscht. Es war, als hätt sich Frau Holle in ‘nem Anfall von Wahnsinn zum Toben entschlossen. Dann war‘n ihre Vorräte aufgebraucht, und die Sonne kam wieder rausgekrochen und hat gleich mit ‘nem doppelten Regenbogen geprahlt, und ‘n sanfter Regen machte sich über das Gefrorene her.
Wir wagten uns raus und stapften durch Häuschentrümmer und schmelzendes Eis hinüber zum Weinberg. Da sah‘s böse aus. Die Schneewittchen krabbelten im Moddereis herum, hielten sich die Köpfchen und heulten und jammerten und schrien. Eine schien‘s besonders schlimm erwischt zu haben; die lag wie tot aufm Rücken und rührte sich nicht, und der Regen benetzte ihre weitgeöffneten Augen. Und nun erkannten wir auch, was die vorhin in ihre Kiepen gesammelt hatten. Lebende Schnecken waren‘s und angetötete in rauen Mengen. Manche war‘n kurz und klein geschlagen, die Überlebenden aber fuhren ihre Stielaugen aus und versuchten auszukneifen.
Für uns war‘s die Gelegenheit, mal unsere ritterliche Seite an die Frau zu bringen. Ich konnt gar nicht so schnell gucken, so fix war Dieter zu den Böcken geflitzt, um Verbandzeugs aus seiner Packtasche rauszuwühlen.
Kaum war er weg, und ich steh noch doof rum, da gellt mir jemand von hinten feucht ins Ohr: »Was haben Sie hier zu suchen, Monsieur, wer sind Sie, wo kommen Sie her?«
Wie ich herumfahre, steht da ‘n Zwerg unten, der könnte glatt der Großvater von Joopi Heesters gewesen sein. Das heißt: eigentlich stand der gar nicht von allein, der hing mehr in so ‘ner Art Lodenumhang oder Militärmantel (so genau konnt ich das nicht erkennen, weil der vor Dreck ganz steif und starr wegstand). Auf der Platte trug der Alte ‘nen zerbeulten Stahlhelm der guten, alten Wehrmacht, doch war der viel zu groß und wackelte hin und her, wenn der Zwerg nur die Kinnladen bewegte. Das hat er die ganze Zeit über getan, weil er zahnlos ‘ne Knoblauchzehe am Lutschen war.
Ich wollt grad sagen: Wer so ‘nen dürren Hals hat, sollte sich besser ‘ne Nachtmütze aufs Haupt stülpen und artig im Bettchen bleiben, da hab ich mir‘s anders überlegt und gefragt, woran er erkannt hätt, dass wir Deutsche wär‘n?
Lutscht er an seinem Knoblauch, wackelt mit dem Helm und antwortet mit ‘nem Carbidgeruch wie ‘ne olle Fahrradlampe: »An Ihren Mofas hab ich es erkannt, solche Dinger fährt hier kein Mensch. Außerdem wagt sich kein vernünftiger Franzose in unsere Nähe. Und was, bitte, haben Sie auf meinem Anwesen verloren, wenn ich fragen darf?«
Hab ich geantwortet, dass wir nur kurz das Wasser haben abschlagen wollen, doch Blitz und Donner hätten‘s verhindert. Wir würden aber Leine ziehen, sobald wir die Verletzten versorgt hätten.
Fing der Zwergengreis das Seufzen an. »Ja, ja«, hat er gesagt, »von Jahr zu Jahr wird es immer schlimmer mit den Gewittern hier draußen, aber wohin sollte ich sonst? Der Berg ist so ertragreich, da muss man es in Kauf nehmen ... und jetzt entschuldigen Sie mich einen Moment, junger Mann. Muss nachsehn, wie viele Helferinnen mir diesmal verlustig gegangen sind. Gehen Sie ruhig ins Haus, meine Toilette steht in vollem Umfang zu Ihrer Verfügung.«
Er ließ mich stehen und tappte barfüßig in den Weinberg rein. Er beugte sich runter, sammelte Schnecken von den beschmutzten Kleidern ab und warf sie zurück in die Körbe. Er tröstete hier, strich dort über nasses Haar, wischte Blut aus blassen Gesichtern, mit seinem dreckigen Sacktuch. Dabei war er leise am Rumschimpfen. Schließlich reckt er sich hoch, fummelt umständlich ‘ne Stimmgabel aus seiner Manteltasche, schlägt sie an ‘nen Gichtknöchel, fistelt den Kammerton, hebt die Arme wie ‘n Chorleiter, und die Lebenden trällerten drauflos: Die Himmel rühmen …
Dieter kam mit Pflaster und Schere herangaloppiert, blieb aber wie angewurzelt neben mir stehn, als er die komische Vorstellung hörte.
Der Himmel war jetzt komplett aufgerissen, die Regenbogen glühten in sämtlichen Lutscherfarben. Und in dem fast schwärzlichen Himmelsblau erschien weißzuckend ‘ne Möwenschar. Einzelne Vögel lösten sich aus dem Verband und stießen mit heiserem Schrei auf den Gesangsverein runter und stürzten sich gierig auf die zerschmetterten Schneckenkörper.
Unbeeindruckt zog der Alte nun auch noch ‘ne angekaute Blockflöte hervor, und unter den Klängen von He, ho, spann den Wagen an formierte sich ‘ne disziplinierte Polonäse. Im Gänsemarsch bewegte sich der schwankende Zug in Richtung Baracken. Da haben wir geschnallt: den Samariter würden wir uns für ‘ne spätere Gelegenheit aufsparen müssen. Haben wir uns verkrümelt und sind ins Haus.
Innen sah‘s ganz intakt aus, nur waren sämtliche Räume vollgemüllt mit Kriegsmaterial. Also da war der wohl ausgeflippteste Militärmessi am Werk gewesen, den man sich vorstellen kann. Kleiderpuppen in Uniform standen in Kompaniestärke stramm, massig viele Tellermützen aus sämtlichen Armeen der Welt warn an Wandhaken gehängt, verschiedene Helme stapelten sich wie Kochtöpfe in Stahlregalen. In Schirmständern staken scharfgeschliffene Säbel, Degen, Spieße, und überall an den Möbeln lehnten Schießprügel mit und ohne Bajonett; und Tarnnetze warn unter der Decke gespannt, mit Fahnen drin und bunten Wimpeln und Feldzeichen. Und rechts neben dem Fernseher drohte sogar ‘n topgepflegtes 8,8-Flakgeschütz mit seinem Eisenschlund; und als Bodenvasen für krepierte Sonnenblumen dienten blankpolierte großkalibrige Granathülsen. Der Fernseher war an, und was da lief, das passte prima zu der Raumgestaltung. Mehrere Blasorchester, mühsam im Zaum gehalten von ‘nem Dickwanst in roter Weste, versuchte anzulärmen gegen ‘nen lederbehosten Trachtenverein und ‘n blondgelocktes Bürschchen, das seiner Trompete Saures gab. Ein Stückchen weiter hinten schloss sich noch ‘n Zimmer an, das lag ganz in Kerzenlicht. Kriegsgerät war da nicht die Spur vorhanden, dafür sahen wir sieben zerwühlte Betten und konnten uns nicht genug wundern.
Dieter meinte, es wär an der Zeit, mal die Biermarke zu wechseln. Ich konnt nicht mal drüber lachen, so seltsam ist die Sache mir langsam vorgekommen. In dem Augenblick bricht im Kriegszimmer ein Jodelwettstreit los, die Blasmusik verebbte mit ‘nem letzten Tubafurz, und drohend glotzte das Flakgeschütz mit stummem O-Mund zu uns herüber und schien irgendwie anzuschwellen. Aus dem Fernseher stieg ‘n dünnes Rauchwölkchen, die Kerzen im Schneewittchenzimmer fingen nervös an zu flackern; da haben wir uns umgedreht und zugesehn, dass wir‘s Wasser abgeschlagen kriegten.
Kaum war‘n wir fertig - das Klo glich aufs Haar ‘ner echten Latrine -, kommt der Zwergengreis und holt uns ab.
»Kommen Sie, meine Herren, folgen Sie mir. Ich will ihnen jetzt unsere Fabrikationsanlagen zeigen.«
Wir latschten zu den Baracken.
An langen Tischen werkelten die Mädchen, noch triefend vor Nässe und blutverschmiert. Jede hatte ‘nen Weidenkorb neben sich und ‘n scharfes Messerchen in der Hand. An der Seitenwand des Raumes bullerte ‘n mehrflammiger Herd, ein vorsintflutliches Ungetüm aus grauem Gusseisen. Drauf mehrere Kessel verteilt, in denen es wütend blubberte und schäumend überkochte. Überm Herd ‘n Spruch in ‘nem Goldrahmen:
Solange der Schleim aus der Schnecke rinnt,
bin ich dir grün, du liebes Kind.
Und neben dem Spruch hing noch ‘n Rahmen mit ‘nem weiteren Spruch:
Schleimt die Schnecke bei Gewitter
Bleib ich stets der eure Ritter!
»Was Sie hier sehen«, sagt der Alte, indem er an seinem Knoblauch lutscht, »ist das Herz der nördlichen Weinbergschneckenmanufaktur. Für mich arbeiten ausschließlich weibliche Angestellte, weil nur sie in der Lage sind, mit ihren zarten Fingern die wertvollen Mollusken aus ihrer Behausung zu hakeln, ohne den sensiblen Fuß zu verletzen - Mein Patent!«, schmatzte Opa und zwinkerte uns listig zu. »Und das sind alles meine Töchter und Töchtertöchter - ein reiner Familienbetrieb, wenn Sie verstehen …«
Während ich und Dieter Blicke tauschten, öffnete der Zwergengreis kichernd seinen Mantel - und da war nichts drunter!
Ich muss ziemlich dämlich aus der Wäsche geguckt haben, denn die Schneewittchen stießen sich in die Seite und haben drauflosgekichert und wollten sich gar nicht mehr beruhigen.
Der Alte verklickerte uns dann, wie die Viecher auf ihr Ende vorbereitet werden, führte uns zu den Kleiebetten und Salzkisten und all den Gerätschaften, die es braucht, so ‘ne Escargot fertig zu machen.
Der Raum war angefüllt mit ‘nem Brodem aus Zwiebeln und Lorbeer, Thymian, Nelken und Weißwein. Aber dazwischen hing noch was anderes - ein Geruch, von dem einem schlecht werden konnt. Es stank nach saurem Spinat, kaltem Schleim und Kupfermünzen.
Die sieben Schneewittchen machten sich wieder an die Arbeit, und der Zwerg stand da, mit ‘nem verklärten Lächeln unterm Helm, und knetete an seinen Fingern herum und nickte dazu, und sein Hals sah aus, als wollt er jeden Moment abbrechen. Die Schneewittchen hakelten die Unglückstiere aus ihren Eigenheimen und ließen die Messer blitzen. Die Tischplatten glänzten schleimbedeckt im Schein der Neonröhren, sogar an den Tischbeinen lief der Sabber runter. Neben dem Herd, auf ‘nem andern Tisch, füllten zwei Mädels mit ‘ner Schaumkelle die garen Schneckenfüße in Einmachgläser, deckelten zu, pappten Etiketten drauf und sortierten sie in hölzerne Versandkisten.
Der Greisenzwerg wollt nun wissen, ob wir beeindruckt wär‘n?
Na, und ob wir das war‘n.
Dieter war sogar so beeindruckt, dass er versucht hat, eine der schleimigen Prinzessinnen ins Gespräch zu ziehn, doch hat die kein Wort gesagt, hat ihn nur mit ihren kalten Blauaugen durchbohrt und langsam den Kopf geschüttelt. Den Alten hat das so erheitert, dass er wie ‘n Beknackter zu kichern anfing. Dann ist er in ‘nen Hustenanfall reingeschlittert, bis ihm die Lippen blau wurden und ihm der Schweiß auf die Stirn flog.
In Weggehen hat er uns noch hinterhergehustet, von wegen über-Nacht-bleiben, doch haben wir abgewinkt und zugesehn, dass wir die Böcke in Gang kriegten.