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Vom Granatenfieber zum Kriegstrauma

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Wenn in der Psychiatrie ein neues Krankheitsbild entworfen wird, heißt das nicht, dass die Forscher jetzt etwas entdeckt haben, das es vorher noch nicht gab. Es bedeutet eher, dass ein bisher traditionell bewertetes Geschehen jetzt medizinisch-wissenschaftlich beurteilt werden darf.

Ein sozusagen verjährtes Beispiel sind die „Hexen“, die als vom Teufel besessene Frauen angesehen und bestraft wurden, seit der Aufklärung aber als Geistes- oder Gemütskranke diagnostiziert und medizinisch behandelt werden.

Ähnlich wurde das posttraumatische Syndrom lange Zeit moralisch definiert. Im ersten Weltkrieg wurden seine Opfer, die an „Grabenschock“ oder „Granatenfieber“ litten, von den meisten Nervenärzten als „Simulanten“ diagnostiziert und unter Androhung eines Kriegsgerichts wegen Feigheit vor dem Feind an die Front zurückgezwungen.

Im Zweiten Weltkrieg gab es eine Schlüsselszene: Der amerikanische General Patton, ein berüchtigter Haudegen, ohrfeigte in Sizilien einen Soldaten, der wegen eines posttraumatischen Syndroms im Lazarett lag. Der „Feigling“ sollte den „wirklich Verwundeten“ ihren Platz nicht streitig machen. Der Vorfall kam in die Presse; Patton musste sich öffentlich entschuldigen. Der Zeitgeist hatte sich verändert; die kollektive Verleugnung traumatischer Störungen konnte nicht mehr aufrechterhalten werden.

In solchen Veränderungen wirken zwei Strömungen zusammen: einerseits waren schon die Grabenkriege zwischen 1914 und 1918 in einer Weise seelisch belastend, die es vorher, als Schlachten viel rascher entschieden wurden, einfach nicht gab. Daher traten seelische Traumatisierungen bei den Soldaten gehäuft auf, eine wissenschaftliche Diskussion konnte nicht mehr abgewehrt werden, die Psychoanalyse hatte das soziale Klima dahingehend verändert, dass die Hintergründe psychischer Störungen immer mehr Menschen interessierten.

Der wissenschaftliche Respekt vor den seelischen Traumen hängt auch mit der wachsenden Bedeutung des Massenkonsums für die wirtschaftliche Entwicklung zusammen. Die Massenmedien stimulieren in der Konsumgesellschaft die Orientierung am Lustprinzip auf Kosten der Realitätswahrnehmung. Wer in seiner Kauflust stimuliert werden soll, der muss in allen Bereichen angehalten werden, Unlust wahrzunehmen und nach Abhilfe Ausschau zu halten – denn genau in diese Öffnung nach außen stoßen die verführerischen Warenangebote. Spannung und Schmerz werden nicht mehr als sinnhafter Teil des Lebens gedeutet, sie sind Probleme, die nach Abhilfe schreien.

Im für die Konsumgüterindustrie umsatzfördernden Fall werden Spannungen in Nicht-Haben umgesetzt: „Ich habe nichts anzuziehen, ich kann doch nicht ewig das alte Modell fahren.”

Freisetzung von Emotionen lässt sich nicht von Anfang an kontrollieren. Wenn wir Gefühle und Phantasien loslassen, werden die unerwünschten ebenso befreit wie die erwünschten. Das wird gerade in Therapien von sehr angepassten Personen deutlich, die oft davor erschrecken, was alles in ihnen steckt, und die neue Freiheit in ihrem Erleben keineswegs nur positiv finden.

Eine Künstlerin, die als Kind adoptiert worden war, „musste“ immer besonders brav sein, weil die Eltern unbewusst fürchteten, sie würde sonst wie ihre leibliche Mutter, die ihren Lebensunterhalt durch Prostitution bestritten hatte. Wegen schwerer Depressionen begab sie sich in Analyse und berichtete zunächst, sie fühle überhaupt nichts, es sei alles vergebliche Mühe, mit ihr sei nichts zu machen.

Nach einiger Zeit bemerkte sie eine Veränderung, die sie aber keineswegs hoffnungsvoll stimmte. „Ich spüre jetzt wieder Gefühle“, sagte sie verzweifelt, „aber es sind alles hässliche Gefühle, ich könnte um mich schlagen!”

Die freigesetzten Emotionen sind heute „normal“ und bedrohlich zugleich. Unsere Umwelt ist nicht mehr stabil. Wir wissen das, weil wir sie selbst in diese Form gebracht haben. Wenn der Lebensstandard der heutigen USA zum globalen Maßstab würde, bräuchte die Menschheit nicht nur eine einzige, sondern fünf Erden, um sich zu stabilisieren, d.h. nicht mehr zu verbrauchen als nachwächst. In Europa wären es drei Erden, in Indien und China gegenwärtig noch weniger als eine.

Da Chinesen und Inder mit großen Schritten in die Konsumgesellschaft und die Wachstumswirtschaft eilen, ist klar, dass unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem zusammenbrechen wird, wenn wir es nicht verändern. Die Filmemacher haben diese Situation längst in Katastrophenszenarien umgesetzt, in denen entweder Räuberbanden mit allen Mitteln um die letzten Benzinvorräte kämpfen („Mad Max“) oder eine Klimakatastrophe die Freiheitsstatue in eine Schneefrau verwandelt („The Day after Tomorrow“).

Solche Szenarien werden deshalb gemacht und konsumiert, weil sie – ähnlich wie die Horror- und Splatterfilme mit Vampiren, Dämonen und Serienmördern – durch Überreizung der Angst Gefühle der Geborgenheit im Alltag möglich machen. Wer nach einem solchen Szenario in seinem Wohnzimmer um sich blickt oder aus dem Kino auf die Straße tritt, fühlt sich erleichtert, weil ihm niemand an die Gurgel geht. Auch in Bezug auf die Angsttoleranz scheint sich die Gesellschaft zu spalten. Den abgebrühten Horrorkonsumenten, die nichts erschrecken kann, den Angstsüchtigen, die sich mit dem Fallschirm in die Tiefe stürzen, stehen Traumatisierte gegenüber, die aufgrund einer zu niedrigen Panikschwelle solche Bilder unbedingt meiden müssen.

In der therapeutischen Praxis lernt man Personen kennen, die tagelang nicht mehr schlafen können, weil sie so unvorsichtig waren, einen Bruchteil jener Bilder zu sehen, an denen sich andere nicht satt sehen können.

Eine große Gruppe der Generation Angst stellen die Alten. Sie leiden oft besonders darunter, dass sie feststellen müssen, wie wenig sich die Erwartungen erfüllen, der Mensch werde mit dem Alter „ruhiger“, reifer, weniger ängstlich. In Wahrheit wächst die Angst parallel zur Phantasie, die Kontrolle über das eigene Leben, die eigene Umwelt zu verlieren. Das mögliche Gegenmittel angesichts der unweigerlichen Verluste im Alter sind nicht die Kontrolle oder das Ideal der reifen Persönlichkeit, sondern der Humor, der hilft, gelassen mit Schwächen umzugehen.

Wer nicht akzeptieren kann, dass er im Alter ängstlicher wird, und diese Ängste durch Selbstüberforderung oder Selbstüberschätzung abwehrt, steigert sein Risiko, einen Unfall zu erleiden. Spätestens dann wird er depressiv, wenn das nicht schon vorher durch die chronische Selbstüberforderung geschehen ist.

So könnte schon bald in allen zivilisierten Ländern zum Problem werden, was zur Zeit in Holland diskutiert wird: Immer mehr Bürger befürworten dort die aktive Sterbehilfe für jene Menschen, die – ohne körperlich aussichtslos krank zu sein – soviel Angst vor der Zukunft und so wenig Freude am Leben haben, dass sie sterben wollen. In der Gefühlsmischung, welche die Selbstmordwünsche anheizt, spielt die Angst eine große Rolle.

Wer depressiv ist, bringt häufig die Energie und Entschlossenheit nicht auf, sich zu töten oder – wie in Holland – bei Ärzten Sterbehilfe zu beantragen. Wer aber um jeden Preis quälende Ängste vermeiden will, wer sich fürchtet, eine fast überwundene Depression könnte wiederkehren, der ist akut gefährdet.

Während es normal scheint, sich zu freuen, wenn Freunde oder Angehörige aus der schwärzesten Depression auftauchen, wenn sie wieder in Bewegung kommen und nicht mehr wie gelähmt stundenlang am selben Fleck bleiben, raten Fachleute in dieser Situation zu besonderer Vorsicht. Sie wissen, dass jetzt, in diesem von Angstüberfällen durchtönten Grenzgebiet zwischen Depression und Optimismus, die Selbstmordgefahr am größten ist.

Aus der Betrachtung der posttraumatischen Ängste konnten wir ableiten, dass die Gesellschaft „weicher“ geworden ist, Ängste und Angststörungen zunehmend als Krankheiten anerkennt. Traumatisch bedingte Ängste werden nicht mehr als Feigheit entwertet und bekämpft, sondern ernstgenommen und behandelt. Ehe wir genauer untersuchen, auf welchen Wegen die moderne Gesellschaft Ängste produziert, einige Gesichtspunkte zur Evolution der Angst.

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