Читать книгу Lebensgefühl Angst - Wolfgang Schmidbauer - Страница 3
Vorwort
ОглавлениеDas frühkindliche Wesen ist wirklich nicht dafür ausgerüstet, große Erregungssummen, die von außen oder innen anlangen, psychisch zu bewältigen.1
Auf den ersten Blick scheint es paradox. Wahrscheinlich haben die Menschen in Europa noch nie eine so lange Zeitperiode in einem solchen Maß von Sicherheit und Wohlstand gelebt. Hungernöte, Naturkatastrophen, Krieg und Vertreibung sind für die meisten von uns Geschichte oder Geschichten aus einer Vergangenheit, von deren unmittelbarem Augenschein nur noch wenige erzählen können.
Aber die Angst hat viel von dem unscheinbaren Band, mit dem die Götter der germanischen Sage den übermächtigen Fenris-Wolf fesselten, der die stärksten Ketten aus Stahl zerrissen hatte. Dieses Band wirkte harmlos, war aber von einem Zauber durchtränkt, der es immer fester machte, je mehr man es zu zerreißen versuchte.
Es liegt nahe, von einer „Generation Angst“ zu sprechen. Ich verbinde diesen Begriff damit, dass noch nie so viele Menschen soviel zu verlieren hatten wie heute. Sicherheit, Wohlstand, ein hohes Niveau von Konsum und universeller Kommunikation prägen diese Generation. Jeder ist jederzeit potenziell via Handy erreichbar – wer also muss noch Trennungsangst ertragen? Wir sind gegen Einbruch, Diebstahl, Krankheit, Unfall, Prozesse, Hagelschlag, Glasbruch, gegen die Explosion unseres Heizkessels und den Verlust unserer Zahnprothese versichert.2 Aber merkwürdigerweise laufen wir missmutiger durch die Straßen als die Armen im Jemen oder in Brasilien. Das drücken auch unsere Statistiken aus, denen zufolge hierzulande jeder zehnte Mensch zugibt, an mindestens unangenehmen, jeder zwanzigste sogar einräumt, an ernsthaft das Leben einschränkenden Ängsten zu leiden. Die Zahl der Angstkranken, die gar nicht wissen, was sie plagt, ihre Entwicklungsmöglichkeiten lähmt oder sie in Phantasiewelten festhält, dürfte noch erheblich höher sein.
Angst kann sich zu heftigster Qual steigern. Angstkranke, die arge Schmerzen erleiden mussten, etwa nach einem Unfall oder während eines Herzinfarktes, berichten nicht selten, dass sie diesen Schmerz, so sehr er sie auch plagte, der Panikattacke vorziehen würden.
So verwundert es nicht, dass manche Opfer von Ängsten die Angst in Schmerz umwandeln, indem sie sich selbst verletzen, sich mit Rasierklingen schneiden oder Zigaretten auf dem Handrücken ausdrücken.
Angst ist in der Regel nicht gefährlich. Sie entstammt natürlichen Wurzeln und ist im Grunde biologisch sinnvoll. Sie hat, wie der Hunger und die Liebe, ihre Gestalt und ihre Zeit. Sie kann zwar nicht von einem kleinen Kind, in der Regel aber von einem einsichtigen Erwachsenen bewältigt werden – vorausgesetzt, wir erleben sie bewusst, gestehen sie uns ein, nehmen sie als Teil unserer kreatürlichen Ausrüstung und geben ihr nicht mehr Macht, als ihr im Dienst der Liebe zum Leben und zur Freiheit zusteht.
Viel gefährlicher als die Angst ist eine erstarrte Form, sie abzuwehren und sie zu verleugnen, vor allem aber die Suche nach einer Welt, die uns und anderen garantiert angstfreie Räume verheißt, und der Wunsch, diese mit aller Gewalt zu verwirklichen. Demagogen, welche die menschliche Angstneigung ausnützen, versprechen nicht selten, dass wir keine Angst mehr haben müssen, wenn wir erst unsere gegenwärtigen Ängste in Gewalt umsetzen und alle aus dem Weg räumen, auf die wir diese Ängste projizieren.
Dieser Glaube an eine angstfreie Zukunft, die erringt, wer den Sündenbock vernichtet, hat Menschen zu aberwitzigen Grausamkeiten veranlasst, die darauf hinausliefen, alles Ängstigende aus der Gegenwart hinauszumorden, um die eigene Zukunft, das eigene Überleben zu sichern.
Die fatale Mischung aus Angst vor Entartung, Vernichtung der Quellen „unreinen“ Blutes und grandioser Blähung der Phantasie eines zu allem fähigen, alles erreichenden deutschen Volkes hat Hitlers Überfälle auf seine Nachbarn und den Holocaust an Juden, Sinti und Roma motiviert. Alle mörderischen Diktaturen schüren Ängste vor einem Feind und versprechen Sicherheit durch dessen Vernichtung. Viele haben nach 1945 dieses Muster kritisiert, aber die Verführungskraft solcher „Patentlösungen“ ist kaum geschwunden, wie jüngst der Völkermord in Ruanda zeigt.3
Die politischen Extreme der kollektiven Angstabwehr sollen uns hier weniger beschäftigen als die Interaktion zwischen unseren seelischen Grundstrukturen und der kulturellen Evolution schlechthin. Die Angst ist mächtiger und einflussreicher geworden, weil wir mehr und wirksamere Wege zu finden meinten, sie zu besiegen oder ihr zu entgehen. Früher hatten wir, um ein Beispiel zu nennen, dann Todesangst, wenn eine Ader platzte oder ein Knochen brach. Heute müssen wir zittern, wenn wir auf das Ergebnis einer Vorsorgeuntersuchung warten, die in wenigen Minuten einen Zustand subjektiven Wohlbefindens in sein Gegenteil verwandeln kann.
Angesichts der Angst ist die Flucht nach vorne, welche uns Extremsportler, Junkies, Söldner, Hooligans und Jackass-Fans vorführen, so problematisch wie der Rückzug. Dieser wird manchmal als konsumintensives Cocooning4 in der Presse idealisiert. Er führt viele von Prüfungs- und Leistungsangst, Panikanfällen und somatisierten Ängsten Geplagte in die Praxen der Psycho- und Verhaltenstherapeuten. Wie viel Angst hinter Eifersucht, Anklammerungs- und Drohszenarien in einer Partnerschaft oder dem Mobbing am Arbeitsplatz steckt, wird oft erst einer gründlichen Untersuchung des Einzelfalls deutlich.
Wenn sich die Menschen der Moderne vor Abhängigkeiten und engen Beziehungen scheuen, wenn sie eine Liebesaktivität gerne von außen auf sich zukommen lassen, um dann pseudosouverän zu entscheiden, ob sie sich verführen lassen wollen oder nicht – dann hoffen sie, dass derlei Vermeidung ihnen Leid erspart.5 Was aber, wenn niemand vorbeikommt, um sie zu verführen? Neben der Angst vor den Gefahren der Nähe ist das passive, erstmals von Karen Horney6 beschriebene „neurotische Liebesbedürfnis“ die wichtigste Ursache einer unheimlichen Schwester der Angst: der Depression.
Unter Depression verstehen wir nicht nur einen Zustand seelischer Leere und vitaler Bedrückung, der das Leben sinnlos erscheinen lässt und sein Ende ersehnt, sondern auch den Zusammenbruch einer Expansion im Wirtschaftsleben. Auch damit haben wir gegenwärtig zu tun. Wie viele Versprechen über sinkende Arbeitslosigkeit, verlässliches Wirtschaftswachstum und steigende Löhne sind allein in Deutschland in den letzten Jahrzehnten gebrochen worden? Während sie sich über das schwindende Ansehen der Politik und der Politiker beklagen, haben die Sprecher aller Parteien vielfach nichts besseres zu tun, als im nächsten Augenblick wieder genau jene Illusionen zu pflegen, mit denen es ihnen ergeht wie dem Süchtigen mit seiner Droge: Er weiß, dass sie ihn ruiniert, aber er kann darauf nicht verzichten.
Ähnlich ruinieren falsche Versprechungen jede Glaubwürdigkeit – und doch können die Mächtigen des 21. Jahrhunderts einfach nicht auf sie verzichten. Sie können diesen schwarzen Peter nur in immer hilfloserer Wut und Projektion dem politischen Gegner zuschieben, wie die zweifelhafte Neuerung von Untersuchungsausschüssen gegen Wahlkampflügen oder die Zuschreibung der Verantwortung für gemeinsam verschuldete Probleme an den jeweiligen politischen Gegner zeigen.
Was den Umgang mit Angst angeht, ist diese Politik der Verleugnung der eigenen Verantwortung und der Projektion von Schuld nach außen so falsch, wie sie nur sein kann. Der Mensch kann sich an Realitäten sehr viel besser anpassen als an Eventualitäten. Während er angesichts einer greifbaren Gefahr Kräfte sammeln und sich durch zielgerichtete Aktivität von seinen Ängsten ablenken kann, liefern ihn falsche Versprechungen seinen Ängsten aus und führen so auch dazu, dass am Ende die Regierten so abhängig von Lügen geworden sind wie die Regierenden.
„Die Ängste, die das Weniger weckt, sind gerade auch die Kehrseite jenes deutschen Neugründungswunders nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus den moralischen und materiellen Ruinen erschuf Deutschland eine blühende Wirtschaft und eine demokratische Gesellschaft. Damals entstand die Vorstellung des ewigen Mehr – bezüglich Bildung, Demokratie, sozialer Sicherheit, gesellschaftlicher Prosperität und Frieden mit allen.”7
Als hätte er diese Analyse des Soziologen Ulrich Beck rhetorisch umgesetzt, hat wenig später Bundespräsident Horst Köhler in einer „aufrüttelnden“ Rede versucht, den Geist des VW-Käfers der Nachkriegszeit zu beschwören.
Angesichts der Privilegiengier und Reformvermeidung der Gegenwart war das an der Realität vorbei geredet: Damals lebten die Menschen in Ruinen und mussten sie wieder aufbauen, wenn sie nicht arm bleiben wollten. Seither hat der Wohlstand so zugenommen, dass nach der WHO-Definition über die Hälfte der Menschen, die sich 1980 noch normal fühlten, im Jahr 2000 arm wären (denn arm ist nach dieser Definition, wer nur über 50 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen kann).
Je mehr realistische Gründe es gibt, skeptisch in die Zukunft zu blicken und sich darauf gefasst zu machen, dass die Erwartungen an Wachstum, Sicherheit und Prosperität enttäuscht werden, desto größer wird auch die Anziehungskraft von Figuren, die eigene Ängste verleugnen, rücksichtslos Stärke und Zuversicht verkünden – und Sündenböcke benennen, wenn die ersten Enttäuschungen auf die Gläubigen zukommen. „Motivationstrainer“, die einem ganzen Hörsaal zahlender Kunden weismachen können, wer nur genug an sich glaube, dem sei alles möglich, nennen immerhin noch sich selbst als Beispiel: Sie haben es geschafft, für die Banalität ihrer Botschaft so vielen Geld abzuknöpfen.8
Angesichts der komplexen, von keinem Einzelnen mehr durchschauten Zusammenhänge der modernen Wirtschaft oder Technik ist der charismatische Führer, der selbstverliebt von sich behauptet, er kenne den richtigen Weg, so anachronistisch und so ersehnt wie nie zuvor. Er hilft, die Ängste der Verunsicherten zu binden, aber er kennt selbst kein anderes Gegenmittel als die Illusion, die er ihnen anbietet – plump, gewalttätig, rückwärtsgewandt der totalitäre Scharlatan, mit smartem Lächeln und sorgfältig mit seinem Presse-Stab besprochenen Phrasen sein „demokratisches“ Gegenstück.
Angesichts dieser Versuchungen zur Vereinfachung wirkt es leise, fast kläglich, darauf zu bestehen, dass der Mensch einen komplexen Bezug zu den Sicherheiten hat, nach denen er sich sehnt und die er verteidigt, um Angst zu vermindern. Wer feststellt, es gehe in unserer Suche nach einer lebenswerten Zukunft nicht allein darum, Mängel der gegenwärtigen Techniken abzuschaffen, macht sich nicht beliebt. Die kreatürliche Angst legt immer nur einen Weg nahe: den aus der Gefahr in die Sicherheit. Daher hat, wer uns anlügt, indem er Sicherheit verspricht, solange eine bessere Chance als der Aufrichtige, wie wir ihm glauben können. Politiker, die sichere Renten garantieren, werden gewählt. Politiker, die die Wahrheit über die Zukunft einer komfortablen Alterssicherung für alle aussprechen, werden nicht gewählt.
Freud hat in seinem Spätwerk über „Die Zukunft einer Illusion“ dieser elementaren Sehnsucht nach dem falschen Trost die Behauptung entgegengesetzt, dass die leise Stimme der Vernunft zwar übertönt werden kann, sich schließlich aber doch durchsetzt. Er hat es jedoch vermieden, die Bedingungen dafür zu erläutern. Sie sind nicht erfreulich, denn sie beruhen nicht auf der Macht der Einsicht, sondern auf dem irreparablen Zusammenbruch der Täuschung. Autofahrer wissen schon lange, dass es nicht genügend Benzin für alle Zukunft gibt. Aber die meisten werden erst dann auf das Fahrrad umsteigen, wenn sie ihren Tank nicht mehr füllen können.
Wenn wir die Macht der Angst über unsere Gedanken und Gefühle genauer kennen, können wir ihr besser widerstehen, uns aber auch mehr mit ihr anfreunden und aufhören, große Energiemengen darauf zu verwenden, uns darüber zu beklagen, dass wir ihr nicht entkommen können.
Den Deutschen wird nachgesagt, sie seien ein Volk von Jammerern und Bedenkenträgern. Ich kann das nicht nur negativ finden, wenn ich beispielsweise an die forsche Zuversicht vieler US-Amerikaner denke, die glauben, sie könnten der Welt ihre Werte aufzwingen und weiterhin das größte Stück von diesem Planeten verzehren, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie er sich regenerieren soll. Kritische Bedenken, die sich gegen eine Verleugnung der Gefahr richten, in der wir schweben, müssen wir von der selbstverliebten Klage unterscheiden, in der eigene Privilegien geleugnet und ein komfortables Leben eingeklagt werden.
Angst ist sehr häufig der Grund, warum wir uns in eine Phantasiewelt zurückziehen, in der alles so geschieht, wie wir es uns wünschen. Diese Phantasien machen uns fast immer sehr einsam, denn nur wer sich weitgehend in der Realität ansiedelt, kann mit anderen Menschen in einen befriedigenden Austausch treten. Dieser Austausch ist das wirksamste Mittel gegen die Angst.
Wir können es uns nicht leisten, den kulturellen und gesellschaftlichen Aspekt in unseren Ängsten zu ignorieren. Wir dürfen nicht leugnen, wie viel sie mit kindlichen Verletzungen und sozialen Veränderungen zu tun haben. Wir müssen akzeptieren, dass unsere emotionalen Beziehungen und unser Selbstgefühl die wichtigsten Angstquellen, aber auch die besten Helfer gegen Ängste sind.
München, im April 2005
WS.