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Wann Angst zur Krankheit wird

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Angst wird zur Krankheit, wenn sie lange anhält, ohne erlebte, realistische Bedrohung auftritt, unerträglich und unkontrollierbar erscheint („ich halte es nicht mehr aus!“).

Moderne Angstkranke fühlen sich hilflos ausgeliefert, ohne die Gefahr genau fassen zu können. Sie werden dadurch rastlos und nervös. Ihre innere Spannung steigt, ihre Stimmung verschlechtert sich, sie reagieren reizbar und aggressiv, schreckhaft, unkonzentriert. Ihre Unfallgefahr ist erhöht, sie vergessen viel und können sich über nichts freuen – der Übergang zwischen chronischer Angst und Depression ist fließend.

Auch Gefühle der Unwirklichkeit, des Weit-entfernt-Seins, der sogenannten Depersonalisation („Wer bin ich? Wer ist ich? Was soll ich?“) können mit Angst zusammenhängen. Die Betroffenen fühlen sich „abgehoben“.

Ebenso vielfältig wie die seelischen sind die körperlichen Begleiterscheinungen (Äquivalente) der Angst. Sie verschlüsselt sich in verminderter Speichelsekretion mit Mundtrockenheit, in Zähneknirschen, besonders im Schlaf, Ohrensausen (Tinnitus), gepresster oder zitternder Stimme. Dazu kommen Wahrnehmungsstörungen (Flimmern, Röhrensehen), Blasenstörungen, die eine Entzündung imitieren können, und Störungen des Körpergefühls mit Schwindelanfällen bis zur völligen Gangunsicherheit, die in extremen Fällen den Angstkranken in den Rollstuhl zwingt. Angstäquivalente können ihrerseits, ebenso wie der Angstanfall selbst, Angst auslösen („Angst vor der Angst“).

Die eindrucksvollen und hartnäckigen Somatisierungen der Angst in Form von Herzbeschwerden jeglicher Art haben früher dazu geführt, von einer eigenen „Herzneurose“ zu sprechen. Die Symptome sind Enge- oder Beklemmungsgefühle, Herzdruck, Herzklopfen, Herzstolpern oder Herzstechen. Damit verbunden oder auch als Hauptsymptom treten Atemstörungen auf, vor allem das Gefühl, nicht durchatmen zu können, keine Luft zu bekommen sowie Würgegefühle im Hals. Ärzte sprachen früher vom „Globus hystericus“. Angstkranke leiden unter einem imaginären Kloß im Hals, den sie nicht hinunterschlucken können.

Eine Patientin erlebt beispielsweise ihr Herzstolpern als höchst qualvoll und lebensbedrohlich, obwohl ihr viele Spezialisten nach eingehenden Untersuchungen versichert haben, dass sie an harmlosen Extrasystolien (Herzschlägen außer dem normalen Takt) leidet, an denen sie gewiss nicht sterben wird.

Auch die Haut ist ein Organ der Angst. Während Gänsehaut und Kälteschauer eher harmlose Angstsignale sind, können massive Schweißausbrüche lästig werden. Wirklich problematisch ist aber erst die durch solche körperlichen Begleiter der Angst ausgelöste, narzisstisch getönte Schreck- und Vermeidungssituation. Die Betroffenen schämen sich des Schweißausbruchs, ihres überraschenden Errötens, ihrer Impulse, Blase oder Darm zu entleeren so sehr, dass sie ein heftiges Vermeidungsverhalten entwickeln. Dann führen die Blasensymptome z.B. dazu, dass Angstkranke nicht ins Kino oder Theater gehen und nicht verreisen.

Der Alarmzustand der Angst führt zu Appetitlosigkeit und Erbrechen, während die Anfälle von Heißhunger eher ein Mittel darstellen, die Angst zu kompensieren. Sehr verbreitet sind auch Magen-Darm-Symptome. Die berühmten „Schmetterlinge im Bauch“ können sich zu veritablen Ungeheuern auswachsen, zu Koliken, Übelkeit, Schmerzen nach den Mahlzeiten, Magen- und Darmkrämpfen, Durchfall.

Angst mindert die sexuelle Potenz. In einer Gegenreaktion wird aber die Sehnsucht nach der Selbstvergessenheit, Geborgenheit und Nähe im Sexualakt übersteigert. Das führt bei einigen Angstkranken zu suchtartiger Intensivierung des sexuellen Verlangens ohne wirkliche Lösung und Befriedigung.

Sehr häufig sind bei Angstkranken Ein- und Durchschlafstörungen. Sie schrecken aus dem Schlaf und erwachen früh, ohne wieder in den Schlaf zurückzufinden. Schlaflosigkeit weckt Ängste, durch Schlafmangel leistungsunfähig zu werden: Ein typischer Teufelskreis, aus dem auszusteigen sehr schwierig ist.

Ein weiterer Teufelskreis betrifft die Muskulatur: Die Angst erhöht den Tonus (also die allgemeine Muskelspannung). Dadurch entstehen Schmerzen, die wiederum die Angst steigern. Gelenke und Wirbelsäule werden durch eine dauerhaft erhöhte Muskelspannung überlastet; Knorpelschäden sind die Folge.

Der entstehende Schmerz und die Bewegungsbehinderung lösen Ängste vor einem drohenden Verlust der Möglichkeiten aus, Angst durch Körpertraining zu bekämpfen. Leichte Ängste schwinden durch körperliche Übung, wie Laufen, Schwimmen, Muskeltraining im Studio. Angesichts schwerwiegender Ängste werden aber diese an sich hilfreichen Gegenmittel selbst zur Gefahr.

So meldete sich eine angstkranke 32-jährige für eine Psychotherapie, weil sie schwere Arthrosen in den Knie- und Hüftgelenken hatte, die ihr die exzessive Arbeit im Fitness-Studio, mit der sie sich bisher fast jede freie Minute vor ihren Ängsten zu schützen suchte, unmöglich machten.

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