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1. Was ist Angst?
ОглавлениеGeh! gehorche meinen Winken,
Nutze deine jungen Tage,
Lerne zeitig klüger sein:
Auf des Glückes großer Waage
Steht die Zunge selten ein;
Du musst steigen oder sinken,
Du musst herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboss oder Hammer sein.
J. W. von Goethe
Die meisten Menschen erleben hin und wieder Angst. Sie würden zugestehen, dass Angst „normal“ ist. Manche behaupten, Angst gar nicht zu kennen. Wir erinnern uns an das Märchen von dem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Andere wiederum werden ständig von Ängsten geplagt, manchmal so sehr, dass sie buchstäblich bewegungsunfähig werden, sobald sie z.B. das eigene Haus verlassen müssen, in dem sie sich sicher fühlen.
Aus Actionfilmen kennen wir Dialoge wie:
Erprobter Kämpfer angesichts einer kritischen Situation:
„Hast du Angst?”
Neuling, der sich beweisen will:
„Überhaupt nicht!”
Erprobter Kämpfer: „Ich habe Angst!”
Neuling, aufatmend: „Ich auch, und wie!”
Aus den Berichten von Soldaten vor einem Angriff oder von Schauspielern vor ihrem Auftritt wissen wir, dass Angst vor allem durch Erwartung ausgelöst wird. Sobald der Kampf beginnt, ist der Soldat ruhig, der vorher zitternd im Schützengraben hockte und sich übergeben musste. Sobald der Schauspieler die Bühne betreten und die ersten Sätze gesprochen hat, macht sein Lampenfieber einer besonderen Geistesklarheit und Willensschärfe Platz.
Kleine Angstspannungen („Lampenfieber“) steigern also die seelische und körperliche Leistungsfähigkeit; heftige Angst hingegen blockiert die geistige Konzentration, lähmt die Bewegungen und engt die Wahrnehmung ein. Während die normale Angst vor einer wichtigen Situation, deren Gelingen intensiv gewünscht wird, im Erleben der ersten erfolgreichen Schritte verschwindet, bleibt die neurotische Angst bestehen und lähmt die geistige Leistung.
Anders als der Schmerz hat die Angst keine Quelle im Körperinnern. Sie ist im naiven Erleben eher ein Werkzeug der Psyche als eines des Körpers. Genauer betrachtet, zeigen sich enge Verbindungen von Angst und Schmerz. Beide erzwingen Vermeidungsverhalten, aber während das geschonte Organ heilt, steigert sich Angst zur Panik, wenn sie durch Flucht nicht auflösbar ist. Folgerichtig verwandeln gestörte Menschen nicht selten durch Selbstverletzungen Angst in physischen Schmerz.
Angst ist nicht gleich Angst; eine erste Unterscheidung zieht die Grenze zwischen Ängstlichkeit, einem Charakterzug, und krankhafter Angst. Wesentlich für diese „kränkende“ Angst sind körperliche Begleiterscheinungen, die den Angstzustand von „normalen“, alltäglichen Befürchtungen unterscheiden, wie sie uns täglich mehrfach umtreiben können.