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Acht

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Inzwischen war der September vergangen und der 3. Oktober stand unmittelbar bevor. Der Tag der Deutschen Einheit. Wer hätte gedacht, dass wir diesen Tag einmal erleben? Für mich persönlich hatte es zwei deutsche Staaten gegeben. Nicht, dass ich die DDR toll gefunden hätte, aber ich war mit ihr aufgewachsen und hatte mich mit ihr abgefunden. Ganz im Gegensatz zu meinen Eltern. Gut, sie stammten aus Leipzig und waren rechtzeitig vor dem Mauerbau 1961 aus dem Ostsektor Berlins in den Westsektor gewechselt.

Für meinen Vater gab es zeitlebens nur die SBZ, die sowjetische Besatzungszone. Er ließ kein gutes Haar an diesem »Unrechtsregime«. Sicher, er hatte einen anderen Bezug, denn es lebten noch Schulfreunde »drüben«, die den Westkontakt abbrechen mussten, um keine Schwierigkeiten im Betrieb zu bekommen. Brav wurden jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit Pakete mit Kaffee, Bananen und Orangen gepackt und in die »Ostzone« geschickt. Mir war das ganze Geschwafel von unseren »Brüdern und Schwestern im Osten« immer etwas suspekt. Wie sich zeigen sollte, nicht ganz zu unrecht. Denn solange sie weit weg und hinter der Mauer sicher verwahrt waren, konnte man getrost jammern, aber wehe sie standen nun plötzlich, mit einem Koffer in der Hand, vor der Tür. Oh Schreck, so hatte man das nun auch wieder nicht gemeint.

Plötzlich vertrat mein Vater die Meinung, dass seine geliebten »Brüder und Schwestern« undankbar seien, weil sie nicht alles Neue unumwunden bejubelten, sondern sogar noch kritische Fragen stellten. Und zu viel Geld hatte man ihnen auch gegeben. In Vorbereitung der Wiedervereinigung musste die Kohl-Regierung auch klären, wie mit den ostdeutschen Sparguthaben umzugehen war. Gespartes hatte der Ossi durchaus reichlich, denn es gab letztlich wenig Konsumartikel in der DDR, für die er Geld ausgeben konnte. Dass die wertlosen »Aluchips« nicht mir nichts, dir nichts eins zu eins in harte Westmark umgetauscht werden konnten, zeigte sich schnell. Die Entscheidung, dass man den Ossis die Sparguthaben bis auf einen kleinen Sockelbetrag schließlich eins zu zwei tauschte und dadurch halbierte, fand mein Vater nicht richtig. Er hätte ihnen weniger gegeben. So änderten sich die Sichtweisen.


Am 3. Oktober saß ich nachmittags im Auto und fuhr von Halle nach Hannover und hatte so ausreichend Zeit, über dieses und jenes nachzudenken. So zum Beispiel, wie das letztes Jahr am 9. November gewesen war. Sylvie und ich hatten das Geschehen damals ziemlich bewegt und mit großer Spannung vor dem Fernseher verfolgt. Unvergesslich die Pressekonferenz, die im Fernsehen der DDR live übertragen wurde. Wer hätte ernsthaft daran gedacht, dass wir dieses historische Ereignis tatsächlich noch erleben durften.

In der Tagesschau sahen wir Günter Schabowski, ein Mitglied des Zentralkomitees der DDR, wie der auf Nachfrage eines italienischen Journalisten von einem Zettel, »den mir irgendjemand zugesteckt hat«, ablas: »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin West erfolgen.«1


Das war der Fall der Mauer! Man sah ihm die Verunsicherung über das, was er soeben gesagt hatte, an. Ob das auch für Westberlin gelte, wollte ein Journalist wissen. Darauf zuckte Schabowski etwas ratlos mit den Schultern und antwortete: »Also, doch, doch«, und las dann weiter vor: »Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Westberlin erfolgen.«

Schabowski wurde gefragt: »Wann tritt das in Kraft?«, und er antwortete: »Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.«2

Daraufhin wurden noch in der gleichen Nacht die Grenzübergänge nach Westberlin geöffnet. Welch ein historischer Moment. »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran.«3


Sylvie und ich gingen an diesem Abend spät ins Bett, verfolgten noch lange staunend die bewegenden Ereignisse im Fernsehen. Am nächsten Tag, einem Freitag, hatte ich Termine in Bielefeld und befand mich auf der Autobahn unterwegs dorthin. Und plötzlich waren da überall Trabis. Verrückt. Bislang kannte man die ja fast nur aus dem Fernsehen und nun war die halbe Autobahn voll damit. Ich erinnere mich, wie sie gerade an den Steigungen fast verhungerten und die riesigen LKW ihnen fast im Kofferraum saßen.


Am kommenden Wochenende hörte ich morgens im Radio die Meldung, dass man in Helmstedt die Grenze geöffnet hatte und man einfach von Helmstedt in die DDR hineinfahren konnte. Ich war gleich so aufgekratzt, dass ich Sylvie aus dem Bett scheuchte und sofort los wollte.

»Komm, wir fahren jetzt einfach mal in den Osten«, rief ich ihr euphorisch zu und sie konnte mich kaum bremsen. Erst eine Meldung im Verkehrsfunk holte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Darin wurde berichtet, dass sich an den Grenzübergängen in die DDR hinein, bereits lange Schlangen gebildet hätten und die Straßen im größeren Umkreis völlig verstopft seien. Es wurde dringend davon abgeraten, sich mit dem Auto auf den Weg zur Grenze zu machen. Hm, wie schade. Wollten wir doch auch etwas an der Jubelstimmung teilhaben.


Vielleicht können wir ja mit dem Zug rüber fahren, überlegten wir und befanden uns schon bald auf dem Weg zum hannoverschen Hauptbahnhof, den wir von unserer Wohnung bequem zu Fuß erreichen konnten. Hier herrschte ein totales Gewimmel. Es waren Sonderzüge aus Magdeburg angekommen und die hatten jede Menge Ossis mitgebracht, die einfach mal die neue Freiheit auskosten wollten und natürlich auch die hundert DM Begrüßungsgeld. Dementsprechend hatten sich vor den außerplanmäßig geöffneten Bankfilialen in Hannover lange Schlangen gebildet. In Berlin kam es wohl teilweise sogar zu chaotischen Zuständen, da auf einmal Tausende DDR-Bürger vor einzelnen Auszahlungsstellen erschienen, um ihr Begrüßungsgeld in Empfang zu nehmen, und damit organisatorische Probleme bis hin zum Verkehrschaos auslösten.


Das Begrüßungsgeld war ursprünglich 1970 im Zuge der Ostverträge in Höhe von dreißig DM durch Willy Brandt eingeführt worden. Es stellte eine schöne Erleichterung dar, dass seit 1988 dann sogar jeder DDR-Bürger einmalig hundert DM im Jahr beim Besuch in der BRD beantragen konnte. Es diente dazu, die Situation der DDR-Bürger zu verbessern, die lediglich siebzig DDR-Mark bei der Ausreise mitnehmen durften. Und mit diesem »Spielgeld« war natürlich im Westen kein Staat zu machen. Die Auszahlung des Begrüßungsgeldes durch die Kommunen im Rathaus wurde im Pass vermerkt, zumindest bis zur Grenzöffnung. Um dem Ansturm nach dem 9. November Herr zu werden, wurde die Auszahlung auf Banken und Sparkassen ausgedehnt, die zu diesem Zweck sogar Sonderöffnungszeiten einrichteten, und man vereinfachte die Formalitäten. Was zur Folge hatte, dass eine mehrfache Auszahlung im Einzelfall nicht mehr verhindert werden konnte.

Bereits in den ersten Wochen nach dem Fall der Mauer nahmen etwa geschätzte achtzehn Millionen Besucher dieses Begrüßungsgeld in Anspruch. Diese erstaunliche Zahl entspricht in etwa der Einwohnerzahl der DDR, vom Säugling bis zum Greis. Ende Dezember 1989 endete die Auszahlung des Begrüßungsgeldes. Stattdessen erhielten die Bürger der DDR die Möglichkeit, hundert DDR-Mark im Verhältnis 1:1 in D-Mark zu tauschen, sowie weitere hundert DDR-Mark im Verhältnis 5:1. Letzteres spiegelte allerdings immer noch nicht den wirklichen Wert der DDR-Währung wieder, da auf dem Schwarzmarkt realistisch im Verhältnis 7:1 getauscht wurde.


Im Bahnhof herrschte völliges Chaos, ein fürchterliches Gewusel von Menschen. Vereinzelt sahen Sylvie und ich Leute, die mit ganzen Plastiktüten voller Orangen und Bananen umherliefen. Manch einer ließ sich die Banane auch gleich vor Ort schmecken. Die Idee selber, eben mal nach Magdeburg zu fahren, geriet schnell in Vergessenheit. Stattdessen quatschten wir einfach ein Pärchen, etwa in unserem Alter, an, das irgendwie verloren in der Bahnhofshalle rumstand. Sven und Katrin Zahm aus Magdeburg. Ganz spontan waren sie heute Morgen in Magdeburg zum Bahnhof aufgebrochen, um zwei Stunden später schon im gelobten Westen zu sein. Gerade hatten sie sich ihr Begrüßungsgeld abgeholt und wollten sich damit im Bahnhofssupermarkt ein paar Südfrüchte kaufen. Die waren natürlich längst alle.

»Nische mal ’n poor Äppel gabs mehr«, beschwerte sich die Katrin. Und nun wussten sie gar nicht, was sie machen sollten. Und etwas Gescheites zum Kaufen für das Begrüßungsgeld gab es auch nicht, weil am Sonntag natürlich alle Geschäfte in der Innenstadt geschlossen hatten.

Die beiden haben wir dann einfach mit nach Hause genommen. Obwohl wir uns ja gar nicht kannten, waren wir alle vier von den Ereignissen total gerührt und hatten uns viel zu erzählen und noch mehr Fragen. Und die beiden freuten sich bei uns in der Küche tatsächlich über den Anblick von ein paar Bananen in der Obstschale, die kurz darauf genüsslich verspeist wurden. Es sollte ein langer Abend werden. Sylvie kochte uns was Leckeres und es wurde reichlich Bier getrunken. Längst hatten wir die beiden eingeladen, bei uns zu übernachten und aufgefordert, erst am Montag zurückzufahren. Dann könnten sie sich auch noch etwas Schönes für das Begrüßungsgeld kaufen. Das hat sie schließlich überzeugt. So sind sie dann am Montag nach dem Frühstück los. Katrin wollte einfach in ein großes »Westkaufhaus« und sich dort was Hübsches zum Anziehen holen, wogegen Sven sich unbedingt Comics besorgen wollte. Glücklicherweise konnte ich ihm einen guten Comicladen nennen und ihm auch den Weg dorthin beschreiben. Nach dem Einkaufsbummel wollten sie sich dann vor der Rückfahrt wieder bei uns treffen.

Einige Stunden später, Sylvie war zur Arbeit aufgebrochen und ich hatte mir eine Wanne eingelassen. Ich genoss das heiße Wasser, als das Telefon klingelte. Glücklicherweise hatte ich es mit ins Bad genommen. Ich nahm den Hörer ab.

»Saubert«, meldete ich mich.

»Polizeirevier Linden-Süd, Hauptwachtmeister Schrader, spreche ich mit Herrn Michael Saubert?«, kam es aus dem Hörer. Oh scheiße, was ist passiert, was habe ich gemacht, schoss es mir durch den Kopf, während sich mein Puls beschleunigte.

»Äh, ja, äh, worum geht es denn?«, fragte ich schüchtern.

»Ja, hier steht ein junger Mann vor mir, der sagt, dass er Sie kennt, aber nicht mehr zu Ihnen hin findet. Kennen Sie einen Sven Zahm?«

»Ja, sicher kenne ich den, was ist denn passiert?«, fragte ich, sichtlich erleichtert.

Der Beamte erzählte mir, dass Sven auf der Straße einen Kollegen angesprochen hatte, weil er den Weg zurück zu uns nicht mehr fand. Er wusste zwar meinen Namen, aber Straße und Hausnummer eben nicht mehr. Dann hatten sie Sven mit auf die Wache genommen und recht schnell meine Telefonnummer ausfindig gemacht und nun angerufen. Sie würden ihn dann gleich vorbeibringen, wenn es mir recht wäre. War es.

Ich verließ eilig die Badewanne. Gerade hatte ich mir etwas angezogen, als es auch schon klingelte und kurz darauf Sven mit einem fürchterlich schlechten Gewissen und völlig geschafft mit einer Plastiktüte im Türrahmen stand. Wir gingen in die Küche und ich kochte uns erst mal einen Kaffee, als Sven mir seine Geschichte erzählte. Er war so begeistert gewesen von dem Angebot des Comicladens, dass er sich, als er wieder auf der Straße stand, nicht mehr erinnern konnte, wie er dahin gekommen war. Schließlich wusste er sich nicht anders zu helfen, als einen Polizisten anzusprechen, der zufällig vorbei kam.

Jetzt fühlte er sich nicht nur glücklich darüber, wieder bei uns in der Küche zu sitzen, sondern auch, die Schätze auszupacken, die er erstanden hatte. Er hatte fast das gesamte Begrüßungsgeld für Comics und eine Gummipuppe aus Star Wars ausgegeben. Da konnte man natürlich in der DDR nur von träumen. Wenig später klingelte es erneut und seine Frau kehrte zurück. Sie hatte sich etwas zum Anziehen und ein paar schicke Nagellacke gekauft. Außerdem eine dicke Tüte voll Obst. Endlich die ersehnten Südfrüchte. Als sie Svens Geschichte hörte und erfuhr, dass er fast das gesamte Geld für Comics ausgegeben hatte, reagierte sie allerdings nicht begeistert. Kurz darauf mussten sie dann los zum Zug, wieder »rübermachen«, wie sie es nannten. Ich habe die beiden noch zum Bahnhof gebracht und herzlich verabschiedet. Leider haben wir es nie geschafft, uns noch einmal wiederzusehen. Sehr schade. Es war eine der ersten näheren Bekanntschaften mit dem »Ossi« und es sollten noch viele folgen.


Nachdem ich am 3. Oktober 1990 in Hannover angekommen war, hatte ich natürlich mit Sylvie abends im Fernsehen noch die »Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit« verfolgt. Und nun war das geeinte Deutschland tatsächlich Realität. Wahnsinn. Deutschland ist ein wiedervereinigtes Land. Toll! Aber ich hatte auch gemischte Gefühle. Es stellten sich mir Fragen und Zweifel bezüglich der praktischen Realisierung der Einheit. Ein kolossaler Umbruch stand bevor. Vieles würde sich jetzt ändern, vieles würde es bald gar nicht mehr geben.


Als ganz eigenes Erinnerungsstück an die DDR sicherte ich mir noch kurz vor der Wiedervereinigung mein ganz persönliches Souvenir in Halle, welches ich Sylvie an diesem Abend stolz präsentierte. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte ich am Hansering, am Eingang der Staatsbank, das Türschild abgeschraubt. Ein vierzig mal sechzig Zentimeter großes Schild aus schwarzem Glas, auf dem in goldenen Lettern prangte: »Staatsbank der Deutschen Demokratischen Republik – Bezirkszentralbank«. Ich wusste, schon in wenigen Tagen würde dieses Schild für immer verschwunden sein. Es ging auch ganz leicht, die vier Schrauben herauszudrehen, und niemand hat mich dabei überrascht. Dieses Schild hat immer einen Ehrenplatz, in allen meinen Wohnungen erhalten. So ist das bis heute.

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