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Kapitel 2: Rückblende

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Frühjahr, Bad Münder, Internat Marienau

Die Tür zum Klassenzimmer der 7 a ging auf. Der Rektor kam herein. Im Schlepptau einen großen Kerl. Weite Baggyhosen. Schlabbershirt, welches schon bessere Tage gesehen hatte. Kurze ungepflegte Haare, finsterer Gesichtsausdruck, eine grimmige Aura mit dem Charme eines überlaufenden Dixi-Klos. Kurzum – der Typ war total fehl am Platz. Jeder in der Klasse starrte gebannt auf den Neuling. Was tat einer wie DER auf einem Eliteinternat wie dem ihrigen? Er sah so aus, als ob er alles, nur keinen Spaß verstehen würde – so viel wussten sie bereits nach den ersten 25 Sekunden.

„Guten Morgen meine Damen und Herren!“ Der Bariton des Rektors ertönte.

Die Klasse erhob sich und grüßte monoton: „Guten Morgen Dr. Theobald!“

„Darf ich euch eure neue Mitschülerin Paula Brehm vorstellen?“

Mitschülerin?! Nein – sie hatten sich alle sicherlich verhört! Ach du liebe Zeit! Was da vor ihnen stand war ein Mädchen?

Die Einzige die nicht die Augen verdrehte war Nelia Sophie Dammberg. Sie musterte den, nein, die Neue kurz. Dann schnappte sie sich ihre Schulsachen, stand auf und verließ ihren angestammten Platz in der zweiten Reihe. Zielstrebig steuerte sie die letzte Tischreihe an und platzierte ihre Sachen neu. Hob den Kopf, blickte über die erstaunten Gesichter ihrer Mitschüler hinweg Paula an und bot ihr ohne Wenn und Aber ihren freien Nachbarplatz an. Als Dr. Theobald Paula ihm – nein, ihr - einen Schubs gab, setzte sich diese widerwillig in Bewegung. Steif und unbeholfen nahm sie neben Nelia, die alle nur Nell nannten, Platz. Nell nickte Paula zu, stellte sich kurz vor und starrte dann wieder gerade aus Richtung Tafel. Sie sah gerade noch den Rektor das Klassenzimmer verlassen. Kaum war er draußen, drehte Paula sich zu Nell herüber und zischte ihr in grimmigsten Tonfall zu: „Ich brauche keine Samariterin!“ Damit blickte auch Paula wieder Richtung Tafel. Schien aber durch diese hindurch zu schauen in eine andere Welt oder gar in ein anderes Universum. Schweigend und unnahbar verbrachte Paula die erste Schulstunde in diesem Internat für Schüler der gehobenen Gesellschaftsklasse, das in ihren Augen lediglich ein grottiges Gemäuer darstellte.

Shit, wie bin ich denn nur hierhergekommen?

Die Antwort war schlicht und einfach: Gott hasste sie. Es musste so sein! Nur warum, das hatte Paula noch nicht verstanden.

14 Monate zuvor war ihr Vater während eines Auslandseinsatzes im Irak getötet worden. Er war Amerikaner, in Deutschland stationiert. Doch dann kam der Krieg. Auftrag ‚Dessert Storm’. Air Force First Lieutenant Clark Brehm wurde abkommandiert und kam nicht wieder. Ein guter Mann, der mit Stolz für sein Vaterland gefallen war. Scheiß auf den Stolz! Er war jetzt tot! Sein Stolz hatte ihn nicht retten können. Und ihre Mutter auch nicht! Sie war über den Verlust ihres Mannes einfach nicht hinweggekommen. Und die angebliche Mutterliebe war offenbar nicht groß genug, um sie um Paula Willen am Leben zu halten. Nicht für Paula. Ihre Mutter begann vier Monate nach dem Verlust ihres über Alles geliebten Ehemannes Selbstmord: Eine sehr große Menge besten schottischen Whiskey, dazu eine beachtliche Ladung Medikamente, tödlich genug einen Elefanten zur Strecke zu bringen. Erst recht tödlich genug, um eine zierlich gebaute Frau wie Carmen Brehm von ihrem irdischen Dasein zu erlösen. Um, wo auch immer, mit ihrem Geliebten die Ewigkeit verbringen zu können. Kein Abschiedsbrief. Keine Erklärung. Aber dafür taktisch terminiert, damit Paula sie auch als Erstes fand. Hinterlassen hatten ihre Eltern einen Treuhandfond, der sie über die Schul- und Studiumszeit hinweg über Wasser halten würde. Genug, um es luxuriös gestalten zu können. Aber ihre - ach so herzliche - Tante mütterlicherseits war da anderer Ansicht. Paula war lästig. Vor allem für eine Frau im mittleren Alter, die einen gut gehenden Wellness-Tempel für die oberen Zehntausend dieser Welt betrieb. Was sollte man da mit einem traumatisierten Teenager, der ihren guten Ruf gefährden würde. Also schob die gute Tante Paula einfach in dieses Internat ab – 632 km nördlich von München. Weit genug entfernt, um auch ja von jeglicher Verantwortung befreit zu sein. Hier war sie nun, abgeschoben, allein, für sich, in einer Welt die ihr so fremd war. Es hätte auch ein fremder Planet sein können, auf dem sie ausgesetzt wurde. Gott hasste sie! Er musste sie sehr hassen. Warum machte er nicht einfach kurzen Prozess und schickte sie geradewegs in die Hölle? Damit auch er die Verantwortung für sie abgeben konnte. Anscheinend hatte Gott aber andere Pläne. Er wollte ihr offenbar die Hölle auf Erden bereiten. Zu diesem Zwecke schickte er ihr diese, in Licht gehüllte Erscheinung – Wie hieß sie gleich noch mal? Richtig, Nell. Nell schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, sie zu retten. Aber Paula wollte sich nicht retten lassen. Von Keinem! Auch nicht von Nell! Doch Nell wäre nicht Nell, wenn sie aufgegeben hätte. Nell bewerkstelligte es sogar, das sie zusammen mit Paula ein gemeinsames Zimmer bekam. Nell fühlte sich auf unerklärbare Weise mit Paula verbunden. Und so machte es Nell es sich zur Aufgabe, ständig an Paulas Seite sein zu müssen und begleitete sie unaufgefordert überall hin. Die einzige Ausnahme waren Toiletten- und Duschgänge. Die anderen Mitschüler fingen nach kurzer Zeit an, Witze über das ungleiche Gespann zu machen und foppten Paula bei jeder Gelegenheit. Sie beschimpften Nell als Kindermädchen oder Schoßhündchen und Paula wurde als Kleinkind betitelt, die ohne ihre Nanny keinen Schritt gehen konnte. Nell ertrug diese Beschimpfungen stets mit erhobenem Haupt und einem Lächeln im Gesicht. Paula hingegen kochte innerlich vor Wut. Sie wollte ihre Ruhe haben. Schlimm genug, dass sie Nell am Hals hatte. Jetzt hatte sie sogar die Aufmerksamkeit der anderen Schüler. Irgendwann platzte Paula der Kragen. Es war nach dem Essen im Gemeinschaftssaal. Es wurde getuschelt und gewitzelt. Paula hielt es nicht mehr aus und sprang während des Essens einfach auf und stürmte aus dem Saal zu ihrem Zimmer. Hinter ihr konnte sie die so vertrauten Schritte von Nell hören. Sie schmiss die Zimmertüre zu und wollte gerade auf irgendetwas einschlagen als die sofort erneut auf- und wieder zuflog. Nell. Da stand sie. Schon wieder. Paula drehte sich herum und funkelte und wütete Nell furchtbar an. „Verdammt noch mal! Kannst du mich nicht ein einziges Mal in Ruhe lassen?“. Bei jedem Wort flog Spucke aus Paulas Mund wie Schaum bei einem tollwütigen Hund. „Ich will keinen Aufpasser. Keine Nanny. Ich will alleine sein. Ich will in Ruhe gelassen werden. HÖRST DU? Ich will alleine sein!“ Dabei liefen Paula Tränen über das wutrote Gesicht. Wild gestikulierte Paula dabei und es sah für einen Moment so aus, als ob Paula bei all dem Wüten, Schreien und Um-sich-Schlagen in tausend Stücke zerspringen würde. Und während Paula so tobte, stand Nell ganz gelassen im Raum, zuckte hin und wieder mit den Augen oder hob die Schultern, um sich ein wenig zu verstecken. Als Paula ein wenig runtergekocht war, stand sie völlig außer Atem vor ihrer Zimmergenossin und schnaufte. Nell ging einen Schritt auf Paula zu, blickte ihr fest in die Augen. „Du bist nicht allein! Du fühlst dich allein. Aber du bist nicht allein. Aber wenn du es dir so sehr wünscht, liebe Paula, dann sollst du deinen Willen haben!“ Der Blick, den Nell hatte, konnte Paula nicht recht deuten. Es war eine Mischung aus Schmerz, Mitleid und – ja – so etwas wie Liebe. Es traf Paula so unvorbereitet und direkt mitten in die Brust, dass es ihr die Luft nahm. Noch ehe Paula etwas sagen konnte drehte sich Nell langsam herum und ging aus dem Zimmer. Das letzte was Paula vernahm, war das Klicken der schließenden Türe. Dann brach sie weinend zusammen. Irgendwann spürte Paula Hände auf sich. Benommen und erschöpft hob sie den Kopf. Ohne Widerwillen ließ sie sich von Nell aufhelfen und ins Bett bringen. Paula fror. Diese eisige Kälte, die von innen heraus durch den ganzen Körper kroch und jeden Zentimeter vereiste. Die Kälte war so extrem, dass Paulas Zähne heftig aufeinanderschlugen. Sie wusste nicht wie spät es war. Das kleine Nachtlicht an Nells Bett ging an. „Hey Paula?“ Paula klapperte so eifrig mit den Zähnen, dass sie nicht antworten konnte. Nell löste das Problem der fehlenden Kommunikation auf ihre Weise: das Licht ging aus und einen kurzen Moment später schaukelte Paulas Bett und warme, weiche Rundungen schmiegen sich an Paulas frostigen Körper. Paula hatte nicht die Kraft, sich zu wehren. Sie ließ die ungewohnte körperliche Nähe zu, entspannte sich mehr und mehr, als die Kälte Nell´s Körperwärme wich. Dabei streichelte Nell Paula über das Haar. Dies war der Moment, wo auch Paula begriff, dass es da etwas zwischen ihnen gab, dass tiefer ging wie einfach nur Freundschaft. Nells dauerndes Leuchten, positives Denken und optimistisches Handeln ließen Paula keine Wahl: Paula ergab sich, frei nach dem Motto: ‚Kannst du nichts gegen deinen Feind ausrichten, dann verbünde dich mit ihm’ Sie tat es. Und es war eine der besten Entscheidungen, die Paula in ihren verkorksten 13 Jahren getroffen hatte. Sie öffnete sich gegenüber Nell, erzählte ihr ihre Lebensgeschichte, ihre Träume, Hoffnungen. Nach Monaten der Tränen konnte sie sogar mit Nell zusammen lachen! Und es fühlte sich so gut an! Paula verliebte sich in Nell. So sehr man sich nur in eine ‚Ich-wünschte-wir-wären-Schwestern-Freundin' verlieben konnte. Das war vor etwas mehr als sieben Jahren. Gemeinsam überstanden sie das erste Verliebt sein, die erste Trennung nach nur gemeinsamen drei Tagen mit der vermeidlich großen Liebe. Sie litten miteinander und verfielen in den Rausch des ersten Kusses der jeweils anderen. Sie teilten eben alle Höhen und Tiefen die eben 'Eigentlich-sind-wir-doch-Schwestern' teilen konnten. Sie büffelten sich durch Algebra, lernten Latein, paukten Französisch und fragten sich gegenseitig Vokabeln ab. Lernten bis ihre Hirnwindungen zu gordischen Knoten mutierten. Sie meisterten gemeinsam ihren Abschluss – Abitur bestanden! Beide Jahrgangsbeste. Wer hätte das gedacht?

Nell´s Vater war Chef der Chirurgie am Bundeswehr-Zentralkrankenhaus Hamburg. Einer der besten Chirurgen, die das BwZk Hamburg zu bieten hatte. Doch ganz so ambitioniert wie Nells Vater war sie nicht. Ihr Arbeitsplatz war die MHH in Hannover. Jedoch nicht um Arzt zu werden, sondern um eine Ausbildung als Trauma-Krankenschwester zu machen. Dank ihres Einfühlungsvermögens, ihres großen Herzens und ihrer schier unendlichen Gelassenheit war sie eine fantastische Krankenschwester. Nell ging in ihrer Arbeit auf. Durch und durch Samariterin. Paulas "Eigentlich-sind-wir-ja-doch-Schwestern-Freundin" machte nicht nur einen guten Job – Sie hatte ihre Berufung gefunden - mit Leib und Seele!

Im Anschluss an die Ausbildung folgte Nell ihrem Vater ins BwZK Hamburg. Was wiederum zur Folge hatte, dass sie das vertraute Hannover hinter sich lassen musste und zurück in ihre alte Heimat zog.

Dieser Umzug vor ein paar Monaten hatte ihren, bis dato gemeinsamen Weg getrennt. Nur an den spärlichen, freien Wochenenden sahen sich die zwei Frauen. Paula hielt sich mit Gelegenheits- und Aushilfsjobs über Wasser, da ihr immer noch nicht ganz klar war, wohin sie gehörte. An Nells Seite, ohne Frage. Aber in ein Krankenhaus? Auf keinen Fall! Es musste etwas rationales, kalkulierbares, etwas kontrollierbares sein.

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