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Da müssen wa durch

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Am ersten Tag seines Berufslebens bekam er einen Laufzettel in die Hand gedrückt und musste kreuz und quer über das Werksgelände der Arado rasen. Arbeitsklamotten abholen, Sicherheitsschuhe anprobieren, eigenes Werkzeug übernehmen und Lehrbücher ausgehändigt bekommen. Jetzt wusste Kalle, woher der Begriff Laufzettel kam. Langlauf-Zettel wäre präziser, dachte er. Richtig sauer war er beim Anprobieren seines Arbeitsoveralls. Die ältere Dame an der Ausgabe taxierte ihn einmal von unten nach oben und schüttelte dann bedauernd den Kopf.

»Noch so jung und schon so lang. Für solche Bohnenstangen wie dich haben wir nichts Passendes. Da musste sehen, dass du die verstellbare Taille im Rücken ordentlich zuschnürst. Sonst siehst du darin völlig verloren aus. Wird schon gehen, junger Mann«, sagte die ansonsten mütterlich wirkende Frau und gab Kalle seinen neuen Blaumann, den er sofort anprobierte.

»Wenn wir bessere Zeiten hätten, könnte ich ab jetzt jeden Tag doppelt so viel essen und würde vielleicht in zwei-drei Jahren in den Overall reinpassen. Das ist wohl das Modell ›Zweisitzer‹, oder?«, beklagte sich der junge, modebewusste Lehrling über den alles andere als modischen Schnitt seiner Arbeitskluft. Äußerlich kaum wiederzuerkennen wurden alle neuen Lehrlinge in Trupps von je zwölf Jungs eingeteilt. Kalle kam in den Trupp 41 Berta, also 41b. Die meisten seiner neuen Kameraden fand er auf den ersten Blick ganz in Ordnung. Mal sehen, ob er hier neue Freunde fand.

Die Lehrpläne für das erste Halbjahr wurden verteilt. Kalles erste Schritte in das Berufsleben starteten mit acht Wochen Metallverarbeitung. Das bedeutete für die nächsten zwei Monate intensives Arbeiten mit Eisen und Stahlblechen. Stundenlanges feilen, bohren, sägen, Gewindeschneiden, biegen, schneiden von Blechen, messen und prüfen. Echt heftige Bastelstunden, registrierte er. Metallverarbeitung wurde nicht sein Lieblingsfach. Kurz vor dem Schluss des ersten Abschnitts seiner Lehre überraschte sie ihr Ausbilder Hermann Müller.

»Wir möchten jetzt sehen, was wir euch beigebracht haben. Metall ist ein Werkstoff, der Konzentration und Feingefühl erfordert. Fehler verzeiht es nicht und Grobheiten bestraft es sofort. Eure Aufgabe ist ganz einfach, aber in diesem Sinne anspruchsvoll. Jeder von euch bekommt einen streichholzschachtelgroßen Metallklumpen. Daraus stellt ihr einen Spiel-Würfel mit einer Kantenlänge von exakt 9 Millimetern her. Hier ist die Produktionsskizze mit den genauen Maßangaben. Ihr habt eine Woche Zeit. Ich wünsche euch viel Erfolg. Legt jetzt los!«

Na, dann mal los, dachte sich Kalle und schnappte sich eine grobe Schruppfeile. Oder sollte er lieber mit der Eisensäge arbeiten? Egal, es würde schon klappen. Er spannte das Eisenteil in den Schraubstock und legte los, wie Eisen-Müller es gefordert hatte. Diese erste große Übung schaffte Kalle schneller als die meisten seiner Kollegen. Bereits nach fünf Tagen war er fertig. Recht ordentlich, lobte ihn Hermann Müller nach fast einer Woche harter Arbeit, drehte den Würfel mehrmals in seinen Händen, hielt ihn gegen das Licht und zitierte grinsend etwas aus Schillers Glocke:

»Von der Stirne heiß, rinnen muss der Schweiß, soll das Werk den Meister loben, doch der Segen kommt von oben. Nachdem dein Schweiß genug rinnen musste, kommt von oben folgender Segen: Du bekommst morgen einen freien Tag! Viel Spaß. Wir sehen uns am Montag.«

Das sehe ich auch so, Meister, dachte sich der junge Lehrling und genoss es, als Belohnung früher Feierabend zu machen.

Anders als in der Schulzeit, sehnte Kalle nach der Arbeit, langen zehn Stunden von Montag bis Samstag, seinen Feierabend herbei. Wenn er nicht zu müde war, verabredete er sich mit seinem neuen Kollegen Wolfgang Kamischke, genannt Wolle, zu gemeinsamen Taten oder auch Untaten. Wolle und Kalle waren sozusagen von Natur aus auf Augenhöhe, beide fast einen Meter neunzig groß. Überall, wo die beiden gemeinsam auftauchten, spottete man:

»Der Alte Fritz lässt grüßen. Da kommen wieder die »Langen Kerls«.«

Das war wohl ein Brandenburger Spruch, dachte Kalle und ignorierte diese Bemerkung. Jedenfalls bei den Kollegen, die ihm sympathisch waren. Alle anderen mussten manchmal Kalles Antwort ertragen.

»Kennste die Gebrüder Grimm? Die könnten dich gut gebrauchen. Die suchen noch Zwerge wie dich«, war noch eine der harmlosen Erwiderungen.

Kalle und Wolle verband nicht nur ihr hoher Wuchs, sondern auch viele andere Gemeinsamkeiten. Deswegen wurden die beiden schnell gute Freunde. Am stärksten verband sie, dass sie absolut begeisterte Flugzeug-Verrückte waren.

Flieger zu werden, war ein unbedingtes Ziel beider Jungs. So war es für sie selbstverständlich, den obligatorischen Segelflugunterricht gemeinsam zu absolvieren. Die Theorie lernten sie direkt nach Feierabend bei der Arado, die Praxis auf dem Fluggelände an der Mötzower Straße in Brandenburg. Die Prüfungen fanden in der Reichssegelflugschule in Trebbin, unweit von Potsdam, statt. Die meisten Kurse waren am Wochenende, für einige mussten sie leider ein paar Tage ihres knappen Urlaubs opfern. Das fiel ihnen nicht besonders schwer, denn sie liebten das Segelfliegen. Sie verstanden die Schulungen als wichtige Meilensteine auf ihrem Weg zum Flugschein. Also dazu, Flieger zu werden.

Ihre zweitliebste Freizeitbeschäftigung war es, schwimmen zu gehen. Immer, wenn es im heißen Sommer 41 Grad passte, fuhren Kalle und Wolle zur Badeanstalt Grillendamm, um sich ausgiebig abzukühlen. Zugegeben, auch um ausgiebig, aber unauffällig versteht sich, den planschenden, gleichaltrigen Mädels zuzusehen. Das war das Gegenteil einer Abkühlung! Das hätten die beiden pubertierenden Vierzehnjährigen niemals zugegeben, denn es war ihnen absolut peinlich. Beide mussten ehrlicherweise gestehen, dass die Fliegerei nicht mehr ihr einziges Interessengebiet war. Das andere Geschlecht fing an, ebenso spannend zu werden.

»Haste schon ne Freundin?«, fragte Wolle seinen Kumpel bei einer dieser Gelegenheiten grinsend, obwohl er die Antwort kannte.

»Nee, was soll ich denn damit«, antwortete Kalle verlegen und wechselte schnell das Thema.

»Ich muss jetzt nach Hause. Sonst meckert meine Mutter wieder mit mir, wenn meinetwegen das Essen auf dem Herd verkocht und sie meinem Vater nur noch matschige Kartoffeln vorsetzen kann. Den Ärger möchte ich mir ersparen!«

Die beiden zogen sich schnell an, verließen das Schwimmbad und schlenderten ohne viel Elan zu ihren Fahrrädern. Die sommerliche Hitze auf dem Vorplatz brachte die staubige Luft zum Flimmern und sie wollten am liebsten sofort wieder umdrehen, um ins kühle Wasser zu springen. Vielleicht morgen wieder, dachte Kalle. Als sie am Fritze-Bollmann-Brunnen vorbeikamen, trafen sie auf eine Gruppe Mädels in ihrem Alter, die fröhlich herumalberten.

»Bloß nicht hinsehen«, flüsterte Kalle seinem besten Kumpel zu, konnte aber selbst nicht anders und schaute interessiert zu einem besonders hübschen Mädchen mit wahnsinnig langen, schwarzen Zöpfen. Nur unauffällig schauen, aber nicht ansprechen oder schlimmer, angesprochen werden, redete sich Kalle ein. Jedenfalls nicht heute, ein andermal vielleicht.

In Brandenburg an der Havel ging im Jahr 1941 alles weitestgehend seinen ruhigen, ja geradezu beschaulichen Gang. Anders war es in der sechzig Kilometer entfernten Reichshauptstadt. Nachdem Adolf Hitler die Sowjetunion überfallen hatte, nahmen die Luftangriffe auf Berlin dramatisch zu. Immer öfter hatte Kalle von seinem Zimmer aus nachts den rot leuchtenden Himmel über Berlin erkennen können. Im September wurde sogar das gesamte kulturelle Zentrum der größten Stadt Deutschlands dem Erdboden gleich gemacht. Es gab dabei unzählige zivile Opfer, darunter viele Frauen und Kinder. Niemand konnte mehr die Grausamkeit des Krieges verleugnen. Krieg war immer schon grausam. Gleichzeitig feierte das tausendjährige Reich sich selbst und seine Helden. So wurde einer der bekanntesten Jagdflieger, Oberstleutnant Werner Mölders, anlässlich seines 101. Luftsieges öffentlich ausgezeichnet und als Inbegriff soldatischer Tugenden präsentiert. Kalle hatte schon viel vom Brandenburger Mölders gehört und gelesen. Mölders war sein wichtigster Flieger-Held und sein größtes Vorbild. Er bewunderte ihn sehr, kam allerdings ins Nachdenken. 101 Luftsiege bedeuteten auch, dass er wahrscheinlich mindestens hundertundeinen Menschen getötet hatte. Krieg war wohl doch kein spannendes Abenteuer, machte er sich bewusst. Krieg war immer todbringend. Krieg war schrecklich.

Ebenso schrecklich und unverständlich empfand es Kalle, dass der »Judenstern« eingeführt wurde. Alle Jüdinnen und Juden ab dem 6. Lebensjahr wurden gezwungen, auf der linken Brust, also auf der Herzseite, einen sechszackigen gelben Stern mit der Inschrift »Jude« zu tragen. Sie durften von nun an ihren Wohnsitz nicht mehr ohne polizeiliche Genehmigung verlassen. Öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, wurde ihnen auch untersagt. Weder der Besuch öffentlicher Veranstaltungen, noch der Kinobesuch war ihnen gestattet. Ihr bisheriges Leben war von heute auf morgen zu Ende. Für die nichtjüdische Bevölkerung hieß es, dass vertraute Menschen, die noch vor kurzer Zeit geachtete Mitbürger gewesen waren, nun geächtet wurden.

Angeprangert, ihrer Existenz beraubt, drangsaliert, bedroht, geschlagen und schließlich verschleppt. Warum? Was sollte das?, fragte sich Kalle voller Unverständnis.

Das Leben aller Menschen im »Tausendjährigen Reich« änderte sich fast täglich. Für die Bevölkerung Deutschlands gab es immer neue Einschränkungen.

Auf Plakaten wurden sie tatsächlich aufgefordert, Kartoffeln nur noch als Pellkartoffeln zuzubereiten, weil beim Schälen Gewichtsverluste von 15 bis 30 Prozent auftreten würden.

»Armes Deutschland«, war dazu der Kommentar von Kalles Mutter Lenchen beim gemeinschaftlichen Abendessen mit ihrer Familie.

»Der dümmste Bauer hat die dicksten Kartoffeln. Und der dicke Göring die dümmste Emma.«

Dieser Satz bezog sich auf die zweite Ehefrau des Reichsmarschalls, der mit seinem Gewicht von über 240 Pfund und der damit verbundenen Körperfülle gerne im Volksmund als »Größter Arsch des Dritten Reiches« tituliert wurde. Solche oder ähnliche Aussagen an falscher Stelle zu laut gesagt, hätten damals Zuchthaus oder Schlimmeres zur Folge gehabt. Als dann kurze Zeit später im Radio sogar verkündet wurde, dass man morgens zwischen 6 und 10 Uhr möglichst keine elektrischen Geräte verwenden sollte, um so die Stromversorgung der Rüstungsindustrie und der Landwirtschaft sicherzustellen, tippte sich Kalles Mutter an die Stirn.

»Jetzt spinnen die Obersten vollkommen«, drückte sie in einem Satz das Unverständnis der meisten deutschen Hausfrauen an der Heimatfront aus.

Das Jahr 1941 endete mit einem letzten Paukenschlag. Der oberste Befehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, erklärte am 11. Dezember auch noch den USA den Krieg.

»Mut oder Größenwahn, das ist hier die Frage. Dies sollte allerdings nicht öffentlich diskutiert werden«, hörte Kalle seinen Vater kopfschüttelnd leise zu Lenchen sagen.

Er machte sich über die Politik des Führers und »Größten Feldherrn aller Zeiten« wenig Gedanken und dachte mehr über mögliche Zerstreuung für junge Menschen in Brandenburg nach. Viel wurde 1941 in der Kleinstadt nicht angeboten, stellte er fest. Versöhnlich stimmte Kalle lediglich das aktuelle Kinoprogramm im Dezember. Noch kurz vor Weihnachten startete »Quax der Bruchpilot« im Konzerthaus-Lichtspiele in der Werner-Mölders-Straße in der Neustadt. Die Handlung war eher simpel.

Für einen kleinen Büroangestellten wurde durch ein Preisausschreiben der Traum vom Fliegen wahr. Quax war also ein Fliegerfilm. Somit war der Kinobesuch ein Muss für Kalle und Wolle und die Verabredung zum gemeinsamen Kinobesuch keine Frage mehr. So standen die beiden Freunde bereits am ersten Tag der Vorführung rechtzeitig vor Kassenöffnung am Ticketschalter, um zwei besonders gute Plätze weit vorne in der Mitte zu ergattern. Etwas weiter hinter ihnen in der Schlange stand ein Mädchen, etwa in Kalles Alter. Sie war ihm schon oft aufgefallen. Beim Baden, beim Einkaufen im Zentrum und bei verschiedenen gemeinsamen Veranstaltungen der »Hitler Jungend« (HJ) und dem »Bund Deutscher Mädel« (BDM). Er hatte noch nie ein Mädchen mit so langen Zöpfen gesehen. Wahnsinn. Zöpfe bis zum A …, ach nein, bis zum Po, dachte Kalle natürlich. Er konnte nicht anders, als sich andauernd nach ihr umzudrehen.

Sein Verhalten blieb nicht unbemerkt. So ungefähr beim dritten oder vierten Mal wurde sein Blick von der Schönheit mit den langen Zöpfen erwidert. Beim fünften oder sechsten Mal lächelte sie sogar verlegen zurück. Und was nun? Was sollte er jetzt machen? Einfach ansprechen konnte er sie nicht, dafür war er viel zu schüchtern.

Kalles Mut reichte für solche Aktivitäten noch lange nicht aus. Dann eben ein anderes Mal, dachte er sich erneut und war bemüht, konzentriert nach vorne in Richtung des Kassenhauses zu schauen. Dieses andere Mal sollte noch einige Zeit dauern.

Erst einmal stand Weihnachten vor der Tür. Die Bergmanns feierten zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig mit Weihnachtsbaum und Gänsebraten. Kleine ausgesuchte Geschenke gab es für alle. Für jeden wurde ein kleiner Wunsch erfüllt. Nur ein kleiner, wie Lenchen betonte. Aber immerhin! Diese Bescheidenheit passte zur Rundfunk-Ansprache, die sich die Familie nach der Bescherung und vor dem Gänsebraten gemeinsam anhörte.

»Das deutsche Volk wird in diesem Jahr das Weihnachtsfest sehr sparsam und zurückhaltend feiern«, diktierte der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, am Heiligen Abend über den Volksempfänger. »Millionen Deutsche werden sich die bange Frage stellen, was uns das nächste Jahr bringen wird. Solche melancholischen Überlegungen sind für die Widerstandsfähigkeit unseres Vaterlandes gar nicht gut.«

Also habt ihr doofen Deutschen es endlich alle verstanden? Oder etwa nicht? Schnauze halten, Augen zu, und durch. Durchhalten, es kommen wieder bessere Zeiten, sollte der Appell wohl heißen.

Keiner ahnte, was noch alles auf das deutsche Volk zukommen und wie lange es noch dauern sollte, bis wieder Normalität in das Leben in Deutschland einzöge.

»Da müssen wa alle durch«, fasste Willi die Rede Goebbels mit wenigen Worten zusammen.

Jugenddiebe

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