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Nur Abstammung zählt

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Unabhängig von Ottos Abwesenheit begann die Familie Hirschmann mit den Hochzeitsvorbereitungen. Alle Unterlagen für das Aufgebot zusammenzubekommen war im Dritten Reich nicht einfach.

Zu den üblichen Papieren für eine Eheschließung kamen seit 1935, bedingt durch die Nürnberger Rassegesetze, noch weiterreichende Abstammungsnachweise hinzu. Das bekam Inge in der folgenden Woche zu spüren, als sie mit ihrer Mutter zur zuständigen Behörde ging.

Da Otto Freiherr von Berg als Offizier selbstverständlich NSDAP Mitglied war, wurde für die beiden zukünftigen Ehepartner ein Ariernachweis, also der Beweis der »reinrassigen deutschen Abstammung« verlangt. Völlig unbedarft, ohne vorher über solche Hindernisse nachgedacht zu haben, klopften die beiden Frauen an die Tür von Oberamtmann Heinrich Platschke und wagten es sogar, ohne vorherige Aufforderung das Amtszimmer zu betreten. Die beiden waren guter Dinge und stellten sich dem Standesbeamten vor, der sie mit einem »Juten Tach, die Damen«, freundlich und trotz der Störung seiner inneren Ruh, gut gelaunt begrüßte. Bei der Nennung des Namens Hirschmann stutzte er allerdings kurz, überlegte einen Augenblick und äußerte schließlich die Vermutung, dass eine mögliche jüdische Herkunft bestehen könnte.

Er gab ihnen die vorhandenen Papiere zurück und lächelte bestimmend.

»Also besorgen sie sich bitte noch den kleenen Ariernachweis und dann kommse wieder«, mit diesen Worten verabschiedete er Mutter und Tochter, um schnellstmöglich gerade noch rechtzeitig in seine Mittagspause zu starten.

Der kleine Ariernachweis bedeutete, dass Inge neben ihrer eigenen Geburtsurkunde noch die Heiratsurkunde ihrer Eltern und beider Großeltern der Behörde vorlegen musste. Die Schwierigkeit war, dass die Eltern ihres Vaters, also die Großeltern väterlicherseits, die ursprünglich aus Rostock kamen, bereits verstorben waren und niemand deren Papiere aufgehoben hatte. Da war guter Rat teuer.

»Was nun, Paul?«

»Ich kann mich nur an ihr Hochzeitsfoto erinnern und dass sie in der St. Marienkirche in Rostock getraut wurden«, erzählte der potenzielle Schwiegervater beim Abendessen. »Ich war zwar gewissermaßen dabei, aber als einziger Gast nicht eingeladen.« Was der letzte Satz bedeuten sollte, erfuhren die drei weiblichen Familienmitglieder erst einige Tage später. Pauls Mutter war mit ihm in guter Hoffnung gewesen. Paul wurde auf diese Weise ein Siebenmonatskind. Das Leben wiederholte sich. Als weniger schwierig stellte sich die Beschaffung der Ehedokumente von Marias Eltern dar. Sie lebten noch bei Marias Schwester Magda in Potsdam, die ihnen sofort Unterstützung versprach. Sie hielt Wort, packte alles in einen großen Umschlag und sandte die angeforderten Papiere nach Brandenburg, wo der Briefträger diese bereits nach wenigen Tagen Maria überreichte.

In Rostock gab es leider keine bekannten Angehörigen mehr, die mit der Pfarrei der Marienkirche Kontakt aufnehmen konnten. Es nützte nichts. Inge und ihre Mutter sowie Paula, die sich diese Abwechslung nicht entgehen lassen wollte, stiegen in der darauffolgenden Woche in den Zug und fuhren über Berlin in die Hansestadt. Die Reise dauerte über sechs Stunden. Proviant hatten sie ausreichend dabei, aber als sie ankamen, waren sie komplett durchgeschüttelt und erschöpft. Bei der langsamen Einfahrt in die jahrhundertealte Hafenstadt sahen sie bereits die ersten zerstörten Häuser und Industrieanlagen. Je näher der Zug dem Zentrum kam, desto schlimmer wurde der Zustand der Gebäude. Beim Aussteigen erschraken die drei Frauen, aufgrund der erschütternden Ansicht, die sich ihnen bot. Im Dach des Rostocker Hauptbahnhofs klaffte ein riesiges Loch.

»Hier ist wohl eine Bombe eingeschlagen«, stellte Paula trocken fest und Inge erwiderte genauso nüchtern:

»Mindestens eine.«

»Im wahrsten Sinn des Wortes«, fügte ihre Mutter Maria deutlich betroffen hinzu und konnte gerade noch ein paar Tränen des Erschreckens unterdrücken.

Als sich die drei umdrehten, sahen sie, dass auch das Empfangsgebäude vollständig abgebrannt war. Verkohlt bis auf die Grundmauern. Ein schrecklicher Anblick! Beeindruckt von dem Gesehenen liefen sie in Richtung Altstadt los. Unterwegs mussten sie mehrmals Passanten nach dem Weg fragen, denn die Straßenzüge waren kaum wiederzuerkennen und eine Orientierung an dem Turm der Marienkirche war vor lauter Trümmerbergen kaum möglich. Lediglich das alte Rathaus erkannten sie wieder.

Es hatte den massiven Angriff der britischen Bomber einigermaßen gut überstanden.

Inmitten der Ruinen der ehemals wunderschönen Patrizierhäuser, die sogar den Dreißigjährigen Krieg überlebt hatten, sah es allerdings ziemlich trostlos aus. Diese Trümmer zu betrachten, machte die drei tieftraurig. Jetzt flossen ein paar erste unauffällige Tränen. Sie liefen weiter Hand in Hand durch eine Landschaft aus zerstörten Wohnhäusern, verbrannten Autowracks und aufgetürmten Schuttbergen. Der Anblick machte sie sprachlos, sodass ihnen unweigerlich weitere Tränen kamen.

»So etwas Schlimmes habe ich noch nie gesehen. Hoffentlich bleibt uns das in Brandenburg erspart«, sagte die Mutter und kämpfte dabei mit ihren Worten. Die beiden jungen Frauen schwiegen weiterhin tief betroffen.

Nach fast einer Stunde Fußmarsch erreichten sie St. Marien und sahen erleichtert auf die nur leicht zerstörte Kirche. In der fast unversehrten Pfarrei trafen sie den Kirchendiener, der sich als Friedrich Bombowski vorstellte. Sie erzählten ihm, dass sie eine Hochzeitsurkunde aus dem Jahr 1884 für einen Ariernachweis benötigen. Als sie ihm dieses Anliegen vorgetragen hatten, nickte er verständnisvoll und sagte mit einem Seufzer in der Stimme:

»Na da haben Sie aber ziemlich viel Glück gehabt. Vor vier Wochen haben die Engländer unsere Altstadt zerbombt. Unsere schöne Marienkirche wollten sie auch plattmachen. Aber da haben sie die Rechnung ohne Fritze Bombowski gemacht. Meine Tochter und ich haben das Schlimmste verhindern können und zwölf Stunden lang das Feuer mit Wassereimern bekämpft. Immer mit vollen Eimern rauf und mit Leeren die Turmtreppe runter.

Es dauerte lange, bis sich endlich die Feuerwehr um unsere liebe Marienkirche kümmern konnte.«

Im nächsten Moment bekam er einen traurigen Gesichtsausdruck, seine Augen einen feuchten Glanz und er erklärte mit Tränen unterdrückter Stimme:

»Meine Tochter hat es leider nicht überlebt. Sie starb vor einer Woche an den Folgen ihrer Rauchvergiftung. Sie ist gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt geworden, hatte noch nichts vom Leben gehabt, träumte von einer Familie und vielen Kindern. Ihr Verlobter steckt an einem unbekannten Ort in einem U-Boot im Atlantik und weiß noch nichts von ihrem Tod. Nächstes Jahr sollte Hochzeit sein.«

Jetzt schluchzte er laut und schüttelte sich vor Kummer. Die drei Frauen waren so sehr betroffen, dass sie erst einmal kein tröstendes Wort herausbekamen. Es dauerte einige stille Minuten, bis sie reagieren konnten, dann allerdings flüsterten sie mit von Erschütterung geprägter Stimme gleichzeitig, fast im Chor:

»Das tut uns sehr leid. Herzliches Beileid.«

»Dann sind sie trotz ihrer Trauer hier und erledigen ihre Arbeit, das ist sehr bewundernswert«, ergänzte Maria, die ihre Fassung als Erste wiedergefunden hatte. »Da trauen wir uns ja kaum, sie mit unserer Bitte zu belästigen.«

»Ach, wissen sie, liebe Frau Hirschmann, das Leben ist, wie es ist. In der Bibel habe ich mal einen Satz gelesen, da stand so ungefähr »Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren und wer es verliert, der erhält es«. Diese Worte trösten mich.« Diese sinnvollen,schweren Worte brachten Maria zum Grübeln. Was genau meinte er?

Sie nickte nach einiger Zeit Bombowski bestätigend und verständnisvoll zu. Dieser holte nun das Kirchenbuch aus dem Jahr 1884 aus dem Regal, pustete den Staub von der Oberseite, legte es auf den Schreibtisch und fing an, darin zu blättern. Nach einer Weile deutete er auf einen Eintrag.

»Ach ja, hier, Friedrich Wilhelm Hirschmann wurde am 25. April 1884 mit seiner Frau Liselotte vermählt und am 18. November erblickte deren Sohn Paul das Licht der Welt. Das ging ja man schnell mit dem Nachwuchs damals«, sagte er still in sich hinein grinsend. Anschließend zog er aus einer Schublade seines Schreibtischs ein Formblatt, füllte es aus, setzte einen Stempel und seine Unterschrift darunter und reichte es Inge.

»So, junge Frau, nun könnse ihren Liebsten heiraten. Meinen Segen haben sie. Ich wünsche ihnen, dass sie glücklich werden. Wenn sie wollen, können sie es gerne ihren Großeltern nachmachen und in unserer wunderschönen Marienkirche heiraten. Das würde uns hier in Rostock freuen. Falls Sie dazu Unterstützung benötigen, helfe ich ihnen gerne.« Damit verabschiedete sich der treue Kirchendiener und ging wieder an seine Arbeit, um den nächsten Gottesdienst vorzubereiten. Inge strahlte, bedankte sich herzlich und verabschiedete sich schnell. Die drei Frauen wollten nun nicht länger stören und verließen die Pfarrei eilig in Richtung Hauptbahnhof.

Der Rückweg zum Bahnhof war genauso bedrückend, wie der Hinweg und sie beeilten sich zum nächsten Zug nach Berlin zu kommen. Sie wollten Rostock schnell verlassen, um das Elend nicht mehr sehen zu müssen.

Während der Fahrt schliefen alle drei erschöpft aber zumindest über den Erfolg ihrer Reise zufrieden. Lediglich Paula war noch länger wach und träumte von ihrer eigenen Trauung in einer wunderschönen blumengeschmückten Kirche in ihrem Heimatort oder auch woanders.

Der Ort der Zeremonie war ihr ziemlich egal. Egal war ihr der Mann an ihrer Seite natürlich nicht. Weil ihr niemand anderes einfiel, musste Kalle in ihrer Fantasie als Bräutigam herhalten. Selbst schuld, dachte sie. Warum lächelt er sie auch immer so lieb an? Tagträume einer Fünfzehnjährigen.

Später schlief auch sie ein und wachte erst vom Quietschen der Bremsen in Berlin wieder auf. Noch leicht verschlafen sammelte sie ihre Sachen ein und stieg mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus. Die drei hatten Glück und brauchten für die damalige Zeit nur kurze 60 Minuten auf ihren Anschlusszug nach Brandenburg zu warten. Trotzdem war es schon lange dunkel, als Maria mit ihren beiden Töchtern im Kronprinzen ankam. Paul war noch wach, saß auf seinem Lieblingssessel, die Beine auf dem Fußhocker und erwartete seine drei Frauen schon. Na endlich!

»Na, wie war euer Ausflug an die Ostsee? Hattet ihr Erfolg?«, fragte er schelmisch und schwenkte dabei genüsslich ein Glas Rotwein in der Rechten und eine Zigarre in der linken Hand. Es folgte ein guter Schluck aus dem Glas, dann ein langer Zug an dem Tabaktorpedo und mehrere gekonnt geformte Rauchringe, in die hinein seine Frau antwortete:

»Zuerst das Positive: Wir haben die Papiere bekommen«, erzählte sie. »Aber der Anblick der Rostocker Innenstadt war niederschmetternd.« Dann musste sie sich sammeln. »In der Altstadt scheint kaum noch ein Stein auf dem anderen zu stehen. So fürchterlich hatte ich mir die Folgen einer Bombardierung nicht vorgestellt. Hoffentlich ist der Krieg bald zu Ende und uns bleibt solch Tod und Verderben hier in Brandenburg erspart.«

Ihre feucht glänzenden Augen unterstrichen ihre Betroffenheit.

»In der Zeitung und im Radio haben sie die Lage in Rostock mit nur leichten Zerstörungen beschrieben und von den heldenhaften Abwehrgefechten der deutschen Luftabwehr berichtet. Das scheint dann wohl nicht zu stimmen. Man weiß einfach nicht mehr, wem man noch glauben darf«, erwiderte Paul mit nachdenklichem Gesichtsausdruck und konzentrierte sich wieder auf seine Rauchringe. Maria gönnte sich jetzt auch ein Glas von dem französischen Rotwein, Paula und Inge bekamen ein Glas Saft, dann ließen sie den langen, ereignisreichen Tag in Ruhe ausklingen. Jeder war in seine Gedanken vertieft. Hoffentlich ging alles gut.

Jugenddiebe

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