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Die längsten Zöpfe der Stadt

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Männer bewunderten ihre jugendliche Schönheit, Frauen ihre großartige Figur und ihr wunderschönes langes schwarzes Haar, dass sie meistens zu Zöpfen geflochten trug. Sie fiel vielen Menschen auf. Sie kannten sie vom Sehen: die unbekannte Schöne aus Brandenburg. Ja, aber den Namen dieser jungen Frau kannten nur wenige. Meistens nur diejenigen, die ihren Vater, den Hotelier und Restaurant-Besitzer Paul Hirschmann kannten. Wenn unbekannte, neugierige Menschen es wagten, sie anzusprechen, oder sogar nach ihrem Namen fragten, warf sie ihnen einen spöttischen Blick zu, drehte sich schnell um, sodass ihr Zöpfe nach hinten flogen und ging, ohne zu antworten, lachend weiter. So war sie, das Mädchen mit den längsten Zöpfen der Stadt. Wie hieß sie denn nun, diese junge Frau? Ihr Name lag gewissermaßen auf der Hand.

Sie war nach ihrem Vater Paul benannt und hieß ganz einfach Pauline. Pauline Maria Hirschmann. Ihre Familie und Freundinnen nannten sie kurz Paula. Nur ihr Vater sagte ab und zu Pauline zu ihr, wenn es einen ernsten Grund dazu gab oder Paulinchen, wenn er sie ärgern wollte.

Paula war eine »echte Brandenburgerin« und dort im Frühjahr 1927 geboren. Seitdem lebte sie mit ihren Eltern Paul und Maria und ihrer vier Jahre älteren Schwester Ingeborg in einem Nebengebäude ihres Hotels »Zum Kronprinzen« in der nach dem Führer unbenannten Adolf-Hitler-Straße.

Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr half sie nachmittags immer öfter im angeschlossenen Restaurant aus, spülte Geschirr oder bediente manchmal sogar die Gäste. Dafür spendierte ihr Vater Paula ein etwas erhöhtes Taschengeld. Monatlich hatte Paula so drei bis vier Reichsmark zur eigenen Verfügung und manchmal dazu noch ein wenig Trinkgeld von den Gästen. Das reichte, um sich viele schöne Dinge zu leisten. Meistens gab sie ihr Geld für schicke Kleidung, Schuhe oder Kosmetik aus. Manchmal leistete sie es sich, ihre Freundinnen zu einem Kinobesuch mit Konfekt oder Eis einzuladen. Ihre Mutter ermahnte sie zwar oft, etwas für ihre Aussteuer zu sparen, aber das überhörte sie mit einem ironischen Gesichtsausdruck oder reagierte gespielt sauer.

»Aussteuer klingt für mich wie Raussteuer. Ihr wollt mich wohl möglichst schnell loswerden? Das kommt gar nicht infrage«, oder so ähnlich, antwortete sie ihrer Mutter. Ihre freie Zeit verbrachte sie meistens mit ihren beiden besten Freundinnen, Gerda und Hildegard. Die drei waren unzertrennlich und jede Minute zusammen. Sie hatten viel Spaß, alberten herum, lachten viel, lästerten über Jungs und waren schon bald ein stadtbekanntes Trio. Das änderte sich, nachdem Hilde einen gelben Judenstern an ihre Kleidung heften musste. Hilde stand nun oft traurig, sehr traurig, vor einem Schild mit der Aufschrift »Nur für Arier. Juden sind hier unerwünscht«.

Der Spaß zu dritt war nur noch eingeschränkt möglich. Alle drei waren sehr unglücklich darüber, konnten es nicht verstehen und erst recht nicht ändern. Trotzdem versuchten sie, sich irgendwie zu treffen und etwas zu unternehmen. Mist Nazis, dachten sie, hüteten sich aber, ihre Gedanken laut auszusprechen.

Hilde musste nun gezwungenermaßen den Stern tragen. Paula und Gerda steckten gezwungenermaßen in der Uniform des BDM, dem »Bund Deutscher Mädel«. Alle drei wurden von dem herrschenden System der Nationalsozialisten dazu gezwungen sich so darzustellen und ihnen blieb keine andere Möglichkeit, als sich an diese Weisung zu halten. Der Judenstern für die eine und die Mitgliedschaft im BDM für die beiden anderen waren Pflicht. Ohne Ausnahme. Verstöße dagegen wurden sofort geahndet, ja sogar mit Gefängnisstrafen belegt. Trotz dieses Risikos war es für die Mädels wichtig, etwas gemeinsam zu erleben. Solange dies überhaupt noch möglich war.

Kurz vor Weihnachten schlug Paula ihren Freundinnen deshalb vor, in die Nachmittagsvorstellung des örtlichen Kinos zu gehen

»Das Jahr ist fast zu Ende, Mädels, und wir haben seit Wochen nichts zusammen unternommen. Was haltet ihr von einem Kinobesuch? Oder habt ihr eine bessere Idee?« Gerda und Hilde grinsten nur, was Paula als klare Zustimmung ansah. Also verabredeten sie sich für den nächsten Tag. Es war das letzte Mal, dass die drei Freundinnen gemeinsam einen Film ansehen konnten. Die Kinos zeigten für den Geschmack der drei zu viele nervige Musikfilme.

»In der Wochenschau Krieg und Verbrechen und im Hauptfilm trällernde Schauspieler. Das ist wirklich nicht auszuhalten«, kommentierte Paula die aktuelle Filmauswahl in den Brandenburger Lichtspielhäusern. »Wenn es schon keine romantischen Liebesfilme zu sehen gibt, sollte es zumindest etwas zum Lachen sein.«

Ein Garant für viele Lacher und leichte Unterhaltung war Heinz Rühmann. Also beschlossen sie, sich »Quax der Bruchpilot«, den neuesten Rühmann-Film anzusehen. Sie waren rechtzeitig beim Konzerthaus-Lichtspiele, stellten sich in die Schlange vor der Kasse, die noch geschlossen war und warteten geduldig. Weiter vorne alberten zwei auffallend große Jungs ungeniert und laut herum. Der eine blond und bestimmt blauäugig, der andere braunhaarig mit wohl dunklen Augen, so schätzten die Mädels die beiden auf jeden Fall ein. Also nicht so schlecht, wenn man sie als Beute betrachtete.

»Die sind bestimmt genauso frech, wie sie lang sind«, bewertete Paula die Jungs auf ihre Art. Sie bemerkte wohlwollend, dass der große Blonde sich mehrmals zu ihr umdrehte und sie etwas verlegen, aber interessiert anschaute.

»Was will dieser Bubi denn?«, meinte Gerda laut, die sich wohl ebenfalls beobachtet fühlte und die Blicke auf sich bezog. Beim vierten oder fünften Blickkontakt konnte sich Paula ein leichtes Grinsen nicht mehr verkneifen. Siehe da, der Blonde lächelte zurück. Oder?

»Vielleicht ist er doch netter, als ich im ersten Moment gedacht habe«, überlegte Paula etwas zu laut.

»Was ist los?«, wollte Hilde wissen.

»Ach, gar nichts ist los«, antwortete Paula schnell ausweichend und schaute noch einmal in Richtung des großen Blonden. Na, erst einmal abwarten, dachte sie. Die über 1000 Plätze in dem pompösen Saal des Lichtspielhauses waren fast ausverkauft und die drei Mädels saßen etwa in der Mitte der riesigen Film-Vorführhalle. Kaum hatten sie Platz genommen, ging das Licht schon aus und die Wochenschau startete.

Wie immer liefen seit Ende 1939 statt der normalen durchaus interessanten Wochenschauen nur noch Kriegswochenschauen. Keine Reportagen von berühmten Stars, bekannten Adligen oder aufstrebenden Künstlern aus Musik und Bühne. Es wurden ausschließlich schreckliche Bilder von zerstörten russischen Städten und von übertrieben strahlenden deutschen Helden beim Vorrücken auf Moskau gezeigt. Zum Ausgleich gab dann ein Kinderchor »Siehst Du im Osten das Morgenrot« zum Besten. Trauermusik untermalte den nächsten Bericht über den Heldentod zweier erfolgreicher Jagdflieger. Ernst Udet starb heldenhaft (angeblich) beim Test eines neuen Flugzeugtyps, der als Geheimwaffe gegen die übermächtigen Feinde eingesetzt werden sollte. Der andere Trauerfall war der Brandenburger Held der Lüfte, der bekannte Jagdflieger Werner Mölders, der bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Breslau sein Leben verlor. Dieser Beitrag versetzte vier Reihen vor dem Mädchen-Trio die beiden flugbegeisterten Freunde, Kalle und Wolle, in spontan empfundene Trauer. Udet und Mölders waren ihre größten Helden. Unbesiegbare Helden der Luftfahrt. Echte Siegertypen eben. Beide Jungs waren regelrecht erschüttert darüber, dass auch deutsche Helden sterben konnten und verkniffen sich sogar ein paar unmännliche Tränen, indem sie mehrmals tief durchatmeten.

»Heldentod ist Ehren-Tod«, bemerkte Wolle nachdenklich. »Trotzdem schade um diese Vorbilder meiner Jugend. Sie werden mir fehlen.«

Nach einer kurzen Pause begann endlich der Hauptfilm. Im nächsten Moment raste ein Flugzeug über die Leinwand, drehte Kurven und Loopings, dann das entspannte Gesicht von Heinz Rühmann. Wie immer mit seinem bekannt charmanten Lächeln, den strahlendsten Augen nach Hans Albers und einem Lausbubengrinsen, das ihn in seinen zahlreichen Rollen populär gemacht hatte und das seine Fans an ihm so liebten. Besonders die weiblichen Anhänger des Schauspielers.

Die Geschichte war simpel und ein gelungenes Beispiel nationalsozialistischer Filmpolitik. Der sehr kleine Angestellte Otto Groschenbügel, genannt Quax, gewinnt eine kostenlose Sportfliegerausbildung und wird über Nacht zur Berühmtheit. Aus Otto dem Angsthasen wird Otto der Fliegerheld. Viel Situationskomik, zahlreiche gewagte Flugszenen, aber auch gelebte Werte wie Disziplin, Kameradschaft und soziale Anpassung zeichneten das Bild eines offensichtlichen Versagers, der zum deutschen Helden wurde. Der Film sollte der Werbung für die Luftwaffe dienen. Selbst Adolf Hitler, dem der Film in seinem Hauptquartier mehrmals vorgeführt wurde, war von Quax begeistert.

Nach anderthalb Stunden ging das Licht im Konzerthaus-Lichtspiele wieder an und die drei Mädchen beeilten sich, schnell vor diesen aufdringlichen Jungs, die sie mit ihren Blicken dermaßen respektlos belästigten, nach draußen auf die ehemalige Steinstraße zu kommen. Sie taten zumindest so, als ob sie vor ihnen fliehen wollten. Ein altes, ewig junges Spiel begann. Kalle und Wolle hatten eigentlich keinen Mut, hätten es nie gewagt, die Mädels anzusprechen, und blieben daher aus strategischen Gründen oder einfach aus Schiss vor dem anderen Geschlecht, länger im Kino sitzen, als es nötig war. Pech für die beiden Möchtegern-Helden war es, dass Paula, Gerda und Hilde denselben Weg nach Hause nutzten wie sie, wohl bewusst etwas trödelten, lange vor jedem Schaufenster stehen blieben und ausgiebig über die neueste Mode oder Frisuren redeten. Klare Absicht oder doch nur Zufall? Das ließ sich nicht mehr so genau sagen und keines der drei Mädels hätte es ehrlich zugegeben, aber das Schicksal sollte wie immer seinen Gang nehmen.

Das Zusammentreffen der Mädels und der Jungs war eine Mischung aus Peinlichkeit, verstohlenem Lächeln und Austausch von eindeutig interessierten Blicken beider Lager. Nach ein oder zwei Minuten unfreiwilliger Situationskomik musste endlich etwas geschehen, dachte sich der blonde Kalle, mit vollkommen blöden Worten.

»Na, auch im Kino gewesen«, nahm er allen Mut zusammen und eröffnete eine Art zaghaften Gesprächsversuchs. Die Antwort war erst einmal leises Gekicher der drei Mädels, dann Geflüster und schließlich eine kesse Reaktion. Angriff war bekanntlich die beste Verteidigung.

»Als ob ihr das nicht wüsstet, ihr Helden des Lichtspielhauses. Ihr habt uns doch schon in der Kassenschlange beobachtet«, antwortete Paula nach einer kurzen Bedenkzeit mutig und mit einem frechen unmissverständlichen Augenaufschlag. Dabei fixierte sie Kalle, was diesem ordentlich Farbe ins Gesicht trieb. Niedlich. Verlegenes Grinsen beider Jungs, die sich ausgiebig ihre ungeputzten Schuhe ansahen, war die einzige Reaktion. Sie fühlten sich von der Mädchenbande ertappt.

Voll erwischt! Die hatten es gemerkt. Wie peinlich war das denn? In der Spiegelung einer gesprungenen Schaufensterscheibe des ehemaligen Zentral-Kaufhauses, das im Novemberpogrom verwüstet worden war, beobachteten sie die Mädels, die unvermindert ihre Köpfe zusammen steckten, immer wieder kurz zu den Jungs schauten und albern kicherten. Hier wurde eindeutig gelästert, was Kalle und Wolle zusehends unsicherer werden ließ. Sie hätten gerne auf Paulas Aussage hin geantwortet, ihnen fiel aber auch nach minutenlanger Bedenkzeit nichts Spontanes ein.

»Schnell weg«, flüsterte Kalle seinem Kumpel leise ins Ohr und machte erste Anzeichen, sich zügig zu verabschieden und die peinliche Situation damit zu beenden. »Dann mal noch einen schönen Abend und bis bald.« Nach diesem kurzen Satz löste sich die gemischte Gesellschaft etwas ratlos auf. Kalle atmete durch. Wolle war auch ernsthaft erleichtert.

»Dett ist jerade noch ma jutjejangen«, berlinerte Kalle mit leicht rotem Kopf vor sich hin.

Paula lächelte ihre Mitstreiterinnen an.

»Na, das waren ja zwei drollige Helden. Lang wie Fahnenmasten aber ängstlicher als Karnickel vor dem Fuchs. Dann kieken wa ma, wann wir die beiden wieder treffen.«

In dieser Nacht träumte Kalle nicht davon, Flieger zu werden. Er träumte zum ersten Mal von dem hübschen Mädchen mit den längsten Zöpfen der Stadt. Wie nannten sie ihre Freundinnen? Er glaubte, sie hieß Paula, überlegte Kalle beim Einschlafen. Paula, ach Paula. Meine Paula?

»Hörte sich gut an«, bestätigte er sich selbst.

1942

Jugenddiebe

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