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Gutes Rad ist teuer

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Kalle freute sich wie Bolle, als er die Belobigung seiner Firma in Höhe von fünfzig Reichsmark als Jahrgangsbester im ersten Lehrjahr in seinen Händen hielt. Fünfzig Reichsmark waren sehr viel Geld für die damalige Zeit, in der ein Kilo Butter etwa acht Reichsmark kostete. Kalle brauchte allerdings keine Butter. Kalle brauchte dringend ein neues Fahrrad. Er schüttete sein Sparschwein aus Kindertagen aus, zählte seine Penunzen zusammen, die er bisher von seinem Lohn gespart hatte und legte den Fünfziger dazu. Es waren nun über hundertzwanzig Reichsmark, die er in die ohnehin marode Wirtschaft investieren konnte. Jetzt oder nie, überlegte er. Jetzt ist ein neues Fahrrad fällig. Man muss sich schließlich auch selbst belohnen. Haste jut jemacht, Kalle. Gönn dir was!

Bei dem Gedanken an ein nagelneues glänzendes Sportrad stand ihm die Vorfreude ins Gesicht geschrieben. So ertappte ihn seine große Schwester und nutzte die Gelegenheit, ihn zu ärgern.

»Wovon träumst du gerade? Von deiner Freundin oder mal wieder vom Fliegen?«

»Du liegst wie immer meilenweit daneben. Es geht dich zwar nichts an, aber ich verrate es dir trotzdem. Mein alter klappriger Blechgaul hat seine Schuldigkeit getan, bekommt den Gnadenschuss und hat endgültig ausgedient. Ich habe jetzt das Geld zusammen für einen neuen Drahtesel. Wat sagste nun? Da staunste Bauklötze, wa?«

Die Entscheidung war gefallen. Ein neues Rad musste her.

Noch am selben Nachmittag ging Kalle zu Fuß in die Stadt. Sein Ziel war Fahrrad Neumann im Kurfürstenhaus. Das Fahrradgeschäft war bekannt dafür, die beste Auswahl in ganz Brandenburg zu bieten. Jedenfalls war das vor dem Krieg der Fall. Der zukünftige Sportradfahrer war sehr gespannt, ob das auch im dritten Jahr der kriegerischen Auseinandersetzungen mit fast allen Nachbarstaaten Europas und den vereinigten Staaten von Amerika stimmen würde. Importware konnte es jedenfalls nicht geben. Egal, Kalle bevorzugte sowieso deutsche Qualitätsprodukte. Das hatte ihm sein Vater Willi so eingebläut.

Er beeilte sich, an diesem schwülwarmen Sommertag in das Stadtzentrum zu kommen, denn es sah gefährlich nach Gewitter und Regen aus. Nass zu werden, musste nicht sein, dachte er, hatte aber Glück und erreichte den Laubengang des markanten Gebäudes, kurz bevor ein heftiger Wolkenbruch losging. Im Schaufenster orientierte er sich erst einmal und betrat voller Elan und entschiedenen Schrittes das Geschäft.

Ding Dong ... ertönte die Ladenglocke. Nichts passierte. Kalle machte die Ladentür nochmals auf und zu. Ding Dong; Ding Dong. Die Botschaft für den Ladenbesitzer war eindeutig: Hier drohte ein Kunde mit Kauf. Es dauerte weitere Minuten. Aus Kalles Wahrnehmung heraus eine Stunde, bis endlich ein freundlich grüßender Mann mittleren Alters, der sehr beschäftigt tat, den Verkaufsraum betrat. Er wischte sich die Hände an seiner grauen Schürze ab, entschuldigte sich für sein verzögertes Erscheinen und stellte sich als Herr Neumann vor.

»Was kann ich für den jungen Mann tun?«

Junger Mann ging ihm runter wie Öl und er antwortete mit unverhohlenem Stolz in der Stimme:

»Ich habe von meinem Meister eine Prämie bekommen und möchte diese in ein neues Fahrrad für mich investieren.«

Bei diesen Worten streckte er sich und schien nochmals ein ganzes Stück größer zu werden. Der große Blonde überragte den kompakten Fahrradverkäufer um Haupteslänge, konnte sich dessen bemitleidenswerten restlichen Haarkranz von oben ansehen und verkniff sich, über dessen Tonsur zu spotten.

»Das ist ein ausgezeichneter Plan. Dann schauen wir mal, ob ich etwas Passendes für dich da habe«, begann Neumann das Verkaufsgespräch, rieb sich in Vorfreude auf seine Einnahme die Hände und strahlte Kalle an. »Hast du dich schon für eine bestimmte Marke entschieden? Wie führen Herrenräder von Brennabor, direkt aus der Brandenburger Fabrik, aber auch Wanderer, NSU und Viktoria, allerdings nicht mehr in allen Größen. Die meisten frisch produzierten Räder gehen jetzt an die Front.«

»Die Marke ist mir eigentlich egal, aber eine Dreigang-Torpedo-Schaltung hätte ich gerne. Ein Sportrad würde mir gefallen, ein Gepäckträger wäre auch sehr praktisch.«

»Das habe ich verstanden. Ich denke, bei deiner Größe sollte es ein sechziger Rahmen und eine Achtundzwanziger Radgröße sein. So viele davon habe ich allerdings nicht mehr. Ich geh mal kurz ins Lager und bin sofort wieder bei dir.«

Nach einer weiteren viertel Stunde tauchte er wieder auf und schob ein wunderschön glänzendes blaues Sportrad vor sich her. Er klappte mit dem Fuß den Fahrradständer runter und platzierte es unmittelbar vor Kalles Augen, die bei diesem Anblick schon deutlich größer wurden. Das Rad war ein Wahnsinns-Teil! Das oder keins. Über dem Vorderrad prangte das NSU-Schutzblechzeichen in Form einer Vogelschwinge, direkt darüber das Steuerkopfschild von NSU. Das fand Kalle einfach nur schön. Mehr als schön. Fantastisch! Er konnte sein breites Grinsen nicht mehr unterdrücken, zum Verhandeln fehlte ihm das passende Pokergesicht. Herr Neumann sah ihm seine Schwäche als erfahrener Verkäufer an und legte noch einige Verkaufsargumente nach.

»Da hast du aber Glück gehabt. Mein letztes NSU-Sportrad Modell 102, noch Vorkriegsware, Jahrgang 39. Echter Ledersportsattel, eleganter Sportlenker, Tretstrahlerpedale, Glocke, Pumpe und in elegantem Fischsilberblau herrlich lackiert. Und das Ganze für nur hundertzwanzig Reichsmärker. Weil du es bist, sagen wir hundertzehn Reichsmark. Was meinst du? Gefällt es dir? Also ja oder ja. Möchtest du eine Probefahrt machen?« Diese Frage hätte sich Herr Neumann sparen können. Kalles überglücklicher Gesichtsausdruck war eindeutig Antwort genug. Er brachte gerade noch ein »Na klar will ich« heraus, da fing der Fahrradhändler bereits an, Sattel und Lenker für den groß gewachsenen jungen Mann einzustellen. Dann schob er das Rad in Richtung Ausgang und übergab es Kalle lächelnd mit den Worten:

»Dann mal gute Fahrt. Wenn du in einer viertel Stunde nicht zurück bist, rufe ich die Polente. Bis gleich und fahr vorsichtig.«

Das mit der Polizei war selbstverständlich als Scherz gemeint.

Kalle drehte ein Runde durch die Altstadt, probierte dabei alles aus und war bereits nach fünf Minuten zurück. Völlig begeistert. Ein Traum wurde wahr! Kein Vergleich mit seinem alten klappernden Fortbewegungsmittel. Herr Neumann hatte bereits siegessicher in weiser Voraussicht die Quittung ausgestellt, sodass Kalle nur noch bezahlen musste und stolz mit seinem neuen Sportgefährt das Geschäft verließ. Er fühlte sich wie Bolle zu Pfingsten und kam sich auch so vor. Erst als er eine Weile draußen war, bemerkte er, dass gerade scheinbar die Welt unterging. Blitz, Donner und ein mächtiger Wolkenbruch zwangen ihn, sich im sicheren Laubengang unterzustellen. Sein neues Sportrad sollte doch nicht schon am ersten Tag nass werden. Das musste ja nicht sein, oder?

Im nächsten Moment traf ihn trotzdem auf andere Weise der Blitz. Als sich Kalle umdrehte, entfuhr ihm ein spontanes »Ick glob mir trifft der Schlag«, verbunden mit ebenso spontan einsetzendem Herzrasen. Mit einer Strickjacke als Regenschutz über dem Kopf gestülpt, stand Paula plötzlich vor ihm. Erst als sie diese Behelfskapuze vom Kopf nahm, erkannte Kalle sie und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Als die hübsche junge Dame entdeckte, wer neben ihr stand, lächelte sie so bezaubernd, dass Kalle sofort rot wurde. Ein neutrales Rot versteht sich. Das fand er ziemlich ärgerlich. Seine Beherrschung war augenblicklich dahin.

»Hallo Paula, ich finde es schön, dich hier zu treffen«, bekam er, leiser als er es wollte, zwischen den Zähnen durchgequetscht. Dann nahm er allen Mut zusammen.

»Schade, dass es so regnet, sonst könnten wir ja zusammen ein Eis essen gehen.«

»Ja das ist sehr schade, Kalle, aber ich muss heute sowieso in unserem Restaurant helfen und habe leider keine freie Zeit«. Ihr Lächeln verstärkte sich nochmals und ihre smaragdfarbenen Augen strahlten ihn auffallend an.

»Aber morgen Nachmittag habe ich frei. Wie sieht es da bei dir aus?«

»Prima! Was hältst du davon, wenn wir uns am Grillendamm bei der Badeanstalt treffen? Morgen soll ein schöner warmer Tag werden und wir könnten zusammen Schwimmen gehen und anschließend lade ich dich zu einem Eis im Terrassen-Café ein. Wie wäre es um vier Uhr? Oder lieber erst um fünf?«

»Wunderschön, vier Uhr passt mir perfekt«, antwortete Paula schnell, ohne seinen Vorschlag zu kommentieren. »Dann sehen wir uns morgen um Vier. Ich freue mich.«

Mit einem selbstsicheren Lächeln verabschiedete sich Paula, stülpte ihre Jacke wieder als Regenschutz über ihre langen Zöpfe und rannte schnell in Richtung des Kronprinzen.

»Ich mich auch«, flüsterte Kalle. »Sehr sogar!«, aber das Mädchen mit den längsten Zöpfen der Stadt hatte die nächste Straße bereits überquert. Kalle blieb noch etwas stehen. Was war das denn eben?, fragte er sich. Hatte er sich ernsthaft getraut, Paula einzuladen? Kaum zu glauben. Das war heute sein Glückstag! Erst die Belobigung, dann das neue Fahrrad und jetzt noch eine Verabredung mit Paula. Kalle, du stehst auf der Sonnenseite des Lebens!

»Alter Glückspilz. Mach weiter so«, munterte er sich selbst auf.

Jugenddiebe

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