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Karriere in schwierigen Zeiten

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Kalles Schwester Lotte wusste nicht, ob sie sich freuen oder entsetzt sein sollte. Eigentlich hätte sie damit rechnen müssen.

In dem Brief, der vor ihr auf dem Küchentisch lag, wurde die Wichtigkeit des Arbeitseinsatzes von Frauen in der Rüstungsindustrie als Ehrendienst am deutschen Volke hervorgehoben. Alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts waren verpflichtet, ihrem Volke zu dienen. Die deutsche Jugend sollte im Geist des Nationalsozialismus zur Volksgemeinschaft und zur wahren Arbeitsauffassung, vor allem zur gebührenden Achtung der Handarbeit erzogen werden.

»Aus diesem Grund wird Fräulein Charlotte Bergmann mit dem Datum 1. Dezember 1942 zu einer Tätigkeit in den Opel Werken Brandenburg der Adam Opel AG verpflichtet. Genaue Angaben zur Tätigkeit erhalten Sie bei Arbeitsantritt vor Ort«, las Lotte ihrem Bruder Kalle laut vor.

»Gut ist, dass ich jeden Tag mindestens drei Stunden Fahrerei weniger habe«, dachte sie laut. »Aber statt der Arbeit im KaDeWe nun bei Opel am Fließband zu stehen, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

»Warte es doch ab«, versuchte Kalle sie aufzumuntern. »Vielleicht wirst du ja die Sekretärin des Opel-Vorstands. Der wartet bestimmt schon auf dich.« Das war nicht ernst gemeint, deshalb fügte er grinsend hinzu:

»Wenn du bei Opel anfängst, kaufst du dir endlich mal ein vernünftiges Fahrrad und radelst täglich zur Arbeit. Zehn Minuten hin und Zehn zurück. Das ist bestimmt gut für deine Figur. Außerdem darfst du dich, ohne rot zu werden, die Flotte-Lotte nennen.«

Lottes rechte Hand zuckte leicht, aber sie konnte sich beherrschen.

»Frecher Kerl. Denk mal lieber an deine eigene Figur, du Spargel-Tarzan«, konterte sie beleidigt und verzog sich in ihr Zimmer. An der Tür prangte schon lange das Schild »Eintritt für kleine doofe Brüder verboten«.

Geschwisterliebe war immer schon etwas Besonderes.

In den folgenden Nächten träumte Lotte von Fließbandarbeit, sah sich im Traum neben Charlie Chaplin stehen und wie in Trance an irgendwelchen Autoteilen schrauben. Ihre eintönige Arbeit bestand darin, gleichzeitig zwei Schraubenmuttern mittels zweier schwerer Schraubenschlüssel festzudrehen und das Ganze unter immer höher werdendem Fertigungstempo. Ein wahrer Alptraum!

Am ersten Dezember stand Lotte pünktlich vor dem imposanten Tor des Opel-Werkes und meldete sich beim Pförtner.

»Guten Morgen. Mein Name ist Charlotte Bergmann, ich soll heute hier anfangen.«

»Hallo Fräulein Bergmann, wir haben Sie schon erwartet. Ich rufe eben Herrn Lewandowski vom Werksschutz an. Der holt Sie hier gleich ab und führt mit Ihnen ein erstes Gespräch.«

Nach wenigen Minuten kam ein Mann in SA-Uniform schnellen Schrittes auf die Pförtnerloge zumarschiert. Er grüßte mit »Heil Hitler«, lächelte aber freundlich und reichte Lotte die Hand. Er stellte sich als Leiter des Werkschutzes, Sturmbandführer Helmut Lewandowski, vor.

»Schön, Fräulein Bergmann, dass Sie so pünktlich erschienen sind. Das schätzt Ihr neuer Vorgesetzter in besonderem Maße.«

Aha, dachte die so Angesprochene, die hatten sie also fest eingeplant. Einen Chef gab es auch schon. Ob sie da ein Wörtchen mitzureden hatte? Wahrscheinlich nicht. Der Werkschutzleiter deutete ihr an, ihm zu folgen. Sein Tempo drosselte er dabei nicht, sodass Lotte es schwer hatte, ihm auf ihren etwas zu hohen Absatzschuhen zu folgen.

In einem kleinen, aber lichtdurchfluteten Büro führte er ein kurzes Gespräch mit der zukünftigen Opelanerin. Es war wohl eher eine notwendige Formalität, als ein ernst gemeintes Vorgespräch. Lewandowski wusste bereits, dass Willi Bergmann bei der SS und mit Theodor Tischler, dem Brandenburger Ortsgruppenführer, befreundet war. Das genügte praktisch und machte die Sache deutlich einfacher für die Kandidatin. Alles klar, dachte sich Lotte. Daher wehte der Wind. Alles eine einzige Mischpoke. Da hätte Vati sie ruhig vorwarnen können. Nach ein paar belanglosen Fragen bat er die nun etwas selbstbewusstere Aspirantin, ihm ein weiteres Mal zu folgen. Sie gingen durch die riesige Empfangshalle, stiegen in einen für Führungskräfte reservierten Fahrstuhl und fuhren in die dritte Etage. Die Chefetage.

»In diesem bescheidenen Büro haust Ihr neuer Chef mit seinem Stab«, erklärte der Sturmbannführer und klopfte an eine sehr massiv wirkende Eichenholztür.

»Heil Hitler. Ich bringe Ihnen hier Fräulein Bergmann. Herr Direktor Nordmann erwartet Sie zum Bewerbungsgespräch«, sagte er und verabschiedete sich genauso zackig, wie er Lotte begrüßt hatte, dann verließ er den Raum.

Aus dem Inneren kam ein gutaussehender Mittvierziger auf sie zu, begrüßte sie ohne den deutschen Gruß mit einem einfachen »Hallo Fräulein Bergmann. Schön, dass Sie es einrichten konnten«, und bat sie in den angrenzenden Besprechungsraum. Schön, dass sie es einrichten konnte? Was sollte das denn heißen? Lotte war irritiert. Hatte sie denn eine andere Wahl? Na, mal abwarten, was dieser Mensch von ihr wollte.

»Sie werden sich sicherlich etwas wundern, was heute hier passiert«, dann hielt er plötzlich inne, so als wäre ihm etwas eingefallen. »Ach, bevor ich vergesse, mich vorzustellen, mein Name ist Werner Nordmann, ich leite das Opel-Werk Brandenburg und suche dringend nach einer erfahrenen und hochmotivierten Assistentin.« Das Vorstandsmitglied bei der Adam Opel AG, der sich gleichzeitig Wehrwirtschaftsführer nennen durfte, führte ein etwas anderes Bewerbungsgespräch.

»Sie sind mir wärmstens empfohlen worden und ich wollte Sie deshalb persönlich kennenlernen. Falls Sie Bedenken hatten, was einen Arbeitseinsatz bei Opel betrifft, kann ich Sie beruhigen. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass wir intelligenten jungen Damen einen Blaumann verpassen und sie in die Produktion stecken. Für die Arbeit am Band haben wir ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte. Die Hälfte von ihnen ist allerdings aus dem Ausland ausgeliehen«, er füllte zwei Gläser mit Mineralwasser und reichte eines davon Lotte.

»Aber jetzt zu Ihnen. Ich benötige selbstverständlich Unterstützung bei der Erstellung von Geschäftsbriefen. In diesem Zusammenhang interessiert es mich, wie es mit ihren Schreibmaschinenkenntnissen und Stenografie aussieht? Sie müssen wissen, wir sind hier zwar bei Opel, arbeiten aber mit der Mercedes Elektra Schreibmaschine.«

Diesen Scherz quittierte Lotte mit einem zaghaften Lächeln und hörte ihrem zukünftigen Vorgesetzten wieder konzentriert zu.

»Damit sollten begabte Sekretärinnen wahrscheinlich über 200 Anschläge pro Minute schaffen. Wie steht es bei Ihnen mit dieser Fähigkeit?«

Lotte fand ihren möglichen neuen Direktor immer noch sympathisch und beantworte seine Frage ebenfalls mit einem Lächeln.

»In meiner Lehre habe ich Zehnfingerschreiben gelernt und mich seitdem weiter verbessert, also Zehnfinger Blindschreiben geübt. Bei meinem letzten 10-Minuten-Test erreichte ich 320 Anschläge pro Minute. Mit etwas Training sicherlich auch mehr. Und Steno? Selbstverständlich habe ich in meiner Lehre die deutsche Einheitskurzschrift gelernt und in meiner letzten Tätigkeit intensiv angewandt. Passt das zu ihren Anforderungen?«

»Das hört sich für mich perfekt an. Wenn Sie nichts dagegen haben, dürfen Sie nun unter Beweis stellen, was Sie können. Ich würde Ihnen einen kurzen Brief diktieren und sie bitten, diesen dort im Nachbarraum, Ihrem zukünftigen Büro, fertig zu tippen.« Noch bevor Lotte »Nein« sagen konnte, hatte sie einen Stenoblock und einen Stift in der Hand und Direktor Nordmann legte in einem beachtlichen Tempo los.

»An den Präsidenten von General Motors, Alfred Pritchard Sloan Junior …«

Lotte wurde nun doch etwas nervös und kam richtig ins Schwitzen.

Der Bleistift kratzte in größter Eile über das Papier und sie war froh, dass auch der Vorstand eines Weltkonzerns ab und zu mal Luft holen musste.

Nach fünf Sätzen war das Diktat zu Ende und Lotte konnte aufatmen. Nun aber ran an die Elektra, war ihr nächster Gedanke. Wo war bloß der verflixte Knopf zum Anschalten?, dachte die zukünftige Vorstandssekretärin, fand ihn Augenblicke später und ließ die Tasten klappern. Ihre Fingerspitzen schienen Funken zu sprühen. Sie erwartete, dass als Nächstes Rauch aus der Maschine aufsteigen würde und diese ein deutliches Zeichen der Aufgabe signalisierte. Doch nichts davon geschah. Nach drei Minuten war der Geschäftsbrief fertig und sie zog das beschriebene Papier heraus.

In gefühlter Rekordzeit übergab Lotte den sauber getippten Brief an die Unternehmenszentrale ihrem zukünftigen Vorgesetzten. Nordmann staunte nicht schlecht, schaute lediglich kurz auf das fertige Schreiben, fand keinen Fehler und sagte mit einem breiten Grinsen im Gesicht:

»Willkommen beim größten Autohersteller Europas. Ich erwarte Sie morgen um acht Uhr hier in meinem Büro. Ihr Arbeitsvertrag liegt mir bis dahin vor und wir können in Ruhe die Rahmenbedingungen unserer Zusammenarbeit abstimmen. Jetzt bedanke ich mich und wünsche Ihnen einen schönen Feierabend. Was ich noch nebenbei erwähnen möchte ist, meine liebe Frau heißt auch Charlotte. Ich nenne sie allerdings kurz Charly, das klingt amerikanischer und passt besser zu unserem Konzern, wenn Sie verstehen.«

Er hätte fast laut gelacht, beherrschte sich gerade noch und winkte seiner neuen Vorstandssekretärin zum Abschied zu. Mit einem »Na dann bis morgen, Herr Direktor« machte sich Lotte auf den Heimweg.

Das Gefühl, gerade einen Kampf gewonnen zu haben, begleitete sie noch tagelang.

Am Abend knöpfte sie sich erst einmal ihren Vater und ihren Bruder vor.

»Gebt es zu, ihr habt gewusst, dass ich nicht am Fließband bei Opel arbeiten soll, sondern in der Führungsetage«, schimpfte sie. »Ich überlege es mir noch, ob ich euch verzeihe. Wahrscheinlich nicht so schnell. Nicht so ohne Weiteres jedenfalls. Diese Niedertracht schreit nach Rache!« Dann aber lachte sie fröhlich und erzählte von ihrem erfolgreichen Vorstellungsgespräch. Ihr Vater, ihre Mutter und auch Kalle freuten sich mit ihr und gratulierten der neuen Chefsekretärin.

»Karriere in schwierigen Zeiten ist also möglich«, sagte Kalle bewundernd.

»Allerdings nur mit Vitamin B«, bestätigte seine große Schwester.

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