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Nu wird’s ernst

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Mathematik, Physik und Zeichnen mit Bestnote »sehr gut« bestanden. Ende März fanden überall im Reichsgebiet die Schulentlassungsfeiern statt und Kalle bekam endlich sein Abschlusszeugnis überreicht. Er konnte stolz darauf sein, die Volksschule, ohne ein einziges »befriedigend« mit einem Durchschnitt von eins Komma fünf bestanden zu haben. Seine Eltern freuten sich über diese tolle Leistung. Sein Vater quetschte sogar ein »Hast du gut gemacht« zwischen den Zähnen hervor, was bei Willi schon ein großes Lob war.

Die Mittlere Reife hätte er mit Sicherheit ebenfalls mit Leichtigkeit geschafft, aber das war leider aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich. Arbeiterkind blieb Arbeiterkind, dachte er etwas traurig.

Sein alter Rektor, Martin Krause, der als strammer Nazi bekannt war, ließ es sich nicht nehmen, eine seiner von allen Schülern gefürchteten Reden zu halten. Seine einschläfernde Ansprache endete mit einem krachenden Appell an die Schüler, für die jetzt der Ernst des Lebens beginnen würde:

»Wir alle hier möchten, dass ihr deutschen Jungs und Mädels in euch alles vereint, was wir uns Gutes von Deutschland erhoffen. Wir wollen, dass dieses Volk nicht verweichlicht, sondern dass es durch euch, unserer gestählten Jugend, hart wird. Ihr werdet lernen, Entbehrungen auf euch zu nehmen, ohne jemals zusammenzubrechen! Euch gehört die Zukunft und ihr werdet mit höchster Selbstlosigkeit unsere Nation vorantreiben. Sieg Heil.«

Sein rechter Arm schnellte nach oben und er verließ das, auf seinen Wunsch hin, mit einer roten Flagge mit Hakenkreuz auf weißem Grund dekorierte Rednerpult. Seine stolzgeschwellte Brust kündete davon, dass er offensichtlich mit sich und seiner Leistung zufrieden war.

Schon wenige Tage danach begann für Kalle der sogenannte Ernst des Lebens. Zumindest wurde es ernst für ihn. Er fuhr zusammen mit seinem Vater nach Brandenburg zur Arado, um seinen Einstellungstest zu machen, zu dem er kurzfristig eingeladen worden war. Willi hatte seine neue SS-Uniform an und sah darin ziemlich schneidig aus. Jedenfalls nicht wie ein Hilfsarbeiter. Das lag auch an seinem neuen, selbstbewussten Auftreten. Uniform macht eben mehr her als Manchesterhose. Am Werkseingang verabschiedete er sich von seinem Sohn.

»Du schaffst das, Kalle. Ich bin stolz auf dich!«

Das hörte Kalle von seinem sonst eher wortkargen und emotionslosen Erzeuger zum ersten Mal. Gerührt, glücklich und moralisch gestärkt winkte er seinem Vater noch einmal zu und ging durch das riesige eiserne Tor, meldete sich beim Pförtner, zeigte sein Einladungsschreiben und ließ sich von ihm den Weg zum Prüfungsraum zeigen.

Es war für Kalle sehr beeindruckend, das Firmengelände zu betreten. Er kam sich richtig klein vor, geradezu winzig, trotz seiner guten 1,80 m. Er staunte über die riesigen Werkshallen, die den Himmel beim Vorbeilaufen verdunkelten und über die bereits fertiggestellten Flugzeuge, die davor aufgereiht waren. Ein himmlischer Anblick für seine Augen.

Überall herrschte Betriebsamkeit.

Lastkraftwagen lieferten Material in Lagerhallen, kleine Transportfahrzeuge brachten Teile in die Montagehallen und Schlepper zogen fertig montierte Ar 96 oder aber hier gefertigte Rümpfe und Tragflächen anderer Flugzeuge auf den etwa vier Fußballfeldern großen betonierten Platz. Hier und da standen Männergruppen in Arbeitskleidung, die rauchend eine Pause machten und sich leise unterhielten. Kalle bekam jetzt richtig Respekt vor dem, was auf ihn zukam. Für den Vierzehnjährigen war das eine neue, große und spannende Welt, in die er bald eintauchen sollte und zu der er bald gehören würde. In Kürze werde ich ein Teil dieses bunten Treibens sein, dachte Kalle. Ich schaffe das! Das ist doch wohl klar wie Kloßbrühe. Etwas nervös war er verständlicherweise trotzdem. Das hätte er aber niemals zugegeben.

Kurz darauf meldete er sich, wie vom Pförtner empfohlen, im Eingangsbereich des Verwaltungsgebäudes, das etwas weniger grau aussah als die Werkhallen. Ein älterer Mann im Anzug, der sich als Herr Treskat vorstellte, erwartete ihn scheinbar schon und begrüßte ihn freundlich.

»Ich bin der Leiter der Ausbildungsabteilung. Guten Tag Kalle. Du wurdest mir bereits angekündigt. Schön, dass du gekommen bist. Ich wünsche dir viel Glück. Du schaffst das schon«, sagte er mit einem Lächeln und kniff dabei kurz, aber unauffällig ein Auge zu. Was hatte dieses Augenzwinkern zu bedeuten?, fragte sich Kalle. Herr Treskat, an dessen Revers das sogenannte Bonbon zu erkennen war, das Parteiabzeichen der NSDAP, das ihn als Genossen kennzeichnete, hielt die Begrüßungsrede. Er berichtete etwas zur Geschichte der »Arado Werke« und gab Informationen zum Inhalt und Ablauf der Lehre.

»Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass diese Aufnahmeprüfung dazu dient, die besten Kandidaten für den Beruf des Metallflugzeugbauers, aber auch des Fliegernachwuchses, zu identifizieren. Charakterliche Haltung, körperliche Eignung und geistige Leistungsfähigkeit sind die entscheidenden Kriterien«, schloss Treskat seine kurze Ansprache, die sehr sachlich ausfiel. Dann begann der schriftliche Teil des Einstellungstests. Wie von Kalle erwartet, bestand die zweistündige Eignungsprüfung aus vielen naturwissenschaftlichen Fragen und recht kniffligen Rechenaufgaben. Diese waren allerdings für ihn ein Klacks, wie er später seinen Eltern erzählte. Ein bisschen Angeberei musste sein. Er gab, für ihn selbstverständlich, als Erster seiner Gruppe die ausgefüllten Zettel ab und war sich sicher, diesen Teil der Prüfung mit Bravour gemeistert zu haben. Ja, wer kann, der kann, grinste Kalle in sich hinein.

Im Anschluss an die schriftliche Prüfung erfolgte in einem etwas kleineren Raum eine Befragung zur persönlichen und staatsbürgerlichen Einstellung. Jetzt ging es wohl um die charakterliche Haltung, überlegte sich Kalle. Er wurde in dem leicht verdunkelten Raum von drei Personen erwartet. Neben Herrn Treskat saß der Freund seines Vaters, der Ortsgruppenführer Tischler. TT war natürlich dem Anlass entsprechend gekleidet: in frisch aufgebügelter SS-Uniform. Eine Frau Köpke, die sich als Personalleiterin vorstellte, vervollständigte die kritische Triade. Das Ganze hier hatte etwas von einem Tribunal, schoss es Kalle durch den Kopf. Bevor er diesen Gedanken zu Ende spinnen konnte, startete die Befragung. Er hatte sich gemeinsam mit seinem Vater auf alle möglichen unangenehmen Fragen vorbereitet und wusste, welche Antworten dieses spezielle Gremium von ihm erwarten würde. Sie würden die Antworten bekommen, die sie erwarten!, überlegte er, wurde aber von der Dame des Trios aus seinen Gedanken herausgerissen. Frau Köpke startete mit der kuriosen Frage, ob für Kalle die schriftlichen Aufgaben zu einfach gewesen wären.

Bevor er antworten konnte, antwortete sie sich selbst. Dabei betonte sie, dass er stolz darauf sein könnte, die volle Punktzahl erreicht zu haben. Was sollte Kalle dazu noch sagen? Sein zustimmendes Lächeln sollte eigentlich Antwort genug sein.

»Ich habe mich gründlich auf diesen Test vorbereitet und konnte so alle Aufgaben lösen und die Fragen sicher beantworten«, sagte er nur noch kurz, aber den Tatsachen entsprechend. Frau Köpke gab sich mit dieser Aussage zufrieden, blickte kurz nach links und übergab ihren Sitznachbarn ohne Worte das Fragerecht. Herr Treskat reagierte sofort und schoss die nächste Frage in Kalles Richtung ab.

»Herr Bergmann, würden Sie uns bitte erklären, warum ein Flugzeug, trotz seines tonnenschweren Gewichtes, fliegen kann?«

Herr Bergmann nannte er ihn. Klasse! Das gefiel ihm. Kalle konnte sich sein Grinsen gerade noch so verkneifen, um weiterhin einen konzentrierten Gesichtsausdruck zu zeigen.

Auf diese Frage hatte er sich bestens vorbereitet und eine spontan erscheinende Antwort sicherheitshalber auswendig gelernt. War doch klar, dass die so etwas fragen würden, dachte er und legte los:

»Im Prinzip wirken auf ein Flugzeug vier physikalische Kräfte. Da ist erstens die Schwerkraft, die es nach unten zieht. Der Auftrieb wirkt dieser Kraft entgegen und hält das Flugzeug in der Luft. Der durch Motor und Propeller erzeugte Vortrieb bewegt das Flugzeug vorwärts und der Luftwiderstand bremst es ab. Erst wenn der Auftrieb größer ist als die Schwerkraft, hebt das Flugzeug ab. Es ist also alles eine Frage der Geschwindigkeit.«

Kalle fand selbst, dass er sich wie sein alter leicht näselnder Physiklehrer, der olle Kuttner, anhörte. Aber seine Ausführungen gefielen offensichtlich seinem Publikum, stellte er mit Zufriedenheit fest und atmete tief durch. Herr Treskat strahlte und nickte sogar anerkennend.

»Du hast dich erkennbar gut vorbereitet«, sagte er. »Du erklärst bereits sicher, warum Flugzeuge fliegen. Du musst nun nur noch lernen, wie ein Flugzeug technisch funktioniert, und natürlich lernen, selbst damit zu fliegen. Das wirst du alles aus meiner Sicht in den nächsten Jahren hier bei uns lernen. Ich habe keine weiteren Fragen.«

Ups, das war ja entspannt, wunderte sich Kalle. Sein Blick wanderte nun zu Ortsgruppenführer Tischler. Der räusperte sich kurz und bemühte sich um einen seriösen Blick. Es sollte ja keiner merken, wie wohlgesonnen er dem Prüfling gegenüber war.

»Mich würde interessieren, wie du es findest, dass dein Vater in die SS eingetreten ist?«, fragte er und schaute Kalle dabei auffallend unbeteiligt an. Kalle bekam im ersten Moment einen Schreck und musste schlucken. Was sollte denn diese Frage? Er überlegte kurz und antwortete:

»Ich denke, mein Vater hat die erste richtige Chance bekommen, aus seinem Leben etwas zu machen. Diese Chance hat er genutzt. Darauf kann er stolz sein. Ich bin auf jeden Fall stolz auf meinen Vater.«

Tischlers Miene verlor für einen kurzen Moment etwas von ihrer Strenge. Fast hätte er gelächelt, beherrschte sich aber und antwortete:

»Na dann wollen wir mal dafür sorgen, dass dein Vater auch stolz auf dich sein kann. Ich habe keine weiteren Fragen.«

Dann war ich wohl durch, schloss Kalle daraus. Er hoffte es zumindest. Anschließend wurde er mit den Worten »Wir sehen uns nach einer kurzen Pause wieder« in die Werkskantine verabschiedet.

Nach diesem ganzen Stress gab es dort etwas zu futtern. Reichlich zu futtern gab es. Kartoffelsalat und Würstchen satt. Das war für ihn das letzte überzeugende Argument, eine Lehre bei der Arado zu machen. Kalle schmunzelte zufrieden und biss herzhaft in seine vierte Bockwurst. Die Fünfte würde er auch noch schaffen, davon war er überzeugt.

Nach dem Essen kamen alle Teilnehmer gegen 14:00 Uhr im großen Saal zusammen.

»Die Urteilsverkündung«, bemerkte Kalle leise und lächelte wieder vor sich hin. Alle Namen derjenigen, die den Test erfolgreich gemeistert hatten, wurden vorgelesen. Die »Sieger« mussten einzeln nach vorne kommen und die Gratulation durch Herrn Treskat per Handschlag entgegennehmen.

Als Kalles Name aufgerufen wurde, hätte er fast vor Freude losgeheult. Er hatte zwar gehofft, war eigentlich fest davon überzeugt gewesen, musste sich aber trotzdem beherrschen, denn echte Männer heulten ja nicht. Was hatte ihm sein Sportlehrer immer eingebläut? Ein deutscher Junge muss flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl sein. Hier gab es keinen Platz für nutzlose Emotionen. Also alle fruchtlosen Gefühle herunterschlucken, aufstehen, lächeln und Freude über das Erreichte zeigen. So machte Kalle es mit sichtbarem Stolz. Geschafft!

Mitte April sollte seine Lehre und damit ein völlig neuer Lebensabschnitt beginnen. Das war der erste Schritt zur Erfüllung seines Traums vom Fliegen. Kalle freute sich riesig darauf. Er würde es schaffen und Flieger werden, versprach er sich selbst. Er konnte seinen Start bei der Arado kaum erwarten, aber erst einmal stand der Umzug seiner Familie an. Dadurch waren die nächsten Wochen für die Bergmanns ziemlich anstrengend, geprägt durch das Packen von Umzugskisten, der Beschaffung neuer Möbel, Gardinen und vielem mehr.

Anfang April verließen sie endlich ihren dunklen Berliner Hinterhof und zogen in die neue helle Wohnung in Brandenburg an der Havel. Raus aus der 4-Millionen-Metropole Berlin, rein in die stetig wachsende Kleinstadt mit immerhin 80.000 Einwohnern.

»Etwas größer als ein Kuhdorf, aber dafür brauchen wir keine Angst mehr vor Luftangriffen, Gasalarm und überfüllten Luftschutzbunkern zu haben«, kommentierte Mutter Lenchen diese gravierende Veränderung ihrer Lebensumstände. Die Zukunft der Familie sah zu diesem Zeitpunkt mehr als rosig aus.

Kalle war gespannt auf die neue Wohnung. Er freute sich besonders auf sein eigenes Zimmer, das seine nervige große Schwester Lotte nicht betreten dürfte. Das Schild »Zutritt für erwachsene Schwestern verboten« hatte er schon vor Tagen fertiggestellt. Die schöne Aussicht auf sein erstes selbst verdientes Geld beschäftigte ihn noch mehr. Er würde zwar die Hälfte seines monatlichen Lohns zu Hause abgeben müssen, aber für ihn blieben immerhin schon im ersten Lehrjahr fast 10 Reichsmark im Monat übrig. Damit konnte er sich eine Menge Wünsche erfüllen. Pure Vorfreude durchströmte ihn bei dem Gedanken. 10 Reichsmärker waren viel Geld. In diesem Sinne schnappte er sich schon bald nach dem Umzug sein altes Fahrrad und erkundete erst einmal die Gegend. Viele Felder, Wiesen und Auen, die ihn weniger interessierten, aber auch eine große Badeanstalt mit Restaurant-Betrieb, immerhin zwei Kinos im Stadtzentrum, mehrere Cafés und sogar ein Fleischer, der heiße Würstchen anbot. Diese Adresse merkte er sich sofort. Das Beste war ein Geschäft mit Sachen für den Modellbau, in den Kalle so bald als möglich investieren wollte. Es gab genügend Möglichkeiten, sein erstes Selbstverdientes auf den Kopf zu hauen. Er hatte demnach kein Problem seine Penunzen loszuwerden, registrierte er erfreut. Aber erst einmal sollte seine Ausbildung starten.

»Bald ging’s los!«

Jugenddiebe

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