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Fürst Pückler lässt das Eis schmelzen

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Trotz der drückenden Augusthitze trat Kalle wie wild in die Pedale seines neuen Sportrads. Er schaffte mindestens 30 Kilometer pro Stunde, schätzte er . Nichts klapperte, nichts knarrte. Nur ein leises Surren der Torpedo-Dreigang-Nabe war zu hören. Nur Fliegen war schöner, fiel ihm beim Durchrauschen der Alleen ein. Er wollte auf keinen Fall zu spät zu seinem ersten richtigen Rendezvous mit Paula kommen. Das durfte nicht sein. Das ging gar nicht. Er schwitzte wie ein Heizer auf einem Dampfschiff, Schweiß lief ihm den Nacken herunter, sein Hemd war bald völlig durchnässt. Trotz aller Anstrengung und Nutzung der Dreigangschaltung schaffte er es nicht, rechtzeitig da zu sein. Er wusste, dass Paula Pünktlichkeit liebte, und machte sich auf eine Standpauke gefasst. So etwas Peinliches hatte er noch nie erlebt. Zu dumm. Erst zehn Minuten nach vier Uhr sprang er völlig aufgelöst vom Rad und sah Paula, am Fritze-Bollmann-Brunnen auf ihn wartend stehen.

Ihr Blick sprach Bände. Er sagte deutlich, dass Paula überhaupt nicht gerne wartete. Schon gar nicht auf einen jungen Mann, mit dem sie verabredet war. Das war der höchste Grad der Unhöflichkeit. Kaum zu steigern. Unverzeihlich! Au wacker, dachte Kalle und bemühte sich, sein Sonntagsgesicht zu zeigen. Das half in den meisten kritischen Situationen, zumindest bei seiner Mutter, die ihm dann nicht mehr böse sein konnte.

Sein strahlendes Lächeln kombiniert mit oft trainierter Unschuldsmiene rettete ihn auch hier. Noch bevor er sich entschuldigen konnte, hatte sie ihm schon verziehen. Sie konnte praktisch nicht anders. Pures Glück für den Möchtegern-Liebhaber.

»Das kann mal passieren«, sagte sie um Toleranz bemüht und strahlte zurück.

Wer von den beiden dabei die deutlicheren Sympathiesignale sendete, spielte keine Rolle. Kalle hätte seine Paula am liebsten sofort in den Arm genommen, aber so weit waren sie noch lange nicht. Bleib ruhig, Blonder! Paula zupfte auffällig an ihren Zöpfen, was sie immer tat, wenn sie aufgeregt war oder ihr etwas peinlich vorkam und darüber ärgerte sie sich meistens. Nach einem Augenblick der Sprachlosigkeit, der allerdings gefühlte wunderbare Minuten mit Kribbeln im Bauch dauerte, ergriff Paula das Wort:

»Mir geht es heute nicht so gut und ich denke, dass ich lieber nicht baden sollte. Das hat Gründe, über die ich nicht sprechen möchte. Jedenfalls nicht mit einem Jungen. Wenn es dir nichts ausmacht, setze ich mich schon ins Café, trinke etwas und schaue dir beim Schwimmen zu. Das nächste Mal schwimmen wir zusammen. Versprochen.«

Schade, dachte Kalle. Das hatte er sich anders vorgestellt. Doch da konnte man nichts machen. Nicht jeder Plan gelang. Dann eben ein anderes Mal.

»Kein Problem«, antwortete er so charmant wie nur möglich, um seine Enttäuschung zu verbergen. »Dann kühle ich mich kurz ab und komm frisch gebadet zu dir. Ich bin auch schrecklich durstig. Bis gleich.« Mit diesen Worten verschwand er in Richtung der Umkleidekabinen und Paula bewegte sich zu der Café-Terrasse. Kaum hatte sie Platz genommen und zwei große Limonaden bestellt, sah sie den großen blonden Jungen auf dem neun Meter hohen Sprungturm balancieren. Gelten seine Posen etwa mir?, überlegte Paula. Kleiner Angeber, aber irgendwie auch niedlich. Dann zeig schon, was du kannst, Kalle.

Der Fünfzehnjährige war ein guter Schwimmer und hatte schon früher an der Spree verschiedene Kunstsprünge geübt. Wobei Kunst wohl leicht übertrieben war. Sprünge eben. Meistens Arschbomben! Die zeigten die beste Wirkung. Wenn das Wasser meterhoch spritzte, die Mädchen laut los kreischten und ältere Damen noch lauter schimpften, war das ein maximaler Erfolg für ihn. Diesmal gelang es ihm, immerhin einen halben Salto zu produzieren, bevor er mit einem lauten Platschen im Beetzsee eintauchte und das Havelwasser ihn für kurze Zeit verschluckte. Paula beobachtete seine Bemühungen, dabei hielt sie gespannt und erschrocken die Luft an. Als er endlich wieder auftauchte, konnte Paula nicht anders und applaudierte erleichtert unter den irritierten Blicken der Gäste an den Nebentischen. Das war ihr schon etwas peinlich, aber auch irgendwie gleichgültig. Diese Szene wiederholte sich noch drei- oder viermal, bis der so erfolgreiche Turmspringer endlich aus dem Wasser stieg, sich abtrocknete und zu Paula an den Tisch kam.

»Oh klasse, du hast mir schon mein Lieblingsgetränk bestellt. Woher hast du das gewusst? Vielen Dank«, sagte Kalle strahlend und nahm erst einmal einen großen Schluck von dem Fruchtgetränk.

»Ich dachte mir, was ich mag, magst du sicherlich auch. Und wenn es schon keine Coca-Cola mehr gibt, passt Limonade am besten zu diesem tollen Sommertag.

Die zischt und erfrischt. Die Werbung kennst du doch sicherlich, oder?«

Kalle nickte lediglich und ersparte sich eine direkte Antwort. Er zischte lieber das halbe Glas auf einmal leer. Jetzt herrschte wieder minutenlanges, verlegenes Schweigen. Kalle gönnte sich einen zweiten großen Schluck und verbunden mit einem kaum zu verbergendem Rülpsen kam seine verzögerte Reaktion:

»Ja genau, das zischt.«

Er überlegte dabei krampfhaft, wie er ein Gespräch in Gang bekommen könnte. Was konnte er fragen, ohne dass sie ihn falsch verstand? Gleichzeitig überlegte sich Paula eine Strategie, wie sie eine unverbindliche Unterhaltung mit dem großen Blonden starten sollte. Sie war gemein und ließ ihn noch etwas zappeln. Sollte er doch anfangen, überlegte sie sich und schaute gedankenverloren, scheinbar an einem Austausch desinteressiert abwechselnd über das glitzernde Wasser oder in Richtung des Doms.

»Erzähl doch mal, was es bei dir so Neues gibt«, Kalle nahm seinen Mut zusammen und eröffnete deutlich nervös und ein wenig stotternd die Unterhaltung. Das Schweigen war rechtzeitig gebrochen, bevor Paula ihre Taktik ändern musste.

»Es ist allerhand passiert in letzter Zeit. Meine Schwester Inge hat im letzten Monat geheiratet. Es war eine etwas traurige Zeremonie. Ihr jetziger Ehemann, ein »Von und Zu« und Offizier, ist in einem speziellen sehr geheimen Einsatz an der Front in Afrika bei Rommel. Es war dadurch eine Ferntrauung, bei der ein Stahlhelm auf dem Platz des nicht anwesenden Bräutigams lag. Inge war bei diesem Anblick völlig fertig und befürchtete, dass ihrem Lieblings-Otto etwas zugestoßen wäre.

Das stimmte zum Glück nicht. Inzwischen haben wir allerdings von ihm nichts mehr gehört und hoffen, dass er noch lebt.« Jetzt nahm sie einen Schluck von der allmählich warm werdenden Brause.

»Schön ist«, fügte sie lächelnd hinzu, »dass Inge schon einen ordentlichen Bauch hat und ich im Dezember oder Januar Tante werde. Patentante sogar!« Die Freude darüber war ihr anzusehen. Sie nutzte eine erneut entstandene Pause und warf Kalle den Erzähl-Ball zu.

»So, jetzt bist du aber dran. Erzähl mal, was bei dir in den letzten Monaten so los war«, bestimmte Paula die Fortsetzung der Unterhaltung.

»Was soll ich Großartiges erzählen? Viel fällt mir so spontan nicht ein«, nach kurzer Bedenkzeit erzählte er dann doch weiter.

»Meine Schwester ist noch unverheiratet und auch nicht schwanger«, erwähnte er schmunzelnd. »Meinen Eltern geht es recht gut. Mein Vater geht jeden Tag brav zur Arbeit. Er erzählt aber kaum etwas darüber. Ich denke, irgendwas bei seiner Tätigkeit belastet ihn. Und meine Mutter? Die schimpft dauernd über die Lebensmittelknappheit, schafft es aber trotzdem jeden Tag, etwas bedingt Essbares auf den Tisch zu bekommen. Es ist zumindest immer warm und reichlich. Das ist ja die Hauptsache, oder? Der Geschmack ist eher unwichtig.«

Nach einer weiteren Pause setzte er seinen Bericht über die Familie Bergmann fort.

»Und ich? Die Dinge entwickeln sich. Meine Lehre läuft gut, hervorragend sogar. Ich habe gerade eine Prämie als Jahrgangsbester kassiert und konnte mir davon mein neues Sportrad leisten.

Die Segelfliegerei macht auch schnelle Fortschritte und bereitet mir immer noch viel Vergnügen. Das erste Etappenziel meiner erträumten Fliegerkarriere habe ich bald erreicht. Im nächsten oder übernächsten Monat mache ich zusammen mit Wolle den A-Schein, die erste Segelflug-Prüfung.« Weil ihm nichts weiter Erwähnenswertes einfiel, schloss er mit dem Satz:

»Mehr fällt mir gerade nicht ein.«

»Das war doch eine ganze Menge Positives«, bemerkte Paula über die rhetorische Leistung des schüchternen Jungen anerkennend. Es war immerhin ein Versuch.

»Es läuft ja offensichtlich richtig gut bei dir. Bei Gerda und mir läuft es in der Schule auch recht ordentlich. Wir werden wohl im nächsten Frühjahr noch vor Ostern unsere Mittlere Reife schaffen. Dann ist endlich Schluss mit der Paukerei. Mal schauen, was danach kommt. Eine Sache bedrückt mich trotzdem. Von meiner Freundin Hildegard kann ich dir leider nichts Gutes erzählen. Hilde ist wie viele der jüdischen Mädchen aus unserer Klasse plötzlich von heute auf morgen verschwunden. Wo sie steckt, erzählt uns niemand. Keiner weiß, ob sie und ihre Familie abgeholt wurden oder ob sie sich in Sicherheit vor den Nazis gebracht haben. Wir hoffen, dass Hilde zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter ins Ausland geflohen ist. Vielleicht in die Schweiz, da haben sie Verwandte und wären in Sicherheit. Gerda und ich sind jedenfalls sehr traurig, vermissen sie und hoffen, dass wir von Hilde bald etwas hören und das Brandenburger Kleeblatt wieder vollständig sein wird.«

Kalle schaute Paula an und war sichtlich erschrocken. Voller Betroffenheit sah er das Bild der freundlichen und wohlerzogenen Hilde Goldmann vor sich.

Was war mit ihr passiert? Ihr Vater, Dr. Goldmann, war ein angesehener Arzt in der kleinen Stadt und jeder kannte ihn. Er war im Ersten Weltkrieg als Offizier an der Westfront, wurde sogar mit zahlreichen Orden für seine Verdienste fürs Vaterland ausgezeichnet. Er war allerdings jüdischen Glaubens, ohne dass ihm dies irgendjemand anmerkte. Er lebte seinen Glauben nicht nach außen. Und nun war er verschwunden. Völlig unverständlich. Viele Menschen, die die Familie Goldmann kannten, machten sich Sorgen und hatten regelrecht Angst um sie. Was waren das für Zeiten, in denen rechtschaffene Bürger, so mir nichts dir nichts, von der Bildfläche verschwanden?

»Hoffentlich sind die Goldmanns in Sicherheit. Irgendwo im Ausland«, diese bedrückenden Gedanken hämmerten wie ein Schlagwerk in Kalles Kopf. Er musste auch in späteren Jahren ständig darüber nachdenken. Es waren sehr unschöne Gedanken. Um die Laune wieder aufzuhellen, schlug Kalle vor, nun endlich das versprochene Eis zu bestellen.

»Ich hätte jetzt Lust auf eine ordentliche Portion gemischtes Eis. Schokolade, Vanille, Erdbeere. Was hältst du davon«, bemühte er sich, mit aufmunternder Stimme zu sagen.

»Sag doch lieber gleich eine Portion Fürst Pückler. Das ist einfacher. Du kannst gerne bestellen. Das Gemischte ist immer mein Lieblingseis«, kam Paulas Antwort mit schelmischer Betonung. Die durch die Wartezeit entstandene Gesprächspause nutzten beide, um eigenen Gedanken nachzugehen. Man musste auch mal ganz in Ruhe nichts sagen dürfen!

Dann wurde zweimal Fürst Pückler mit Sahne serviert und die beiden gerade Jungverliebten genossen erst das Eis und dann noch lange die zunehmend verliebte Stimmung, die sogar Außenstehende nicht mehr übersehen konnten. Emotionsgesteuertes Verhalten fiel meistens auch anderen auf. Der entspannte Nachmittag ging erst spät, gegen acht, zu Ende. Kalle begleitete Paula noch Hand in Hand fast bis zum Kronprinzen. Statt eines Abschiedsküsschens musste ein kurzes »Tschüss, mach es gut« reichen. Trotzdem schwang sich Kalle überglücklich auf sein Rad, das jetzt Flügel zu haben schien, flog, nein fuhr langsam, den Moment genießend, nach Hause, wo wohl wie immer seine Mutter Lenchen mit dem Essen auf ihn warten würde. Spätestens jetzt holte ihn die raue Wirklichkeit wieder ein. Er behielt es noch für sich, dass er nun ein Mädel hatte. Und was für ein Hübsches. Paula, ick liebe dir, sagte er in Gedanken und spitze dabei leicht die Lippen. Mal sehen, wie die Sache weiterging.

Die Sache ging weiter, langsam zwar, aber weiter, denn die beiden trafen sich in den folgenden Monaten, so oft es ging, und kamen sich langsam näher. Sehr langsam, wie es damals üblich war. Eile tat keine Not. Die erste Liebe war und ist etwas Besonderes.

»Diesen Zustand werde ich auskosten, bis ich nicht mehr zurechnungsfähig bin«, nahm sich Kalle vor.

Jugenddiebe

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