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Erste Schritte im Schnee

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Nachdem sich Kalle im Treppenhaus die Stiefel ausgezogen und die letzten Schneekrümel von seiner Jacke geschüttelt hatte, beendete er lauthals die erdrückende Stille, die in der elterlichen Wohnung herrschte.

»Oh Mensch, was für ein Wetter. So viel Schnee habe ich noch nie gesehen«, rief er, als er völlig durchgefroren den mit Linoleum ausgelegten Flur betrat und seine durchnässte Kleidung vor dem Spiegel fallen ließ.

Der Winter 1941/42 war einer der kältesten seit langer Zeit. Schneefall sogar im Flachland und Dauerfrost bis in den März hinein verschlimmerten die Lebensbedingungen in Deutschland noch mehr. Für Kalle waren diese Schneemassen reines Vergnügen. Jede freie Stunde verbrachte er auf der Rodelbahn am Marienberg. Nirgendwo anders konnte man so gut rodeln wie dort. Seine favorisierte Piste war natürlich die sogenannte Todesbahn, die ihren Namen nicht umsonst wegen ihres steilen Anstiegs und des zu erzielenden Tempos hatte. Genau das Richtige für echte Kerle wie Kalle und Wolle.

Der Marienberg diente allerdings auch als beliebter Treffpunkt für Mädels und Jungs, um erste Kontakte zu knüpfen. Backfische trafen auf Halbstarke, sagte man damals. Für die beiden Schlittenhelden war es aber an diesem Nachmittag ziemlich enttäuschend, da weit und breit keine gleichaltrigen Mädels zu sehen waren.

»Rodeln ist eben ein Männersport«, resümierte Kalle.

»Ja«, meinte Wolle. »Die jungen Damen bevorzugen offensichtlich eine langsamere Fortbewegung auf langen untergeschnallten Brettern. Das sieht zugegeben deutlich eleganter aus, als mit einem ollen Schlitten die vereiste Abfahrt herunter zu donnern.« Wie aufs Stichwort tauchte unterhalb des Marienbergs eine Gruppe von Ski-Langläufern, genauer gesagt Ski-Langläuferinnen, auf, die den beiden Jungs schon von Weitem bekannt vorkamen.

»Na siehste, hab ick doch jesagt«, kommentierte Wolle mit deutlicher Zufriedenheit in der Stimme das Auftauchen der Mädchengruppe. Könnten das vielleicht die drei frechen Mädels aus dem Kino sein?, überlegte Kalle, während er sich unter der juckenden Pudelmütze genüsslich am Hinterkopf kratzte. Seit ihrem unbeabsichtigten Zusammentreffen im letzten Jahr mit dem peinlichen Verlauf hielten Kalle und Wolle ständig erfolglos Ausschau nach den Mädchen vom Lichtspielhaus. Wie sie sich verhalten sollten, wenn sie die drei zufällig träfen, wussten die beiden Möchtegern-Casanovas allerdings nicht. Da hatten sie keinen realisierbaren Plan. Heute aber hatten sie endlich Glück. Sie fanden die lang gesuchte Mädchenbande, was im doppelten Sinne dem Ablauf der Begegnung entsprach.

»He ihr lahmen Stockenten, traut ihr euch nicht, einen richtigen Berg runterzufahren?«, war Wolles etwas plumper, aber deutlicher Versuch, die Aufmerksamkeit der drei Grazien auf sich zu lenken. Die Antwort bekam er prompt in Form eines gut geformten und zusammengepressten Schneeballs. Boing ..., mitten in Wolles Gesicht. Na wartet, ihr Schneemonster, das schreit nach Rache!

Die einzelne Schneekugel löste eine wahre Schneelawine aus. Ganze Salven trafen Kalle am Kopf, ließen seine Mütze verrutschen und schnell war eine heftige Schneeballschlacht im Gange. Drei wilde Mädels gegen zwei schüchterne Jungs. War das eigentlich unfair? Es war irgendwie auch richtig nett, fanden Kalle und Wolle, die das fröhliche Lachen der jungen Damen genossen und sich davon anstecken ließen. Lachen und Kreischen begleitete das dramatische Gefecht!

Das schwächere Geschlecht war das klügere und entschied die Schlacht durch ihre gewinnende Ausgelassenheit für sich. Na gut, die Jungs zeigten sich als echte Gentlemen und ließen sich sehr gerne vom weiblichen Geschlecht besiegen, genossen es sogar. Kalle und Wolle ermöglichten es den Mädels schließlich sogar, dass sie ohne nennenswerte Gegenwehr ordentlich eingeseift wurden. Was tat man nicht alles für einen ersten Körperkontakt zu ein paar hübschen jungen Damen, dachte sich Kalle und lächelte dabei Paula intensiv an. Paula erwiderte diese Geste mit einem entzückenden und eindeutig interessierten Blick. Was hatte das zu bedeuten?

»Es war für uns beide ein fast magischer Moment«, erzählte Paula später am Abend ihrer großen Schwester Inge, die verständnisvoll nickte.

Nachdem sich die Fünf im Schnee ausgetobt hatten, saßen sie erschöpft, aber glücklich strahlend auf den Schlitten und teilten sich eine Tüte mit Keksen, die Paula von einem Gast aus Hannover geschenkt bekommen hatte. Das Eis war sozusagen gebrochen und das distanzierte Verhalten wich vorsichtiger Neugier. Langsames Herantasten. Auskosten nicht gekannter Gefühle und Regungen.

Jetzt endlich stellten sie sich gegenseitig vor.

Als Paula ihren Namen nannte, konnte Kalle nicht anders und strahlte sie noch doller und unübersehbarer an. Paula strahlte ebenso deutlich zurück, als sich der große Blonde vorstellte. Paula und Kalle, die Namen passen schon mal gut zusammen, dachte sie, war in Gedanken mindestens zwei Schritte weiter und grinste verlegen in sich hinein. Jetzt wollte sie mehr über Kalle wissen, ob er noch zur Schule ging oder schon arbeitete oder was er sonst so trieb.

»Wir sind Schulfreundinnen und werden im nächsten Jahr mit der Schule fertig. Wenn alles klappt, machen wir unsere Mittlere Reife«, bereitete sie ihre eigentliche Frage geschickt vor. »Und was macht ihr so den lieben langen Tag?« Nicht ohne Stolz in der Stimme erklärte Kalle, dass er und Wolle Mitarbeiter der Arado wären und dort lernten, wie Flugzeuge gebaut werden. Er richtete sich bei diesen Worten deutlich auf, wuchs um mindestens weitere fünf Zentimeter, was seine Worte unterstreichen sollte. »Im März sind die ersten Prüfungen und dann beginnt für uns das zweite Lehrjahr«, erklärte er weiter. »Nebenbei machen wir noch eine Segelflug-Ausbildung und werden später Piloten!«

Etwas Angeberei musste erlaubt sein! Kalle grinste seinen Kumpel Wolle dabei siegessicher an. Die drei Mädels schienen jedenfalls beeindruckt. Der Zweck heiligte die Mittel, fiel Kalle dazu ein, aber er wollte ebenfalls etwas mehr von ihnen erfahren.

»Wir wissen von euch bisher nur, dass ihr gerne ins Kino geht. Wie verbringt ihr ansonsten eure freie Zeit?« Hilde wurde augenblicklich traurig und senkte bei dieser Frage betrübt ihren Blick auf den Schneehaufen vor ihnen.

»Ich bleibe meistens zu Hause, mache Hausaufgaben, helfe meiner Mutter oder lese etwas«.

Hilde hatte in letzter Zeit schlechte Erfahrungen mit abendlichen Spaziergängen allein durch die Stadt gemacht. Sie wurde immer öfter grundlos angepöbelt, beleidigt, bespuckt und sogar verprügelt. Die braune Brut war der Meinung, dass sie Freiwild für ihre Wut war, und man dürfe sie beliebig schlecht behandeln. Ach ja, fiel es Kalle ein. Der gelbe Stern brandmarkte Hilde. Da ging nicht mehr viel außerhalb der eigenen vier Wände. Armes Mädchen. Das war wirklich ungerecht. Gerda überspielte die für alle unangenehme Situation und antwortete schnell für sich und ihre Freundin Paula.

»Es gibt ja für uns nur noch wenige Möglichkeiten, etwas Interessantes zu unternehmen. Schaufensterbummel werden immer langweiliger, weil es nur noch wenig schöne Dinge zu kaufen gibt«, erzählte sie mit leicht getrübter Stimme. »Im Kino laufen immer nur Trallala-Filme mit Marika Rökk, Ilse Werner oder Grete Weiser. Schrecklich! Diesen Quatsch anzusehen, macht keinen Spaß. Was sollen wir sonst machen? Wir treffen uns oft bei mir zu Hause. Ich habe ein recht großes Zimmer für mich allein«. Dann überlegte sie einen Moment. »Allerdings hat Paula kaum noch Zeit, weil sie im Restaurant ihres Vaters immer häufiger aushelfen muss. Das ist natürlich schade für uns drei Mädels.«

»So ist es leider wirklich«, ergänzte Paula. »Unser Personal wird immer weniger. Viele Männer wurden eingezogen und mussten in den Krieg ziehen oder sie wurden gezwungen, in Unternehmen der Rüstungsindustrie zu arbeiten.

Über unsere jüdischen Mitarbeitern möchte ich erst gar nicht reden. Von vielen mussten wir uns sehr spontan verabschieden. Wir wissen nicht einmal, was aus ihnen geworden ist und ob sie noch am Leben sind«. Sie musste sich erst einmal besinnen, bevor sie weitersprach. »Es ist so schrecklich. Jedenfalls bleibt mir dadurch nichts anderes übrig, als meine Eltern häufig zu unterstützen. Es kann sogar sein, dass ich mit der Schule aufhören muss und stattdessen eine Lehre im »Kronprinzen« beginne, so heißt unser Hotel-Restaurant. Aber wie lange wir unser Gasthaus noch betreiben können, ist fraglich. Lebensmittel sind schwer zu beschaffen. Speck und Fleisch schon gar nicht.« Sie machte erneut eine Pause. »Unseren Schlachter haben sie wegen Schwarzschlachtungen verhaftet und ins Zuchthaus Brandenburg gesteckt. Wir werden uns wohl oder übel auf unseren Hotelbetrieb reduzieren müssen und das Restaurant für die Öffentlichkeit schließen. Zumindest bis bessere Zeiten kommen. Wann auch immer das sein wird«.

Auf bessere Zeiten hoffte ganz Deutschland. Wann genau dies sein würde, war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch äußerst ungewiss.

Die Sonne über dem Marienberg ging bereits langsam unter, als die fünf sich verabschiedeten. Nicht ohne sich für ein Treffen im Frühjahr zu verabreden, um etwas Gemeinsames zu unternehmen, wenn die Abende etwas länger sein würden. Wann und wo überließen sie allerdings dem Zufall. Mit einem lauten »macht es gut« gingen sie auseinander. Kalle schaute den Mädels, nein dem Mädel, also Paula, noch lange hinterher...

»Wir werden uns bestimmt bald wiedersehen«, schwor sich der frisch verliebte große Junge.

Jugenddiebe

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