Читать книгу Das Schicksal lacht mit spitzen Zähnen - Elke Bulenda - Страница 10

Eine Sprache mit Geschick handhaben heißt, eine Art Beschwörungszauber betreiben.

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(Charles Baudelaire)

Wie die Zeit verging! Inzwischen war es beinahe Mittag. Unten im Hausflur drang einen Tumult zu uns hinauf. Knistern und Lachen konnte ich ausmachen. Aha, die drei Grazien waren wieder eingetroffen. Die Mädchen stürmten in die Bude, bepackt mit Taschen, Tüten und Kartons. Sofort bereute ich, ihnen einen Blanko-Scheck ausgestellt zu haben.

Wenig später kamen sie in die Küche und zeigen sich in all ihrer verschwenderischen Pracht. Sascha und Mara trugen bauschige Brautjungfer-Kleider mit Pailletten besetzt, in rosafarbigem Satin, mit vielen Rüschen. Jule war mit ihrem Brautkleid ausgestattet. Es besaß eine Krinoline, die sie wie eine wandelnde Käseglocke aussehen ließ. Diese sollte natürlich ihren täglich anwachsenden Babybauch kaschieren.

»Na, wie sehen wir aus?«, fragte Sascha erwartungsvoll.

Ich sah mir das weiß-rosa-farbige Rüschen-Desaster etwas genauer an: »Hm, ich weiß nicht… Wie diese süßen Dinger mit den Kokosraspeln obendrauf. Ach ja, die nennt man Kokosmakronen! Die gibtʼs in rosa und weiß!«, grinste ich amüsiert.

»Ernsthaft?«, stöhnten die Damen enttäuscht.

»Agnir?«, fragte Jule erwartungsvoll, da sie hoffte, ihr kleiner Bruder besäße eine weitaus bessere Urteilskraft als ihr Vater.

»Hm, wie eine Tüte voller Mäusespeck!«, grinste Agnir.

Die rabiate Mara ergriff das Wort: »Auch du, Brutus? Zur Strafe werdet ihr Kerle nackt gehen müssen. Ich hänge Schilder mit der Beschriftung ›No Smoking!‹auf«, drohte sie uns.

»Ist das aus einem Glückskeks, oder hast du dir das selbst ausgedacht?«, lachte ich. »Ist doch egal, ihr seht auf jeden Fall süß aus! Und jetzt geht mir aus den Augen, bevor ich mich gezwungen sehe, in eine von euch hinein zu beißen!«, wedelte ich sie von dannen.

… Frauen! Ich verstehe einfach nicht, wie Frau sich für so einen Haufen Schotter, so einen Quatsch kaufen kann. Vor allem, wenn die Kleider nur einmal im Leben getragen werden. Hinterhältiger kann ein Vater nicht ausgeraubt werden, als durch seine heiratsfähigen Töchter. Was soll´s? Ich konnte ihnen von jeher nie einen Wunsch ausschlagen...

Agnir schien etwas auf dem Herzen zu haben.

»Wolltest du mich etwas fragen? Nein, du bekommst nicht auch noch einen Blanko-Scheck! Außerdem bleibst du gefälligst die nächsten zehn Jahre unverheiratet, bis ich mich finanziell einigermaßen wieder konsolidiert habe«, scherzte ich.

»Nein, eine Frage beschäftigt mich dann doch. Hast du dich eigentlich ungeliebt gefühlt, weil dein Vater dich, anstatt seiner Frau, opfern wollte?«

»Nein, meine Eltern liebten mich sehr. Ich kann verstehen, warum mein Vater sich für Numa entschied. Immerhin war ihm bereits eine Ehefrau gestorben. Er liebte meine Mutter sehr. Ohne sie konnte er sich sein Leben gar nicht vorstellen. Niemand will ohne Liebe leben«, gab ich zu. »Mit dem Tod deines Partners stirbt auch ein Teil von dir selbst.«

… Als meine Frau Amanda starb, wanderte ein Teil von mir mit ins Grab. Es ist, als hätte jemand mein Herz herausgerissen…

So fuhr ich fort: »Meine Mutter war ein außergewöhnlicher Mensch. Sie schenkte mir durch ihre Liebe zweimal das Leben. Ihre Erfahrungen, die sie mit den Pferden machte, ließ sie instinktiv genau das Richtige tun. Heutzutage ist Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage in der Ersten Hilfe eine Normalität. Doch vor zwölfhundert Jahren wusste niemand, dass so etwas überhaupt möglich war. Im Grunde genommen, verdankte sie dieses Wissen ihrem Vater. Da Temudschin so viele Töchter sein Eigen nannte, mussten diese wie Söhne mit anpacken. So vermittelte er ihnen Fertigkeiten und Wissen, welches sie im Leben umsetzen konnten. Sogar die Heilerin Ylva zollte meiner Mutter ihren Respekt, als sie mich ins Leben zurückholte.«

»Ist schon seltsam, dass du an einem Tag gleich zweimal Geburtstag feiern konntest. Stell dir mal vor, Ylva hätte dich gleich fortgebracht. Dann würden wir beide hier nicht sitzen. Apropos, sitzen, wollen wir nicht ein wenig rausgehen?«, fragte Agnir.

Wir gingen hinters Haus, in den Garten. Dort war unser Gazebo aufgebaut, der uns sowohl frische Luft, als auch Schatten spendete. Wir hatten eine Kühlbox mit Blutkonserven dabei. Ein kühler Snack für Zwischendurch.

»Dass Ylva meine Herztöne nicht feststellen konnte, lag wahrscheinlich daran, weil ich eine Dextrokardie infolge eines Situs inversus habe. Das bedeutet, meine inneren Organe sind alle spiegelverkehrt angeordnet. Das ist gar nicht mal so selten, wie ich vermutete. Das kommt bei einem von 25000 Menschen vor. Mich hat dieser Umstand schon sehr oft vor dem totalen Untergang bewahrt. Schließlich denkt jeder, das Herz wäre auf der linken Seite. Das bleibt aber unter uns. Das wissen nur eine Handvoll Leute, also geh damit nicht hausieren!«

Mein Sohn staunte nicht schlecht. »So etwas habe ich noch nie gehört. Meinst du, Odin hat etwas damit zu tun?«

»Nein, das ist einfach nur eine Laune der Natur. Vielleicht hat meine Mutter während der Schwangerschaft durch das Reiten meine Organe durcheinandergewürfelt, wer weiß das schon?«

Agnir nickte. »Ach, und eine Frage habe ich noch. Was machte dein Vater mit seiner blinden Seite? Ihm fehlte schließlich ein Auge. Er versprach, als Ylva ihm sagte, er könne nicht ohne jemanden kämpfen, der seine blinde Seite decke, er würde sich etwas ausdenken.«

»Stimmt, das habe ich beinahe vergessen zu erwähnen. In den Breitengraden, bei uns hoch im Norden, sind die Winter lang und dunkel. Vater nutzte seine Zeit nicht nur, um sich mit seiner Familie zu beschäftigen. Ohnehin grübelte er ständig herum, was er verbessern konnte. Dazu muss ich sagen, dass bei uns diese großen Wolfshunde stets zugegen waren. Mein Vater brachte sie eines Tages von den Britischen Inseln mit, weil sie ihm gut gefielen. Wenn die pinkelten, setzten sie schon mal den halben Weg unter Wasser. Heute nennt man sie meines Erachtens Irische Wolfshunde. Aus ihnen wurde später die Deutsche Dogge gezüchtet. Sie haben aber ein längeres, raues, meist graues Fell. Der Hochadel ging gerne mit ihnen Wölfe und Großwild jagen. Eine unserer Hündinnen hatte einen sechswöchigen Wurf. Mein Vater nahm sich den ganzen Tag Zeit, die Welpen auf ihren Charakter hin zu prüfen. Er entschied sich für einen männlichen Welpen, der ein neugieriger Draufgänger war. Für seinen Plan durfte der Hund keinerlei Furcht zeigen. Als es an der Zeit war, die Tiere von der Mutter zu trennen, nahm er den Welpen zu sich und trainierte ihn darauf, sich stets an seiner linken Seite aufzuhalten. Gewissermaßen war er einer der ersten Behindertenbegleithunde in der Geschichte. Während eines Kampfes, durfte der Hund nicht furchtsam den Schwanz einziehen und flüchten, sondern meinem Vater zur Seite stehen. Und falls sich jemand die blinde Seite meines Vaters zunutze machen wollte, musste er in den Kampf einschreiten. Mit genügend Geduld und Spucke, brachte es mein Vater fertig, ihn zu seinem treuen Begleiter und guten Kampfgefährten zu machen.

»Wie hieß der Hund?«, wollte Agnir wissen.

»Managarm, so wie der Wolf in der Nordischen Sage. Der Bruder von Hati und Skoll, den beiden Wölfen, die den Mond jagten. Der Sage nach, ernährte er sich vom Fleisch der Toten.«

»Cooler Name!«, sagte Agnir anerkennend.

»Ja, er war der erste Hund, den mein Vater ausbildete. Sobald er wieder daheim war, suchte er schon den nächsten. Manchmal aber auch zwei Rüden gleichzeitig. Selbstredend aus vielen Gründen: Erstens lebten die Tiere risikoreich, weshalb er für ausreichend Ersatz sorgen musste, falls einer der Hunde während eines Kampfes schwer verletzt wurde, oder fiel. Meistens hatte er zwei von den großen Hunden dabei. Der zweite Grund ist der, dass diese großen Hunde viel schneller altern als kleinere Hunde. Die meisten erreichen gerade ein Alter von fünf Jahren.« Mir entging nicht der besorgte Blick, den Agnir unserem großen Hund zuwarf. »Mach dir keine Sorgen, er altert nicht vorschnell, dafür ist er einfach nicht groß genug. Ich rede hier von Hunden, die beinahe doppelt so groß sind.«

»Okay, erzähl weiter. Ich möchte gerne erfahren, wie du so als Kind warst.«

Angesichts dieses Geburtsbeinaheunfalls, nahm sich Ylva meine Eltern zur Brust, damit die sich wiederum ihre Worte zu Herzen nahmen: »Diesmal seid ihr alle noch davongekommen! Nochmals würde ich an eurer Stelle das Glück und die Götter nicht herausfordern. Du, Skryrmir, solltest mit Numa keine weiteren Kinder zeugen. Willst du dennoch welche, such dir eine Zweitfrau, oder nimm dir eines von den Sklavenmädchen! Aber so wie ich euch beide kenne, könnt ihr die Hände sowieso nicht voneinander lassen. Deshalb schlage ich vor, ihr kümmert euch um die Verhütung. Numa, ich werde dir einen Kräutersud aus wilden Karotten-Samen, Wegwarte, Hibiskus, Ackerminze, Gartenkresse-Samen, Wermut und Salbei brauen. Trinke davon täglich zweimal, dann könnt ihr es von mir aus treiben, wie die verdammten Karnickel!«

Tja, irgendetwas machten Skryrmir und Numa allerdings verkehrt, denn zwei Jahre nach meiner Geburt, kam meine ebenfalls rothaarige Schwester Gundfreya Ojuna Octavia zur Welt. Allerdings war ihre Geburt nicht ganz so dramatisch. Erstens, war sie nicht so groß, und zweitens, holte Ylva das Kind schon früher durch wehenfördernde Mittel auf die Welt. Offenbar betrachteten Skryrmir und Numa danach die Familienplanung als abgeschlossen, denn ab da nahm Numa den Kräutersud, obwohl sie sich darüber bitterlich beschwerte, wie abscheulich dieser schmecke. Mein Vater liebte sie so sehr, dass er Abhilfe wusste und ihr diese Bürde auch noch versüßte. Wortwörtlich. Denn er brachte Ylva ein großes Fass mit Honig, um das klebrige Zeug in ihren Sud zu geben. Mit so viel elterlicher Liebe ausgerüstet, gediehen wir Kinder prächtig. Außer der stillen, ohnehin ständig kränkelnden Svenja, erkrankte keines von uns Kindern ernsthaft.

Nur machte sich mein Vater schwere Sorgen um meine Sprachentwicklung. Zudem war er nicht gerade erfreut darüber, dass Numa uns als Säuglinge fest einwickelte, damit sie die Kinder als praktisches Paket auf ihrem Rücken geschnallt, mitreiten lassen konnte. Das sorgte nicht nur für Schreie der Entrüstung von Seiten der Säuglinge, sondern auch bei den Dorfbewohnern für verwirrtes Kopfschütteln. Andere Menschen pflegen nun mal andere Sitten. Im Nachhinein hat es uns nicht geschadet. Die Modelle der Herstellungsreihe von Skryrmir und Numa, wurden mit einem äußerst stabilen Magen geliefert.

Letzten Endes ließ Skryrmir seine Frau ohnedies nach ihrem Gusto gewähren. Wie hätte er auch verhindern können, dass sie sich nicht an seine Anweisungen hielt, wenn er vom Frühjahr bis zum Spätsommer auf Beutefahrt ging? Und Hackbart konnte nicht intervenieren, weil er Numas Bogenschützenkünste fürchtete. Ohnehin wurde die Luft zwischen den beiden immer dicker. Aber zuerst zu dem Sprachproblem.

»Er ist jetzt über zwei Jahre alt! Warum spricht er noch nicht?«, fragte Skryrmir besorgt. »Viel jüngere Kinder brabbeln ihren Eltern schon Worte nach. Nur Ragnor sagt rein gar nichts!«, beschwerte er sich bei Numa, die sich das Haar kämmte. Damit wusste sie jedes Mal ihren Gatten zu beschwichtigen. Denn der Anblick ihres offenen Haares, das wie Ebenholz glänzte, brachte ihn regelmäßig aus dem Konzept.

»Brüll bitte nicht so herum, Skryrmir, die kleine Gundfreya ist gerade eben erst eingeschlafen«, sagte Numa leise. »Gib ihm Zeit. Er braucht eben etwas länger. Eins steht völlig außer Frage: Wenn er erst einmal das Sprechen gelernt hat, wird er nie wieder so ruhig sein. Denk an die anderen Kinder, die schweigen nur, wenn sie schlafen, oder etwas kauen müssen.«

»Ist er vielleicht taubstumm? Meinst du, sein Schweigen hat etwas mit seiner Geburt zu tun?«, fragte er weiter, diesmal leise.

»Wieso sollte sein Schweigen etwas mit seiner Geburt zu tun haben? Wenn du Ragnor das Butterfässchen gibst und sagst, er soll es auf die Tafel stellen, dann macht er das auch. Nur weil er sich weigert zu sprechen, muss er noch lange kein Idiot sein!«, mahnte sie ihren Gatten, der sich oftmals gluckenhafter als die Amme selbst gab.

»Das habe ich doch gar nicht behauptet. Ich mache mir nur Sorgen, weil er damals beinahe erwürgt wurde. Vielleicht ist seine Kehle gar nicht dazu fähig, zu sprechen«, gab er zu bedenken, während er Numas Haar betrachtete.

Sie legte den Kamm beiseite. »Nach seiner Geburt hat er gebrüllt. Wenn ihn der Hunger quälte, hat er gebrüllt. Wenn ihn Balder aus Versehen umrannte und er fiel auf den Hintern, hat Ragnor gebrüllt. Und dann behauptest du, er könne keinen Laut von sich geben? Dieses Kind hat mehr gebrüllt als alle vor ihm. Du bist zu lange fort, um ein Urteil über ihn zu fällen«, schüttelte sie lächelnd den Kopf. »Manchmal ging er mir mit seinem Gebrüll dermaßen auf die Nerven, dass ich ihn am liebsten an die Zwerge verschenkt hätte.«

»Liebling, es gibt gar keine Zwerge«, lachte Skryrmir.

»Und warum erzählst du dann Geschichten über sie? Immerhin haben sie für die Göttin Freya ein Geschmeide namens Brisingamen geschmiedet. Und Siegfried verdankte dem Zwerg Alberich seine Tarnkappe«, gab Numa zu bedenken.

»Du meine Güte! Was du dir alles merken kannst.«

»Natürlich, ich höre dir gerne zu, wenn du Geschichten erzählst. Ich liebe deine Stimme. Du hörst mir schließlich auch gebannt zu, wenn ich die Morin chuur spiele.«

»Jetzt mal ernsthaft. Weißt du, woran es liegt, dass er nicht sprechen will?«, bohrte er weiter an diesem Thema nach.

»Du hast jetzt ein halbes Jahr Zeit, um herauszufinden, woran es hapert. Diese Zeit solltest du mit den Kindern verbringen. Sie brauchen ihren Vater als Vorbild, oder willst du etwa, dass sie sich an Hackbart halten?«

»Bei Odin, nein das wollen wir nicht!«

»Komm jetzt ins Bett. Ich will nicht, dass du tiefe Sorgenfalten auf deiner Stirn bekommst, sonst sitzt deine Augenklappe schief.«

Skryrmir machte es sich bequem und zog Numa an sich. »Was hältst du davon, wenn wir im nächsten Jahr statt hier, mal in Esbjerg auf Jütland überwintern? Dann ist Gundfreya groß genug für die weite Reise. Mein Bruder Úlfur hat uns eingeladen, zudem habe ich eine Überraschung für die gesamte Familie vorbereitet.«

Numa wurde hellhörig. »Was für eine Überraschung?«

»Verrate ich nicht, sonst wäre es ja keine mehr!«

*

»Und woran lag es?«, fragte Agnir interessiert.

»Wahrscheinlich wirst du genauso erstaunt darüber sein, wie mein Vater. Offensichtlich hatte er gar keine Ahnung, dass ich im reinsten Babel aufwuchs. Meine Mutter sprach mit mir in ihrer Muttersprache, meine Geschwister redeten mit mir Nordisch und meine Amme schwätzte Ænglisc, also Altenglisch. Kein Wunder, wenn ein kleines Kind total verwirrt ist, mit wem es nun welche Sprache sprechen soll.«

»Und was war dann dein erstes Wort?«, wollte Agnir wissen.

»Eines, das alle verstanden. Tulga!«

»Das war doch das Kamel, oder?«

»Jepp, haargenau.«

Eines Tages kam ich brüllend zu Numa. Zufällig war mein Vater zugegen und hörte, wie ich schniefte und heulte. Er staunte nicht schlecht, als meine Mutter fragte: »Та яагаад ийм чанга байна вэ? Та хамар дээр хуулбарлаж Balder юм бэ? Энэ удаа хэн байсан бэ?«

(»Warum brüllst du so? Hat dir Balder wieder eins auf die Nase gegeben? Wer war es diesmal?«)

»Tulga!«, schniefte ich. Das dämliche Kamel hatte mich mal wieder angespuckt. Nur weil ich es getreten hatte.

Sofort stand Skryrmir bei Fuß: »Numa! Er hat sein erstes Wort gesagt! Nicht Mama, oder Papa. Nein, er sagte den Namen des Kamels! Das ist mal wieder typisch für Ragnor. Er ist eben ein bisschen anders. Äh, sprichst du eigentlich immer mit ihm in deiner Sprache?«, fragte Skryrmir verwirrt.

»Natürlich, seit Anbeginn. So können wir in der mir vertrauten Sprache reden. Warum sollte er sie nicht lernen? Ein Kind kann gar nicht genug Sprachen lernen.«

»Hm«, sagte Skryrmir. »Offensichtlich hat ihn das ein wenig verwirrt. Ragnor, kannst du mir sagen, wer diese Frau ist?«, zeigte er auf meine Mutter.

»Numa!«, sagte ich. Allerdings fragte ich mich, wieso er das nicht wusste. Schließlich wohnte sie ganz offensichtlich bei uns.

»Nein, Ragnor. Das ist deine Mutter!«

Numa schritt ein. »Das weiß er doch selbst! Nur sagen die anderen Kinder Numa zu mir. Aenna sagt Numa zu mir. Mathilda nennt mich beim Namen. Hackbart, Solveig, Merle und Margitta ebenso. Wieso sollte er mich dann anders nennen? Lass ihn Numa zu mir sagen, sonst verwirrst du ihn nur!«

»Ach ja? Ich verwirre ihn? Ich glaube, es ist eher anders herum!«, stellte mein Vater klar. »Gut, Ragnor? Wer bin ich?«, wandte er sich zu mir.

»Papa!«, sagte ich. Seinen Namen konnte ich nicht aussprechen. Für ein kleines Kind ist das der reinste Zungenbrecher.

»Ja, das ist richtig, mein Sohn.«

»Ja!«, sagte ich - und musste erst mal eine Weile darüber nachdenken. Wie alles, was die Erwachsenen taten, verwirrte mich das zutiefst. Vielleicht war es ihnen nicht klar, aber der eine sagte dies, der andere das. Jedoch achtete mein Vater wenigstens bei der kleinen Gundfreya darauf, dass niemand mit ihr in irgendeinem Kauderwelsch, außer dem Nordischen, sprach. Zudem sollten alle die kleine Gundfreya darauf hinweisen, dass Numa ihre Mutter sei. Also mussten sie ›Mama‹ sagen, wenn sie auf Numa zeigten.

Und es kam so, wie Numa prophezeite. Nachdem ich erst einmal gelernt hatte, wie ich mit wem sprechen musste, fand ich das Sprechen ziemlich toll und redete munter drauf los.

Im Spätsommer begaben wir uns dann endlich auf die große Reise nach Jütland. Die See faszinierte mich. Bisher fragte ich mich zwar immer, was hinter dem Fjord liegen mochte, doch hatte ich nicht erwartet, dass so viel Wasser dahinter lauerte. Spontan beschloss ich, ebenfalls den Beruf meines Vaters zu ergreifen. Doch bevor ich auf große Beutefahrt gehen konnte, musste ich erst einmal kräftig wachsen und trainieren. Mein Sparringspartner dabei, war mein älterer Bruder Balder alias Håkon, der zugleich mein Lieblingsbruder war. Übrigens war er der Lieblingsbruder aller schlechthin, weil er einmalig war. Eigentlich dachte jeder von uns, er wäre der bessere Stammesfürst geworden, aber laut Erbfolge, war der introvertierte Wulfgar dazu auserkoren. Balder kam zumindest mit jedem gut aus, stritt selbst kaum, schlichtete trotzdem bereitwillig jeden Geschwisterzwist. Mit ihm sammelte ich meine ersten Kampferfahrungen. Und er schritt auch stets ein, wenn mich meine älteren Schwestern mit dem Holzschwert fertig machen wollten. Sie durften ebenfalls mittrainieren. Numa fand, es stünde ihnen ebenso zu, mitzutrainieren, wie den Knaben. Zudem wurden wir schon früh auf die Gäule gesetzt und mit Pfeil und Bogen vertraut gemacht, auch wenn beides zur gleichen Zeit nicht so gut funktionierte wie bei Numa. Wir Jungs bekamen zudem den Auftrag, dafür Sorge zu tragen, genügend Feuerholz ins Haus zu schaffen. Das galt auch, als wir bei unserem Onkel überwinterten. Na ja, im Alter von drei Jahren ist die Ausbeute nicht so groß, wenn man mit der schweren Axt nach hinten kippt, anstatt vornüber das Holz zu spalten. Da Wulfgar viel älter war, durfte er das Brennholz machen. Trotzdem kamen wir nie mit leeren Händen heim. Wir erwiesen uns als geschickte und erfahrene Reisigsammler, obwohl wir uns lieber als Reisigjäger bezeichneten. Wir taten so, als erlegten wir das Reisig mit Speeren.

Onkel Úlfur war weder so groß wie Skryrmir, noch so dick wie Hackbart, der übrigens mit von der Partie war, sehr zum Ärger von Numa, die hoffte, ihn mal für ein halbes Jahr nicht sehen zu müssen. Wir Kinder kannten Onkel Úlfur nicht besonders gut. Er war jünger als Skryrmir, hatte eine andere Mutter und besaß rotblondes, schütter werdendes Haar. Seine Kinder, unsere Cousin und Cousinen, waren durch die Bank weg lustige Gesellen, die förmlich vor Gesundheit und Sommersprossen strotzten. Nie zuvor sah ich so viele rotblonde Kinder auf einem Haufen, und das, obwohl sie verschiedene Mütter hatten. Zusammen mit uns acht Geschwistern, waren wir ein wildes Rudel raufender Gören.

Die Erwachsenen gaben sich unterdessen eher langweilig. Ständig unterhielten sie sich, zumeist über Stammesangelegenheiten, die uns Kinder nicht scherten. Zudem drehte sich beinahe jedes Gespräch um Kaiser Karl, dem ehemaligen Frankenkönig.

Genau, inzwischen war dieser nämlich vom dankbaren Papst zum Kaiser von Gottes Gnaden gekrönt worden. Von ihm drohte von Süden her keine besonders große Gefahr. Noch immer prügelten sich seine christlichen Truppen mit den widerborstigen Sachsen.

Das Klima auf Jütland war viel milder, als bei uns im hohen Norden, was der kränklichen Svenja sehr gut bekam. Zudem mussten wir Kinder verwundert feststellen, dass der Winter in den Breitengraden von Jütland nicht mit absoluter Finsternis geschlagen war, so wie bei uns, weiter nördlich. Woran das lag, konnte keiner genau erklären. Onkel Úlfur vermutete, es läge an den Göttern, die die Sonne auf Jütland eben länger scheinen ließen. Allerdings gäbe es auf Jütland keine weißen Nächte, so wie bei uns, wo im Sommer nicht einmal zur Mitternacht die Sonne unterging.

Selbstverständlich war Mathilda mit von der Partie. Immer öfter sahen wir sie zusammen mit Onkel Hackbart irgendwo sitzen. Die Nonne erzählte gerne von den Wundertaten ihres Gottes. Augenscheinlich war Hackbart der Einzige, der ihr aus freien Stücken zuhörte. Selten sahen wir ihn so andächtig lauschen, ohne seine penetranten Witze dabei zu reißen. Skryrmir duldete es nämlich keinesfalls, dass Mathilda uns Kindern von ihrem Christengott erzählte. Eins stand für ihn völlig außer Frage: Er gewährte ihr zwar, zu ihrem Gott zu beten, jedoch wollte er nicht, dass sie andere mit Bekehrungsversuchen nötigte. Das tat schon dieser Kaiser im Süden. Bei den Nordmännern hieß er schlechthin nur »Der Sachsenschlächter«, da er im Zuge der Christianisierung, in Verden an der Aller, ein Blutgericht abgehalten hatte und 4 500 Männer köpfen ließ, weil sie nicht den Christenglauben annehmen wollten. Einige behaupteten, Karl hätte sogar selbst mit Hand angelegt. Immerhin ist bewiesen, dass er eigenhändig eine Irminsul fällte. Nur, ob es dem angeblich sanften Christengott gefiel, von Karl so viele Männer geopfert zu bekommen? Odin hätte sicherlich ein solches Opfer zu schätzen gewusst.

Ungefähr eine Woche nach unserer Ankunft, lief ein weiteres Langschiff in Esbjerg ein. Selten hatten wir Numa so aufgeregt gesehen, als sie erkannte, wer sich dort auf dem Schiff befand. Mir selbst war der komische Mann und dessen Familie nicht bekannt, bis Skryrmir erzählte, das wären Numas Eltern. Vater hatte ein Langschiff organisiert, welches sie von Hólmgarðr abholte, damit sie zu uns nach Jütland gelangen konnten.

Ein Mädchen, ungefähr in Wulfgars Alter, war ebenfalls mit von der Partie. Es verwirrte mich zutiefst, als sie mir als meine Tante Samija vorgestellt wurde. Wie konnte jemand, der nicht älter als mein großer Bruder war, schon meine Tante sein? Das gab mir als kleinen Kerl recht lange zu grübeln. Dieser Gedanke trat jedoch in den Hintergrund, weil wir mit Samija prima spielen konnten. Übrigens schoss sie mit Pfeil und Bogen wesentlich besser, als wir alle zusammen. Gegen sie, wirkten wir wie blutige Anfänger.

Mit meinem unbekannten Großvater Temudschin fremdelte ich ein wenig. Nie zuvor sah ich einen Menschen mit so zerknitterter Gesichtshaut. Nicht einmal Ylva hatte so viele Falten im Gesicht. Mit meiner Großmutter Ojuna kam ich besser klar, sie konnte fantastisch kochen. Zudem war sie hocherfreut, endlich mal mit jemanden in ihrer Sprache zu sprechen. Ich konnte meinem Vater ansehen, wie neidisch er war, als er mich mit meiner Oma palavern sah. Bekochen ließ er sich von ihr aber trotzdem. Das Seltsame an ihnen war, dass sie es ablehnten, mit uns in der Behausung von Úlfur zu wohnen. Stattdessen bauten sie im Hof eine Jurte auf. Diese Jurte fand ich äußerst interessant. Und wie es das Schicksal so wollte, würde dieser Anblick für mich bald unschöne Gefühle auslösen.

*

Das Schicksal lacht mit spitzen Zähnen

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