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Ein starker Glaube wächst aus Zweifel, ein schwacher aus Verzweiflung.

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(Thomas Möginger)

»Oh, das war sicherlich sehr traurig für dich, als euch dein Lieblingsonkel verlassen wollte, äh … musste«, mutmaßte Agnir. Sicherlich hätte er Hackbart in natura ebenso gemocht, wenn er schon nach dieser kurzen Erzählung von ihm so angetan war und starke Empathie für ihn empfand.

»Natürlich, aber für uns Kinder war es einfach schlimm, wie Numa und mein Onkel Krieg führten. Hackbart war niemand, der so ohne Weiteres klein bei gab. Also zog sich ihr Konflikt in die Länge. Überhaupt kann ich mich nicht erinnern, sie jemals friedfertig nebeneinander gesehen zu haben. Ihre Chemie stimmte einfach nicht. Und so ein ungleiches Paar unter einem Dach? Das kann auf Dauer nicht gut gehen«, berichtete ich.

Das herannahende Frühjahr erwartete ich mit gemischten Gefühlen. Denn einerseits fürchtete ich den Tag, an dem uns Onkel Hackbart verließ, und andrerseits, fieberte ich der Reise nach Uppsala entgegen, denn sie versprach ein großes Abenteuer zu werden. Und sie sollte definitiv das Abenteuer meines jungen Lebens werden.

Am Abend vor der Abreise gab mein Vater ein Festbankett in der großen Halle, zu Ehren und Verabschiedung seines Bruders Hackbart. Alle wichtigen Persönlichkeiten der Siedlung waren anwesend. Einige von ihnen beabsichtigten sich uns anzuschließen und mitzufahren. Die Feier verlief ohne größere Reibereien, was fraglos als Ausnahme galt. Normalerweise gab es mindestens eine handfeste Auseinandersetzung und dazu jede Menge Volltrunkene, die einfach von der Bank fielen, um im Stroh der großen Halle ihren Rausch auszuschlafen. Da wir indes am nächsten Tag früh aufbrechen wollten, löste sich die Feier recht früh und relativ nüchtern auf. Wir gingen alle zeitig zu Bett.

Heutzutage kaum vorstellbar, dennoch besaß ich als Kind einen gesegneten und äußerst tiefen Schlaf. Wenn ich mich mit den Hunden meines Vaters beschäftigte und es mir bei diesen warmen, kuscheligen Monstern so richtig schön gemütlich machte, konnte ich einfach mal so dabei einschlafen. Beim Aufwachen fand ich mich meist in meinem Bett wieder. Natürlich fragte ich mich oftmals, wie ich dort hingekommen war. Meine Mutter erzählte, mein Vater hätte mich ins Bett getragen, ohne dass ich dabei aufgewacht sei. Alle machten sich über meinen festen Schlaf lustig. Sie behaupteten, ich würde wie ein Stein schlafen. Zudem dürfte ich mich nicht wundern, eines Tages mal woanders aufzuwachen, denn man könne mich unbemerkt, schlafend überallhin transportieren. Selbst die heftigsten Schneestürme, oder gar Gewitter, die draußen wüteten, bekam ich nächtens nicht mit. Erst, wenn alle am nächsten Morgen vom nächtlichen Unwetter erzählten, fragte ich mich, warum ich davon nichts mitbekommen hatte. Heutzutage würde ich mich wirklich freuen, so einen formidablen Schlaf zu besitzen.

Nun ja, ich wollte mich in keinerlei Weise wegen meines Schlafs rühmen, denn eigentlich war dies nur eine reine Einleitung zu etwas Wichtigerem.

Denn in der Nacht vor unsere Abreise wurden wir Kinder alle schlagartig wach. Sogar ich. Wahrscheinlich auch Hackbart und seine Sippschaft. Nicht etwa, weil ein Unwetter nahte, sondern zum ersten Male, seit wir uns erinnern konnten, stritten unsere Eltern lautstark miteinander. Ich hörte die aufgeregte Stimme von Numa. Sie war von jeher eine eher leise Frau. Niemals erhob sie ihre Stimme. Nur diesmal verstieß sie gegen ihre Gepflogenheiten: »Wie kannst du es wagen, so etwas von ihm zu verlangen? Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden, mein Lieber! Er ist ebenso mein Sohn! Er sollte selbst über sein Leben entscheiden dürfen! Vielleicht will er Kaufmann werden, wenn er schon an Zwerge hartgekochte Eier verkauft!«

Leise antwortete Skryrmir darauf etwas, das Numa förmlich zur Weißglut brachte: »Du - und deine verfluchten Götter! Sind sie dir so viel wichtiger, als das Wohlergehen deines Sohnes und dem, was deine Frau wünscht?«

Wir vernahmen, wie sie die Tür des Schlafgemachs hinter sich zuschlug. Das ganze Haus wackelte in seinen Grundfesten. Nackte Füße patschten in Richtung große Halle. Offensichtlich wollte sie dort den Rest der Nacht verbringen.

Dann ertönte die Stimme meines Vaters, der die Tür zum Schlafgemach wieder aufriss: »Du kannst nicht einfach vor mir weglaufen, wenn ich mit dir rede, Weib!«

»Und ob! Und nenn mich nicht Weib!«, drohte Numa.

»Wie kannst du es wagen, meinen Entschluss anzuzweifeln? Ich werde keinen Daumen breit von meiner Entscheidung abrücken. Es ist richtig! Es ist Odins Wille! Unser Sohn wird uns eine große Ehre zuteil werden lassen!«

»Du - und deine dämliche Ehre! Gute Nacht, mein Gemahl! In Zukunft kannst du allein schlafen!«, brüllte Numa sauer und warf etwas Hartes nach ihm, das allerdings gegen die Tür prallte, weil Skryrmir sie rechtzeitig wieder schloss, um dem Wurfgeschoss zu entgehen.

Nun, ob er während der Fahrt allein schlafen müsste, würde sich zeigen. Wir wollten während der langen Reise wieder bei Verwandten übernachten. Ganz schön clever von meinem Vater, erst jetzt mit seinem Entschluss herauszurücken.

Wir Kinder waren natürlich beunruhigt über den Streit der sich sonst so innig liebenden Erwachsenen. Vor allem ich. Immerhin war ich der einzige Sohn meiner Mutter. Es betrübte mich zutiefst. Fraglos war ich der Grund für den Streit, der zwischen ihnen so gnadenlos tobte und sie dadurch entzweite.

»Worum ging es bei den beiden?«, fragte Wulfgar.

Wir Jungs teilten uns noch immer ein Schlafgemach, so wie die Mädchen sich eins teilten. Zumindest noch so lange, bis Hackbart mit seiner Sippe endlich auszog.

»Es ging um Ehre. Obwohl das irgendwie nicht passt, denn vermutlich ging es bei diesem Streit um Ragnor. Hehehe!«, sagte Sigurd spöttisch kichernd.

»Pass auf, was du sagst, Siggi!«, machte ich mir Luft.

»Das kommt davon, Ragnor, wenn du so wüste Geschichten von Zwergen erzählst, die dir angeblich gekochte Eier für Gold abkaufen!«, brummelte Wulfgar genervt.

… Wenn ich schon mal meinen Brüdern etwas Vertrauliches erzählte! Nur rechnete ich nicht damit, von ihnen dafür so mächtig aufgezogen zu werden. Dennoch war die Geschichte mit dem Zwerg, der mir mein gekochtes Ei abkaufte, wahr.

Ab und an hütete ich tagsüber im Hutewald das Vieh. Dabei konnte einem schon mal recht langweilig werden. Ich schnitzte meistens irgendwelche Holzkrieger, die sich hinterher, unter wüsten Beschimpfungen, furchtlos bis aufs Blut, bekämpften.

Damit ich nicht vom Fleisch fiel, stattete mich Aenna mit einem Proviantbeutel aus, der Käse-und Schinkenbrote, dazu noch einen Apfel und ein hartgekochtes Ei enthielt. Zum Trinken gab es verdünnten Met.

Zu Mittag, als mich der Hunger quälte, aß ich ein Brot und wollte das Ei aufschlagen, da erschien ein kleiner Kerl. Er trug auf dem Kopf einen verbeulten Helm, an dem eine Lampe befestigt war, und einen mächtigen Rauschebart im Gesicht, der allerdings davon nicht allzu viel freigab. Er tippte meinen Arm an: »Hey, du! Wenn du mir das gekochte Ei gibst, bekommst du von mir einen kleinen Klumpen Gold«, sagte der Zwerg, der gierig auf das Ei starrte. Allem Anschein nach war die Hühnerhaltung in den Bergminen mit Schwierigkeiten behaftet, weshalb Eier auf der Speisekarte von Zwergen fehlten.

Misstrauisch betrachtete ich den Bartträger: »Nö! Ist mein Ei! Zeig du zuerst das Gold. Nicht, dass ich dir das Ei gebe, du es schnell verschlingst und ich in die Röhre gucke!«, sagte ich als Opfer älterer Brüder und zukünftiger Geschäftsmann.

Wie sich herausstellte, trug er in der Tat einen kleinen Klumpen Gold bei sich, den er mir freiwillig aushändigte. Da er Heißhunger auf das Ei hatte, und Gold für gewöhnlich keinen Nährwert besitzt, tauschten wir die Waren. Der Zwerg freute sich und verschwand mit dem Ei in der felsigen Gegend. Und ich fühlte mich wie ein gemachter Mann. Zuhause zeigte ich mächtig stolz meinen goldenen Brocken und erzählte, wie ich dazu gekommen war. Meine Brüder zeigten mir als Reaktion daraufhin einen Vogel. Sie glaubten mir kein Wort und behaupteten, ich hätte den Goldbrocken per Zufall gefunden. Das konnte ich so nicht auf mir sitzen lassen. Am nächsten Tag nahm ich Balder als Zeugen mit. Ich wollte ihm beweisen, dass der Zwerg sehr wohl gekochte Eier kaufte. Und wie es beim Vorführeffekt nun mal so ist, ließ sich dieser kleine Vollbarträger nicht mehr blicken, was mich in ein denkbar schlechtes Licht rückte. Ich stand wie ein Vollspinner da. Daraufhin erklärte ich unsere Geschäftsbeziehung für beendet, und nimmermehr würde ich dem Zwerg auch nur ein einziges, gekochtes Ei verkaufen…

»Das mit dem Ei, ist die Wahrheit!«, wehrte ich mich. »Meint ihr, der Streit hat etwas mit der Reise zu tun?«, fragte ich besorgt. Aus irgendeinem Grund beschlich mich das Gefühl, etwas Schlimmes getan zu haben. Nur wusste ich nicht, was. Trotzdem stritten sich meine Eltern, die ich als große Vorbilder sah. Mir war so, als hätte ich etwas Wertvolles zerstört.

Balder fühlte mein Unbehagen. »Zerbrich dir mal nicht deinen komischen, rothaarigen Kopf! Das wird sich spätestens klären, wenn wir in Uppsala sind!«, stellte er nüchtern fest. »Glaubt ihr, wir bekommen auch etwas von diesen seltsamen Tränken, die die Erwachsenen dort trinken?«, wollte er wissen.

»Schnauze, Männer! Jetzt wird geschlafen!«, befahl Wulfgar. Er übte sich, wie so oft, im Befehlston, was uns anderen schrecklich auf die Nerven ging.

»Selber Schnauze!«, knurrten wir Zweit-, Dritt-und Viert-Geigen zurück und versuchten Schlaf zu finden.

Bei uns herrschte vor dem Zubettgehen niemals die Harmonie der Waltons. Allgemein wurde mit harten Bandagen gekämpft. Und solange Wulfgar noch nicht der Stammesführer war, durften wir ihm noch ein wenig widersprechen. Diesen Umstand reizten wir natürlicherweise bis zum Äußersten aus.

Am nächsten Tag herrschte zwischen meinen Eltern noch immer die reinste Eiszeit. Dessen ungeachtet, zog unsere Schiffskarawane in Richtung Süden. Wir Kinder waren wie elektrisiert. Zuerst übernachteten wir in Niðaróss, dem heutigen Trondheim. Die Fahrt ging weiter, weil sich nun unser Onkel Ásgrímur ebenfalls mit seiner Sippe der hiesigen Reisegesellschaft anschloss. Immer mehr Onkel und Vettern kamen hinzu, bis wir eine richtige Prozession anführten. Derweil ging es nach Bergen, vorbei an Stavanger, durch das Skagerrak nach Gothenburg, dem heutigen Göteborg. Von dort durchfuhren wir das Kattegat, wo bereits mein Onkel Úlfur mit Sippe im Langschiff auf uns wartete. Derart vollzählig, ging es gemeinsam durch die Meerenge zwischen Kopenhagen und Malmö. Anschließend schlugen wir wieder den Kurs Richtung Norden ein, passierten den Kalmarsund, fuhren zuerst an Öland, danach an Gotland vorbei. Anschließend umschifften wir Stockholm - um dann in nordwestlicher Richtung - etliche Inseln zu passieren und Fjorde zu durchfahren. Wir fuhren in den Fluss Fyrisån, schafften es aber nicht direkt bis Uppsala, da die Halteplätze bereits alle belegt waren und jeder dort festmachen musste, wo er einen Platz für sein Boot fand. Nie zuvor sah ich so viele Langschiffe an einem einzigen Ort. Dergleichen galt für die Menschen. Der Norden war nicht gerade überbevölkert. Hier jedoch, traten sich beinahe alle auf die Füße. Jeder hatte Opfergaben dabei, die er den Göttern darbringen wollte.

Uppsala besaß im eigentlichen Sinne nicht einen einzelnen Tempel. Eher eine Tempelanlage, in der die verschiedenen Statuen der Götter, nur leicht überdacht durch eine Art Pavillon, ausgestellt waren. Die Opferplätze waren von einem Wegenetz durchkreuzt und umspannt. Vor jeder Statue im Schrein, befanden sich reihenweise Opfertische, auf denen der Bittsteller seine Opfergaben legen konnte. Das Opfern der Tiere und Menschen war einzig und allein der Priesterschaft vorbehalten. Heutzutage würde ich diese Priester wohl eher als Schamanen bezeichnen.

Die Pilger legten Getreidegarben, Brot, Obst und Gemüse auf die Opfertische; knieten nieder und erhoben die Hände zum Gebet. Viele brachten den Göttern ihre Trankopfer dar. Wie bei allen Gläubigen, hatte jeder seinen persönlichen Grund, die Götter um ihren Beistand anzurufen.

Mein Vater dankte Odin für die Gesundheit seiner Sippe. Zudem bedankte er sich für das gute Wetter. Schließlich galt es im Norden nicht als selbstverständlich, gerade auf einer Pilgerfahrt gutes Wetter zu haben. Nicht auszudenken, wie uns der Besuch in Uppsala im Gedächtnis geblieben wäre, wenn es in Strömen geregnet hätte. Eins stand fest: Die anderen mussten wesentlich mehr unter den Umständen einer schlechten Lagerstatt leiden. Denn wir hatten unsere Jurte dabei, die viel komfortabler war, als ein schnödes Zelt.

Was am Abend vor dem großen Opferfest abging, konnten wir Kinder leider nicht voll und ganz begreifen. Sehr zu unserem Bedauern, durfte von uns lediglich Wulfgar am Fest der Erwachsenen teilnehmen. Wir jüngeren Geschwister mussten leider pünktlich schlafen gehen. Und da Numa noch immer stoisch vor sich hin schmollte, ging sie ebenfalls mit uns zeitig zu Bett.

Neidvoll hörte ich in der Ferne geheimnisvoll verlockend die Trommeln im Takt schlagen; das Lachen, Singen und Johlen der Feiernden. Warum konnte ich nicht auch schon ein Krieger sein, so wie mein Bruder Wulfgar? Ich hoffte innigst, dass bis zum nächsten Opferfest in neun Jahren, uns die Bären noch nicht ausgegangen waren. Schließlich mussten meine beiden älteren Brüder auch jeweils einen erlegen.

Nachts wurde ich nicht wach, obwohl meine Geschwister am nächsten Morgen berichteten, mein Vater sei schwer berauscht der Länge nach in der Jurte hingeschlagen und liegengeblieben. Und das, obwohl Wulfgar darum bemüht war, meinen Vater wieder aufzurichten. Es gelang ihm nicht. So fand Skryrmir sich frühmorgens, unter einer Decke liegend, ziemlich desorientiert in der Jurte wieder.

»Oh, mein Kopf!«, stöhnte er und schmatzte. »Was habe ich für einen widerlichen Geschmack im Mund!? Da hatte ich wohl einen Pilz zu viel gehabt.«

… Richtig gehört, er hatte nicht ein Pils zu viel, so wie heutzutage, sondern einen Pilz. Die Krieger versetzten sich öfter mal in einen rauschhaften Zustand, indem sie irgendwelche geheimnisvolle Pilze aßen, oder den Sud davon tranken. Vor allem sagte man den Berserkern nach, die sich vor wichtigen Kämpfen in Tierfelle hüllten, dass sie sich irgendein Gebräu aus Kräutern und Pilzen verabreichten, um anschließend in ihrer Rolle als wilde Tiere voll und ganz aufzugehen. Kein Wunder, wenn sie als völlig furchtlos und todesverachtend galten, wenn sie während einer Schlacht dermaßen stoned waren...

Wir hingegen, guckten unseren Erzeuger ziemlich verwundert an und lachten laut los.

»Was ist?«, fragte er unwissend.

»Papa, deine Augenklappe!«, sagte meine jüngere Schwester Gundfreya und kicherte.

Nach seiner Augenklappe tastend, ob sie überhaupt noch vorhanden sei, drehte Skryrmir sich um und nahm sie ab. Er drehte sich dabei von uns weg, was er immer tat, um uns den grausigen Anblick seiner leeren Augenhöhle zu ersparen. Dann begann auch er, lauthals zu lachen.

Irgendein Witzbold hatte ihm in dieser ausgelassenen Nacht ein offenes Auge auf seine Augenklappe gemalt. Dieses Kunstwerk sorgte bei uns für allgemeine Erheiterung. Bei uns allen, außer bei Numa, die am heutigen Tag wesentlich bedrückter erschien, als auf der Fahrt, wo sie lediglich vor sich hin schmollte.

»Na, so was. So, genug gelacht! Kinder, zieht euch an und dann soll sich einer von den Jungs um die Opfertiere und Sklaven kümmern! Sie sollen heute nicht hungrig sterben!«, befahl Skryrmir, der das mit Kreide aufgemalte Auge wegwischte.

Na toll! Und wieder fluchte ich, dass ich keinen kleineren Bruder hatte, auf den ich die ungeliebten Pflichten abwälzen konnte, die an mir hängenblieben. Ich war wie immer in der Befehlskette der letzte und musste die bittere Kröte schlucken.

Murrend ging ich hinaus und fütterte die neun Ziegen und neun Hammel mit Heu. Mein Vater hatte sie zwecks des Götteropfers für Allvater Odin ausgesucht. Dann holte ich Eimer und Schemel aus der Jurte und molk die Ziegen ein letztes Mal, um mit deren Milch die Sklaven abzufrühstücken. Diese waren lediglich zwei dürre Kerle, mit rasierter Tonsur, die ganz offensichtlich - ihr Schicksal vor Augen - aus Angst zitterten. Skryrmir hatte sie aus irgendeinem gottverlassenen Kloster von den britischen Inseln mitgebracht. Bei ihnen handelte es sich um von uns verspottete Pinselaffen, die nicht einmal einen Klafter Brennholz hacken konnten, ohne dabei einen Finger zu verlieren. Sie brachten nichts anderes zustande, als gebückt an einem Pult stehend, mit Feder und Tinte auf Pergament herumzukratzen. Lesen oder schreiben konnte von uns sowieso keiner. Ergo waren sie als Arbeiter absolut unbrauchbar.

Sie lehnten die Ziegenmilch ab, und beteten stattdessen zu ihrem Gott. War mir sowieso wurscht, dann trank ich die Milch eben selbst. Mitleid hatte ich mit keinem. Für mich waren sie nichts anderes, als Ziegen oder Schafe. In meinen Augen taugte ihr Gott nicht viel, denn sonst würden sie nicht wie die Hasenfüße vor lauter Schiss schlottern. Wir Nordmänner hingegen gingen furchtlos in den Tod, mit dem Wissen, dass wir selbst in Asgard noch kämpfen, saufen und schmausen werden.

Endlich war es soweit. Wir brachen mit unserer Sippe auf, um den Priestern unsere Opfergaben zu überbringen. Selbstredend war die Schlange der Wartenden lang. Da aber, außer Skryrmir und Wulfgar, keiner von uns übermäßig ausgelassen in der Nacht zuvor gezecht hatte, brachen wir somit zeitig auf, um uns dort bei den Opfernden einzureihen. Die Warteschlange löste sich zügig auf, weil nicht alle dem Gottvater Odin opfern wollten, sondern die Opferschreine anderer Götter ansteuerten.

Als die Reihe an uns kam, stellte sich heraus, dass Skryrmir die Priesterschaft am Schrein Odins kannte. Einen riesigen Schrecken bekam ich, als er mich dem obersten Priester sogar namentlich vorstellte.

»Allsherjargði, dies ist Ragnor, mein jüngster Sohn. Der, von dem ich dir erzählte.«

Die anderen Priester beäugten mich, als stünde ich zum Verkauf. Wollten sie mir etwa ins Maul schauen?

Besagter Allsherjargði nickte. »Ah, ja… Der Ragnor, der von den Toten zurückkehrte, weil es Odins Wille war.«

Dabei musterte mich der oberste Priester, als sei ich ebenfalls ein ausgesuchtes Opfertier. Es hätte mich wirklich nicht gewundert, wenn mein letztes Stündlein geschlagen hätte. Doch waren meine Eltern dazu imstande, ihren jüngsten Sohn durch eine Opferung sterben zu lassen?

Obwohl - stets betonte mein Vater, welch großes Opfer er an die Götter für mich und meine Mutter damals bringen musste. Und wieder erzählte er bei dieser Gelegenheit die alte Geschichte, die mir schon zum Halse heraushing. Die, von meiner schwierigen Geburt, und wie ich beinahe meine Mutter dabei tötete. Echt, als hätte ich ungezogener Bengel so ein Unding mit Absicht getan, oder was? Und wie immer, zeigte er auf sein nicht vorhandenes Auge: »Und das habe ich Odin gegeben, damit er dich weiterleben lässt!«

… Boah, er konnte einem wirklich ein schlechtes Gewissen einbläuen. Und meine älteren Geschwister stimmten dem auch noch zu. Sie waren damals selbst Zeugen geworden, wie meinem Vater, urplötzlich nach meiner Geburt, ein Auge fehlte – ergo, trug ich die Schuld daran, dass er überall nur noch als »Skryrmir Einauge« bekannt wurde...

Mein Vater tätschelte stolz meine Schulter. »Sieh genau zu, mein Sohn, damit du für die Zukunft lernst, wie so eine Opferung vollzogen wird! Der Dienst an den Göttern ist heilig.«

»Ja, Vater, heilig«, sagte ich brav. Ganz nebenbei fragte ich mich, ob ich jetzt alt genug sei, um in Zukunft selbst zuhause zu schlachten. Denn bisher durften das nur die Köchin, und meine beiden älteren Brüder, Wulfgar und Sigurd.

»Odin, wir preisen dich!«, sagte der Priester, der, ganz nebenbei erwähnt, eine Lederschürze trug, um sich vor der Blutfontäne der Opfergaben zu schützen.

»Odin, wir preisen dich! Nimm unsere Opfergaben!«, intonierten wir alle zusammen. Dieser Vorgang wiederholte sich ganze weitere neunzehn Male. Zudem fragte ich mich, was die Priesterschaft wohl mit all dem vielen Fleisch anfing. Besaßen sie vielleicht eine hauseigene Metzgerei? Es ging ja nicht allein ums Fleisch, sondern ebenso um das Fell und die vielen Häute.

Endlich waren wir mit dem Opfervorgang durch. Wir freuten uns alle auf die Heimreise. Unsere Sippe folgte Skryrmir, der mich zu sich winkte: »Ragnor? Du bleibst hier im Heiligtum.«

Das traf mich wie ein harter Schlag ins Gesicht, weil ich vermutete, ich hätte ihm einen Grund geliefert, der seinen Zorn auf mich zog. »Vater, warum denn? Mir ist nicht bewusst, dich verärgert zu haben. Holt ihr mich später wieder ab?«

Ernst sah er mich an und schüttelte den Kopf: »Offenbar hast du mich falsch verstanden. Du wirst hier bei der Priesterschaft bleiben und lernen, Odin zu dienen!«, tätschelte er meine Schulter. »Das ist eine große Ehre für unsere Familie, weil du bei den Priestern des Tempels aufgenommen wirst. Sie nehmen jährlich nur eine begrenzte Anzahl Novizen auf. Gehorche und lerne, mein Sohn. Und mach uns stolz! Tja, dann verabschiede dich von allen«, überrumpelte er mich förmlich.

Und nun wurde mir klar, warum meine Mutter in der letzten Nacht vor der Abfahrt vor Wut buchstäblich schäumte.

Tapfer versuchte ich beim Abschied meine Tränen zurückzuhalten. Meine Welt brach förmlich zusammen. Ich war erst zarte acht Jahre alt und sollte von all denen getrennt werden, die ich am meisten liebte. Zudem wusste ich nicht, was mich erwartete.

Bei der Verabschiedung zeigte ich Onkel Hackbart die kalte Schulter. Er wusste bereits seit einem halben Jahr von den Plänen meines Vaters – und hatte mich nicht einmal gewarnt…

*

Das Schicksal lacht mit spitzen Zähnen

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