Читать книгу Das Schicksal lacht mit spitzen Zähnen - Elke Bulenda - Страница 11

Ein Junge ist eine Haut, gespannt über einen Appetit; ein Lärm, bedeckt mit Schmutz.

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(Sprichwort)

Mein Sohn lächelte: »Klingt ja so, als hättest du eine fantastische Kindheit gehabt.«

»Ja, die Ferien bei meinem Onkel Úlfur waren toll. Sie nahmen ein wenig die Spannung heraus, die ansonsten stets zwischen meiner Mutter und Onkel Hackbart herrschten. Wenn mein Vater nicht zuhause war, wetzten sie die Messer. Hackbart nannte Numa meist eine tätowierte Bratze, und sie schimpfte meinen Onkel einen fetten, trägen Kerl, der uns die Haare vom Kopf fraß und den ganzen Tag herumlungerte und Met soff.«

»Tätowiert?«, fragte Agnir interessiert.

»Ja, die Arme meiner Mutter waren tätowiert. Das konnte man nur sehen, wenn sie im Sommer Kleidung ohne Ärmel trug. Natürlich nicht solche Tätowierungen wie heutzutage, oder wie es damals die Seemänner trugen, mit nackter Frau auf dem Bizeps. Nein, es waren skythische Symbole, die ihr einst, als sie ein kleines Kind war, ein Schamane in die Haut tätowiert hatte. Das waren Schutzsymbole, die sie vor bösen Geistern beschützen sollten. Sie dienten zum Schutze und dazu, ihren Träger gesund zu erhalten. Halt eben mystisches Zeug. Numa erklärte mir damals die Bedeutung jedes Zeichens, aber wie sie genau aussahen, kann ich gar nicht beschreiben. Eben wie eine Mischung aus Kringeln, Schrift und Symbolen.«

»Cool. Und was hat dein Vater über die Situation zwischen Numa und Hackbart gesagt?«, fragte Agnir und griff in die Kühlbox, um sich eine Blutkonserve zu angeln. Wir trinken sie so, wie andere Leute ihre Capri-Sonne. Nur nicht mit Trinkhalm, sondern mit Schlauch.

»Skryrmir saß in dieser Beziehung zwischen den Stühlen. Er liebte sowohl Numa, als auch seinen Bruder, der ja gewissermaßen der Statthalter meines Vaters war. Natürlich gab es zwischen ihnen auch mal Reibereien, vor allem, weil die Haushaltung von Hackbart und dessen Anhang, beinahe das Dreifache unserer Haushaltung erforderte. Zudem war Hackbart ein wahrer Hedonist, der viel und gut aß. Aber das konnte mein Vater gewissermaßen als Hackbarts Lohn ansehen. Er ermahnte die beiden immer wieder, gemeinsam Frieden zu halten. Im Grunde grauste es ihm, sich zwischen beiden geliebten Menschen entscheiden zu müssen. Dabei wusste jeder, wie die Wahl ausfallen würde. Es heißt zwar stets, Blut sei dicker als Wasser, aber seine Frau ist einem Manne stets wichtiger, als dessen Bruder.

Wir Kinder liebten Hackbart, eben weil er immer vor Ort war. Und leicht angetrunken, ein lustiger, gutmütiger Geselle, der schon mal ein Auge zudrückte, wenn wir irgendwelche Verfehlungen begingen. Selbstverständlich liebten wir Numa ebenfalls, sie war eben unsere Mutter, restriktiv, die Ersatzmutter.

Und mich packt noch im Nachhinein das schlechte Gewissen, da ich es war, der quasi für die Verbannung meines Onkels sorgte, wenn auch ungewollt.

Im Grunde waren wir Kinder echte Freilandgewächse. Ins Haus kamen wir nur, wenn uns der Hunger plagte. Tja, und das war gewissermaßen rund um die Uhr. Ein Kind im Wachstum, und dann noch an der frischen Luft? Das ist der Nährboden für den Kohldampf schlechthin. Ich war ungefähr sieben, nein, acht Jahre alt. Und da ich nicht am Euter einer Ziege saugen wollte, enterte ich die große Halle, um der Köchin etwas Essbares abzuluchsen. Was ich im Inneren des Hauses zu sehen bekam, verwirrte mich außerordentlich. Deshalb schlug ich extra laut die schwere Tür hinter mir zu. Mathilda und Hackbart sprangen auseinander, als hätten sie sich verbrannt. Sie wirkten verlegen und taten so, als sei nichts Besonderes passiert.

Ich stürmte an ihnen vorbei, sagte: »Hallo!« und trabte in die warme Küche, wo Aenna das Abendessen zubereitete.

»Na, Ragnor? Dir kann man ja regelrecht beim Wachsen zusehen!«, sagte die runde Köchin. Sie meinte es immer gut mit mir. »Aber nicht die Keule!«, schlug sie mir auf die ungewaschenen Finger. »Wenn du sie jetzt schon futterst, bekommst du heute Abend nichts mehr! Hier, du darfst die Lebern essen!«, servierte sie mir Gänseleber. Auch gut. Nachdem sie dazu noch etwas Brot und Käse für mich rausrückte und ich einigermaßen gesättigt war, zog ich wieder Leine.

Neidvoll betrachtete ich meinen großen Bruder Wulfgar, der in diesem Sommer zu einem echten Krieger geworden war. Er trug voller Stolz seine frisch gestochenen Ohrringe, und da er einen Bären erlegt hatte, dessen Zähne an einer Kette um seinen Hals. Und im nächsten Jahr war dann Sigurd an der Reihe. Zwei Jahre später mein Bruder Balder. Ich hingegen musste noch mindestens sechs Jahre warten, bis ich meine Wolfsschuhe bekam und reif für das Initiationsritus war. Im nächsten Sommer dürfte Wulfgar dann endlich mit auf große Fahrt gehen, womöglich würde er sogar bald eine Braut bekommen und seine eigene Familie gründen.

Das war für mich im höchsten Maße frustrierend. Dabei konnte ich es kaum erwarten, auf Beutefang zu gehen. Stattdessen musste ich mit Numa, meinen Geschwistern und dem dämlichen Kamel, in die Natur ziehen, die Jurte aufbauen und campen. Campen! Dabei wartete hinter dem Fjord das große Abenteuer und unendlicher Reichtum auf mich!

»Ragnor? Was hast du? Du siehst so nachdenklich aus!«, bemerkte Numa, die ihren braunen Hengst neben sich am Zügel führte. Wie jeden Tag, ritt Numa mindestens eine Stunde aus.

»Ich gebe es zu, ich bin verwirrt. Onkel Hackbart hat Mathilda geküsst. Dabei ist Mathilda doch mit ihrem Gott verheiratet, oder etwa nicht?«, entgegnete ich. Im Grunde wusste ich nicht, dass ich damit geradewegs Öl ins Feuer goss. Schließlich vermutet ein Kind bei einem Kuss keinerlei Sünde. Bei Numa hingegen war ich mir nicht so sicher. Sie machte ein Gesicht, als habe sich damit ein besonders böser Verdacht bestätigt.

Wie sich herausstellte, ahnte sie schon länger etwas. Vor allem, weil ihr Verhütungsgebräu in letzter Zeit auf geheimnisvolle Weise extrem schnell verdunstete. Deshalb markierte sie den Flüssigkeitsstand in der Flasche unauffällig mit etwas Kreide. Nachdem ihr Verdacht bestätigt wurde, nahm sie eine zweite Flasche, schüttete die Hälfte des Kräutersuds hinein und verdünnte den verbliebenen Rest mit Wasser. Ihren unverdünnten Teil versteckte sie in der Schlafkammer.

Nun, vielleicht war ich wirklich derjenige, der das Fass zum Überlaufen brachte. Jedenfalls blies Numa zum Angriff, sobald mein Vater zurückkehrte.

Wie immer, wenn mein Vater heimkam, holten wir ihn von der Anlegestelle ab, wo er uns noch vor Ort mit Geschenken überhäufte. Erst später kapierte ich, dass es seine Taktik war, uns Kinder für eine Weile los zu werden, damit er sich erst einmal mit meiner Mutter vergnügen konnte. Obwohl sie schon eine Weile verheiratet waren, konnten sie nicht von einander lassen. Ihre Liebe war so tief, dass sie gar nicht abkühlen konnte, zumal meine Eltern ihre lange Trennung nur schwer verkrafteten. Mein Vater unterbreitete meiner Mutter sogar einmal den Vorschlag, sie auf Beutezug mitzunehmen. Dies lehnte sie mit der Begründung ab, sie sei nicht gut im Rauben und erst recht nicht im Vergewaltigen. Okay, ich wusste zwar, was es mit dem Rauben auf sich hatte, nur nicht, was vergewaltigen bedeutete.

Wenig später gesellte sich mein Vater zu Hackbart in die große Halle. Dieser ahnte sicherlich schon, dass das Unbill frontal auf ihn zukam.

»Mein lieber Bruder...«, begann Skryrmir.

Okay, ich gebe es zu: Ich hatte mich in der Halle versteckt, um dieses Gespräch zu belauschen. Wie immer, war Balder an meiner Seite. Wir hielten es für einen Spaß, zu erfahren, was die Erwachsenen da so Wichtiges zu besprechen hatten.

Hackbart ging gleich in die Defensive. »Ich weiß, was du mir vorwerfen willst! Aber diesmal...«

»Vorwerfen? Hackbart, soll das ein Witz sein? Es ist eine unumstößliche Tatsache. Sag mir nicht, dass es diesmal etwas ganz anderes ist! Kannst du dich entsinnen, was ich dir genau an dem Tag sagte, als ich Mathilda ins Haus brachte? Die Hausangestellten sind für dich tabu! Welchen Teil dieses simplen Satzes verstehst du nicht? Du, mit deiner unstillbaren Gier nach Frischfleisch!«, knurrte der Stammesfürst.

»Du tust mir unrecht!«, wehrte Hackbart ab.

»Nein, du, beziehungsweise Mathilda. Ihr tatet unrecht. Mathilda bediente sich heimlich an Numas Kräutersud, hat damit unser Vertrauen missbraucht und Numa hintergangen! Und was hat angeblich Mathildas Gott gefordert? - Du sollst nicht stehlen? - War es nicht so? Ich weiß nicht, welches Gebot das ist, aber ihr Gott hatte es so befohlen!«

»Lassen wir mal die Götter aus dem Spiel. Ich gebe zu, es war meine Idee, etwas von Numas Kräutersud abzuzweigen. Aber offensichtlich hat das Gesöff ohnehin nicht gewirkt. Mathilda ist schwanger«, gab Hackbart reumütig zu.

»Na, tolle Wurst. Nun, die Schwangerschaft habt ihr Numa zu verdanken. Sie verdünnte den Kräutersud, da sie schon lange vermutet, dass sich jemand daran zu schaffen macht. Glückwunsch. Das ist jetzt die vierte Bedienstete, der du einen Bastard einpflanzt«, sagte Skryrmir trocken. Er hatte schon lange die Hoffnung aufgegeben, aus seinem Bruder könnte irgendwann einmal ein verantwortungsbewusster Mensch werden.

»Skryrmir, diesmal ist es wirklich anders, denn Mathilda und ich sind so etwas wie Seelenverwandte. Ich will nicht behaupten, dass mir ihr Gott mehr zusagt, als unsere Götter. Dennoch verlangt dieser kein Blut, oder andere Opfer. Er ist ein friedfertiger Gott, der gut zu seinen Gläubigen ist. Ich bin ebenfalls friedfertig. Mathildas Worte haben mich tief berührt. Und wenn sie von ihrem Gott spricht, fühle ich mich ihr nahe. Sie ist sehr klug, lehrt mich sogar das Lesen und Schreiben. Die anderen Frauen sind schmückendes Beiwerk, aber Mathilda ist jemand, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will.«

»Und was ist mit Mathildas Gott? Meinst du nicht, er wird euch deshalb zürnen?«, fragte Skryrmir skeptisch.

»Unser Kind wird den Dienst für seine Mutter an ihrem Gott übernehmen. Du gabst Odin schließlich auch deinen Sohn. Weiß deine Numa schon von deinen Plänen?«

… Das machte mich hellhörig. Welchen Sohn meinte er?...

Skryrmir blies die Backen auf und ließ langsam die Luft entweichen. »Nein, und es wäre schön, wenn sie es nicht frühzeitig erfährt. Der Winter ist lang und ein leeres Bett wärmt mich nicht. Versprich mir, darüber zu schweigen!«, forderte er.

»Selbstverständlich. Ich rede ohnehin mit ihr nur das Nötigste. Ansonsten beschimpfen wir uns«, grinste Hackbart.

Skryrmir nickte erleichtert. »Gut. Tja, was soll ich sagen? Selbstredend freue ich mich, dass du es anscheinend diesmal mit einer Frau ernst meinst. Andererseits, kann das reine Augenwischerei sein. Hackbart, wir haben denselben Vater. In deinen Adern fließt ebenfalls das Blut des Drachentöters. Dieser ewige Zwist mit dir und Numa, so geht das nicht mehr weiter. Bitte hilf mir, damit ich dich nicht fortschicken muss! Hilf mir, eine beidseitig akzeptable Lösung zu finden! Bring mich nicht um meinen inneren Frieden!«

»Du deutest an, was mir schon lange klar ist. Für mich ist diese Situation ebenfalls unerträglich. Numa ist zwar meine Fürstin, doch bin ich nicht ihr Lakai. Weißt du, ich spiele schon lange mit dem Gedanken, in den Süden zu gehen. Damals, als wir nach Hólmgarðr fuhren, kurz bevor wir ankamen, da befuhren wir einen Fluss, der voller Leben war.«

»Meinst du die Newa?«, fragte Skryrmir.

»Ja, genau. Dort würde ich mich gerne niederlassen und mit Pelzen handeln. Nach Hólmgarðr ist es nicht weit und so können wir unser Einflussgebiet weiter nach Osten ausweiten. Du kannst bei mir investieren. Wir könnten ein Vermögen mit den Pelzen machen. Ohnehin wirst du den Platz, der frei wird, gebrauchen können. Deine Kinder werden langsam erwachsen und wenn jeder von ihnen eine eigene Kammer bekäme, würden sie sich freuen.«

»Stimmt, die Pelze waren hervorragend. Und du hast recht. Langsam wird es ziemlich eng hier im Haus. Ich spielte schon mit dem Gedanken, dich und deine Familie anderweitig unterzubringen. Du wirst uns doch besuchen kommen?«, fragte Skryrmir wehmütig.

»Natürlich! Meine Nichten und Neffen sind mir beinahe wichtiger als meine eigene Brut. Ich kann mich im Süden für dich um die Waren kümmern, die du ohnedies von dort bekommst. So werde ich einmal im Jahr zu dir in den Norden fahren. Bei Odin, ich hasse lange Bootsreisen. Trotzdem, es wird einfach Zeit, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Ich bin es leid, einfach nur Skryrmirs kleiner, von allen belächelter Bruder zu sein«, stellte Hackbart fest.

»Niemand belächelt dich. Du bist mir lieb und teuer. Du warst ein weiser Statthalter. Gut, ich werde dich in deinem Vorhaben unterstützen. Wann wirst du gehen? Und wen nimmst du mit?«

Hackbart überlegte. »Im Frühjahr wollten wir sowieso alle nach Uppsala zum großen Opferfest. Nach den Feierlichkeiten würden sich unsere Wege dann trennen, weil es bis zur Newa nicht mehr weit ist. Wir müssen dann nur noch ein kleines Stück nach Osten reisen. Tut mir leid, Bruder, wenn ich dir das ganze Haus ausräume, aber ich werde meine Frauen und Kinder, sowie meine Mutter Aenna mitnehmen. Selbstverständlich kommt auch Mathilda mit. Es sei denn, du verbietest es.

»Nein, Mathilda soll dich begleiten. Was wäre ich für ein Mensch, wenn ich dich um deine große Liebe bringen würde?«, fragte Skryrmir.

»Ich danke dir von Herzen, Bruder. Tja, dann würde ich vorschlagen, dass du dich vorzeitig für passenden Ersatz umsiehst. Vielleicht solltest du Wulfgar im nächsten Jahr noch nicht auf die Menschheit loslassen, sondern ihm die Rechtsprechung überlassen«, schlug er vor.

»Ja, ich sehe mich jetzt schon mal nach neuen Leuten um. Solange das alte Personal noch da ist, kann es die Neuen einarbeiten. Und Wulfgar sollte wirklich zuerst lernen, wie ein weiser Führer seine Entscheidungen trifft. Er muss sich vorerst in Geduld üben. Na, der wird sich...«, hielt mein Vater mitten im Satz inne.

Wir hielten uns noch immer im Dunkel der Halle unter einer Bank verborgen. Balder und ich zuckten zusammen, weil uns unmittelbar einer der großen Wolfshunde gegenüberstand, und seinen stinkenden Atem in unsere Gesichter hechelte. Wie konnten wir nur glauben, unser Vater würde uns nicht entdecken? Wo er doch drei Nasen, fünf Augen und zehn Beine besaß. Und schon hörten wir Schritte, die sich uns näherten.

»Was treibt ihr beiden Heimlichtuer hier unter dieser Bank? Habt ihr etwa gelauscht?«, fragte unser Vater barsch, was ansonsten nicht seine Art war. Doch bei Spionage konnte er ziemlich ungehalten werden. Er sah es als sein persönliches Privileg an, selbst zu verkünden, was Sache war. Er hasste es, wenn Gerüchte vorschnell die Runde machten.

»Onkel Hackbart geht?«, fragte ich voller Pessimismus.

»Echt? Wir fahren nächstes Jahr nach Uppsala?«, fragte Balder erfreut. Das war der große Unterschied zwischen uns. Ich sah offensichtlich nur die Finsternis, während Balder stets die bunten Farben und Schmetterlinge wahrnahm.

»Ja, und ja. Schweigt! Sonst gibt es von Arnulf ein paar fette Hiebe! Wehe einer von euch denkt auch nur laut darüber nach! Ihn werde ich finden, schließlich weiß ich, wo ihr wohnt!«, drohte mein Vater gespielt streng. Trotzdem verfehlte seine Mahnung nicht ihre Wirkung. Denn niemand wollte von Arnulf freiwillig Hiebe kassieren.

Arnulf… Noch heute denke ich mit Grauen an ihn zurück!

»Wer war dieser Arnulf? Und warum graut es dich noch heute vor ihm?«, fragte Agnir höchst interessiert.

»Weil er uns ständig tötete!«, gab ich lachend zurück.

»Wie? Er tötete euch ständig? Wie soll denn das gehen?«, wollte Agnir wissen. Von Weitem sahen wir Annie, die mit den Hunden Gassi ging. Wie die Unschuldslämmer winkten wir ihr, selbst wenn wir momentan nichts Schlimmes ausgefressen hatten. Annie, alias Fergus, ist meine Schwiegermutter. Eine Person, die einem permanent ein schlechtes Gewissen fühlen lässt.

Sie winkte zurück und die Hunde tollten um sie herum…

… Nein, eher nur ein Hund tollte um sie herum, nämlich Schnauze, der, dank Cornelius Gentherapie, wieder vier Beine besaß. Eine komplizierte Sache, zu erläutern, wie das genauer funktioniert. Immerhin war das Ergebnis voll und ganz überzeugend. Der andere Hund in Annies Dunstkreis, ist Prince Charles, ihr Basset Hound. Diese Rasse ist ebenfalls bekannt als Hush Puppy... Wie treffend - »Hasch Papi« wird´s ausgesprochen. Ja, und wie ein behaschter Papi, schlurfte der Hund durch die Gegend. Nie zuvor sah ich einen dermaßen relaxten Köter.

Doch zurück zu Arnulf…

Solche Typen wie Arnulf, würde man heutzutage wahrscheinlich als Veteranen mit posttraumatischer Störung bezeichnen. Wir bezeichneten Arnulf als gemeinen Schänder mit Dachschaden. Denn er war auf seine eigene Art ein wenig verschroben. Der alte Recke unterrichtete uns im Kampf mit Schwert und Schild, der Axt und dem Speer. Aus uns unerklärlichen Gründen, hatte er seine Schildhand verloren, was ihn nicht unbedingt erträglicher machte. Der Schmied unserer Siedlung hatte ihm eine Vorrichtung für seinen Armstumpf geschmiedet, die es ihm ermöglichte, einen Schild zu halten. Während des Unterrichts kannte Arnulf mit uns blutigen Anfängern kein Erbarmen. Jedes Mal, wenn wir einen taktischen Fehler machten, ging er dazwischen und zeigte uns, die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Ziemlich schmerzhafte, wohlgemerkt. Dabei brüllte er jedes Mal: »Wulfgar! Du bist tot!«, und zack, bekam Wulfgar die Breitseite von Arnulfs Schwert zu spüren. Oder er rief: »Ragnor, den Schild hoch! Zu spät, du bist tot! Jetzt gehtʼs zu deinen Ahnen! Grüß sie von mir!« und dengel… bekam ich seinen Schwertknauf in die Rippen. Bei unseren Exerzitien starben wir mindestens dreimal am Tag. Hinterher taten uns sämtliche Knochen weh, nicht nur dank Arnulfs Belehrungen. Die harmlosen Holzschwerter hatten wir schon lange abgelegt. Um unsere Muskeln zu trainieren, kämpften wir mit Waffen, die zwar stumpf waren, aber immerhin beinahe das Gewicht von echten Waffen besaßen. Natürlich der Größe ihres Trägers angepasst. Dennoch, sobald jemand zum Krieger wurde, bekam er das Recht, selbst Sorge zu tragen, dass die Waffen von ihm scharf gemacht wurden. Stolz durfte der junge Krieger dann beim Schmied am Schleifstein stehen und seine Kriegsgeräte schärfen. Bevor er dann an Bord ging, bekam er von Arnulf einen Wetzstein in die Hand gedrückt, ganz so, als sei es ein Orden, der ans Revers geheftet gehört.

Wie Arnulf seine Hand verlor? Obwohl er als unser Ausbilder kein Erbarmen kannte, war er nach dem Unterricht erstaunlich sanftmütig. Mir kam es beinahe so vor, als gäbe es zwei Arnulfs. Einer, der Spaß daran hatte, junge Menschen zu erniedrigen und ihnen stets vor Augen zu führen, was sie doch für erbärmliche Pfeifen seien. Mit den Mädchen ging er ein wenig sanfter um. Wir Jungs hingegen, hatten bei ihm nichts zu lachen. Und dann der andere Arnulf, der uns ehrfürchtig wie junge Fürstenkinder behandelte, - und haarsträubende Geschichten über den Verlust seiner Hand erzählte. Und jedes Mal eine andere. Wenn man das Ergebnis jeder Geschichte zusammenrechnete, hatte Arnulf mehr Hände verloren, als Argus Augen besaß.

Mal war er gefangen in einem Käfig, und vor ihm schlummerte ein grimmiger Wolf, der dummerweise den Käfigschlüssel gefressen hatte. Arnulf griff ihm in den Schlund und dabei erwachte die Bestie. Als Arnulf »Schnapp!« brüllte, kreischten meine Schwestern. So sehr hatte er sie erschreckt.

Allerdings sah er ziemlich ratlos aus, als ich fragte, wie er denn letztendlich aus dem Käfig gekommen sei. Leider blieb er uns diese Antwort schuldig. Sein Glück, da Aenna gerade rief, wir sollten zum Essen ins Haus kommen.

Ein anderes Mal erzählte Arnulf, er sei mit seinem Fischerboot unterwegs gewesen. Beim Netzeinholen sei ein schwarz-weißes Monster dort drin gewesen, welches mit einem einzigen Happen seine Hand abgebissen habe. Diese Geschichte klang für mich schon wesentlich glaubwürdiger, weil ich im Fjord ebenfalls riesige Wesen sah, mit Rückenflossen so lang, wie Schwerter. Ja, richtig geraten, es waren Schwertwale, auch Orcas genannt, die sich ab und zu mal neugierig bei uns umschauten. Sie tummelten sich des öfteren im Fjord, wenn die Lachssaison begann. Allerdings gingen sie immer wieder schleunigst stiften, wenn sie sahen, wie sich ihnen Boote näherten. Wahrscheinlich merkten sie, wie ihre Anwesenheit Begehrlichkeiten in uns weckten. Zudem schmeckten sie ganz gut.

…. Nee, ne? Ich höre schon wieder die entsetzten Schreie der Greenpeace-Aktivisten. Du meine Güte, es sind zwölfhundert Jahre ins Land gezogen, und Orcas gibt es immer noch!…

Dann gab es die Geschichtsvariante, in der ein Drache seine Hand abbiss. Und das, obwohl es schon seit Langem bei uns keine Drachen mehr gab. Jedenfalls wurden in letzter Zeit keine mehr gesichtet. Wahrscheinlich war ihnen der Zusammenstoß mit Harald eine Lehre gewesen und sie wanderten aus.

Interessanter fand ich die Geschichte, in der Arnulf von einem gefräßigen Troll gefangen wurde, der ihn mit der linken Hand an die Höhlenwand kettete. Während der Troll sich um das Feuer kümmerte, das aus Arnulf eine lecker Mahlzeit machen sollte, biss sich dieser unterdessen selbst die linke Hand ab. Okay, auch das finde ich unglaubwürdig. Aber allein die Vorstellung, wie Arnulf seine Hand abnagte, war sehr amüsant. Dennoch nicht unwahrscheinlich. Fallensteller fanden manchmal nur einzelne Gliedmaßen in ihren Fallen, weil sich das gefangene Tier die Pfote abbiss, um nicht gänzlich sterben zu müssen.

Nicht nur deshalb, denke ich mit Grauen an Arnulf zurück. Bis heute habe ich nicht erfahren, wie er seine Hand verlor. Vielleicht wurde sie ihm einst im Kampf abgeschlagen. Das würde erklären, weshalb er so ein gnadenloser und strenger Lehrer war. Er wollte uns davor bewahren, dasselbe Schicksal zu erleiden.

Außer Arnulf waren selbstverständlich auch die Winter ziemlich streng und hart. Für uns Racker trotzdem schön. Vor allem, wenn große Teile des Fjords zufroren. Dann konnten wir uns auf die Schilde setzen und lange Strecken darauf herunter rodeln, bis wir weit auf die Eisfläche hinausgetragen wurden. Und wer sich am weitesten an der Eiskante befand, war der Gewinner. Komisch, im Nachhinein wundere ich mich immer wieder, wieso keiner von uns Waghalsigen, im eisigen Wasser ertrank…

*

Das Schicksal lacht mit spitzen Zähnen

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