Читать книгу Das Schicksal lacht mit spitzen Zähnen - Elke Bulenda - Страница 16

Katastrophen machen kluge und starke Menschen immer zu Philosophen.

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(Honoré de Balzac)

»Oh, bitte, Papa. Warum erzählst du nicht weiter?«, quengelte mein Sohn ungeduldig. Ein seltsames Verhalten, wenn man bedenkt, dass er wie ein junger Mann aussieht und nicht wie das Kind, welches er eigentlich noch ist.

»Weil deine Oma uns geflüstert hat, wir sollen zum Essen nach oben kommen«, erhob ich mich.

»Was? Ist es schon wieder Zeit fürs Abendessen? Das ist doch wohl ein Witz, oder? Wer kann denn bei dieser Hitze überhaupt irgendetwas essen?«, fragte er erstaunt.

»Na, Harry, zum Beispiel«, machte ich mich über Harrys gesunden Appetit lustig. »Außerdem müsstest du selbst wissen, dass unser gemeinsames Abendessen heilig ist. Ich habe für die anderen eine Fruchtsuppe gemacht, die kalt gegessen wird. Übrigens, durch ein Sieb geseiht, können wir dann auch etwas davon zu uns nehmen. Los jetzt, die wird uns erfrischen! Zudem müsstest du nach meiner bisherigen Erzählung längst wissen, wie schnell es gehen kann, aus der Mitte seiner Familie gerissen zu werden. Lass uns gemeinsam die Zeit mit allen genießen. Nach dem Abendessen erzähle ich weiter, und nebenbei können wir ein bisschen die Pferde bewegen. Castor und Pollux werden sich freuen«, schlug ich vor.

»Was? Du willst dich freiwillig auf ein Pferd setzen?«, fragte Agnir ungläubig. »Du hast recht. Das muss mit Fruchtsuppe gefeiert werden! Wohin wollen wir denn nach dem Abendessen ausreiten?«

»Wir reiten gemütlich durch die Wälder bis zum Schiedersee, dort können sich die Gäule hinterher ein bisschen abkühlen«, schlug ich vor.

»Okay, abgemacht«, zeigte er sich einverstanden und wir gingen nach oben.

Nach dem Abendessen legte ich dem Zwillingsrappen Pollux lediglich das Zaumzeug an.

»Was? Reitest du etwa ohne Sattel?«, fragte Agnir erstaunt.

»Ja, nur mit Satteldecke, damit er mir nicht den Arsch nassschwitzt. Ich beabsichtige nicht, das arme Tier mit einem Galopp zu quälen, deshalb reite ich ohne Sattel«, beschied ich.

»Musst du schließlich selbst wissen, du reitest sicherlich ein paar Jährchen länger als ich«, zwinkerte mein Sohn. Er ging dabei lieber auf Nummer sicher und sattelte seinen Castor. Dann ritten wir gemächlich los, grüßten den Wachmann am Tor, und weiter ging es im Schritttempo durch den Wald. Zum Glück gibt es bei uns mehr Bäume als Menschen. Als Vater wäre ich bestimmt nicht so gelassen, wenn wir in einer Großstadt zuhause wären.

»Dir brennt doch eine Frage auf den Nägeln. Du bist schon die ganze Zeit zappelig«, stellte ich fest.

Mein Sohn nickte. »Ja, selbstverständlich. Ich frage mich, ob du eine Tracht Prügel von deinem Vater bekamst.«

»Mein Vater schlug mich nie, er beauftragte stets Arnulf dazu, uns zu disziplinieren, wenn wir es verdient hatten.«

»Was hat dein Vater gesagt, als er dich bei deinem Onkel in Niðaróss wiedersah?«

Zunächst einmal ließ man uns links liegen und über Gebühr lange warten. Die hohen Herren hatten sicherlich zuvorderst etwas sehr Wichtiges miteinander zu besprechen. Alle, die sich in der Burg aufhielten, waren unmittelbar entweder Brüder, oder Vettern meines Vaters. Hinzu kamen die anderen Gefolgsmänner, die Verbündete unserer Sippe waren.

Da wir Artisten nichts Besseres zu tun hatten, bereiteten wir uns auf die Vorstellung vor, inklusive dehnen und aufwärmen. Bento und ich jonglierten mit Keulen, die wir uns gegenseitig zuwarfen, während Luigi, bildlich gesehen, die Muskeln spielen ließ. Dieser monströse Anblick lenkte mich immer wieder ab, bis mir, einer gerechten Strafe gleich, eine Keule auf den Kopf fiel.

»Autsch!«, monierte ich, trug jedoch keinen Schaden davon, weil die Narrenkappe, die ich noch immer trug, wattiert war.

»Konzentriere dich, Ragnor!«, ermahnte mich Bento. »Stell dir mal vor, du jonglierst mit Fackeln! Dann würdest du jetzt lichterloh brennen. Oder noch besser, du spielst mit Äxten. Na, das wäre was! Ein guter Jongleur braucht beinahe nicht mehr auf die Objekte zu gucken, mit denen er jongliert. Aber so weit bist du leider noch nicht. Ergo - glotze nicht auf Luigis tanzende Muskelberge, sondern übe gefälligst weiter!«, ätzte Bento.

»Ja… Übung macht den Meister. Das sagte Arnulf auch immer wieder«, brummte ich und gab mein Bestes. Nach dem heutig Erlebten, wurmte es mich noch immer gewaltig, nicht so groß und stark wie Luigi zu sein. Zu viele Knuffe, Fäuste und Puffe waren auf mich niedergegangen. Dadurch wurde mir schmerzlich bewusst, weshalb Krieger nicht achtjährig in die Schlacht ziehen durften. Und bei dem rauen Ton, der unter den Kerlen herrschte, war das ohnehin der gänzlich falsche Platz für einen Dreikäsehoch.

»Ach ja. Wenn du der sofortigen Bestrafung durch deinen Vater vorerst entgehen willst, würde ich mich an deiner Stelle, erst nach der Vorstellung zu erkennen geben. Ansonsten wäre es durchaus möglich, dass wir unfreiwillige Zeugen werden, wie er dich vor aller Augen über das Knie legt!«, schlug Bento vor, nicht ohne dabei hämisch breit zu grinsen.

»Nein, Ragnor!«, schaltete sich Galatea ein. »Hör nicht auf diesen zynischen, alten und verbitterten Possenreißer. Obwohl ich es an deiner Stelle genauso machen würde, nur ohne diese unangenehme Sache mit den Schlägen. Eher, damit ich ihn ins Staunen versetzen kann, mit dem, was ich in der Zwischenzeit gelernt habe«, nickte sie mir aufmunternd zu.

»Na ja, ich sollte ihm eigentlich Ehre machen. Stattdessen habe ich nichts als Schande über ihn gebracht. Aber egal wie meine Strafe ausfällt, ich werde sie akzeptieren. Was ich danach mache, kommt darauf an, wie sie aussieht!«

Luigi lachte wieder tief wie ein Troll. »Ah, sieh einer an. Unser kleiner Ragnor ist ein verkappter Philosoph!«

»Äh, was ist ein Philosoph?«, wollte ich wissen.

Bento winkte ab. »Das ist ein Kerl, der mit Denken seinen Lebensunterhalt verdient!«

»Nee, ich glaube, mit diesem Beruf würde ich verhungern!«, bemerkte ich weise.

Neben uns räusperte sich der Hausmeier. »Hmmm, hmmm, hmmm, hmmm. Ich würde empfehlen, in die große Halle zu kommen. Den Herren gelüstet es nach Zerstreuung. Aber benehmt euch! Redet nur, wenn ihr angesprochen werdet. Das gilt allerdings nicht für den Narren. Da ist es sogar erwünscht. Ansonsten, Finger weg von den Speisen und den Getränken, so wie dem Eigentum anderer! Sollte ich jemandem bei einem Diebstahl erwischen, werde ich ihm die Hände abhacken lassen! Alle beide, wohlgemerkt! Verstanden? Gut, dann rein mit euch, widerwärtiges Gesinde!«

Während wir in die gute Stube gelassen wurden, wandte sich Bento an mich. »Heute steht Galatea für dich vor der Zielscheibe. Deshalb konzentriere dich, wenn du die Schöne nicht perforieren willst!«, kicherte er böse.

»Aber... wieso denn?«, fragte ich unsicher.

»Weil du so weit bist, deshalb!«, gab er leicht gereizt zurück.

Das war mir gar nicht recht, weil ich ohnehin schon arg nervös war. Sollte ich Galatea verletzen, würde ich es mir nie verzeihen können. Beim alten Narren wäre ich mir nicht so sicher, denn um ihn war es alles andere als schade.

Wir kamen in die große Halle und verbeugten uns tief vor dem hohen Publikum. Während ich das tat, suchte ich meinen Vater, den ich mit meinem Onkel Ásgrímur und einem anderen, älteren Krieger, an der hohen Tafel sitzend vorfand. Vor Vaters Füßen lagen entspannt die beiden großen Wolfshunde Hati und Skoll. Da sie meinen Geruch aufnahmen, hoben sie beide gleichzeitig die Köpfe.

Und dann begannen wir mit unserer Vorstellung. Galatea spielte die Leier und sang dabei wie ein Engel. Bento und ich führten unsere Jonglage vor. Dabei fingen wir lediglich mit zwei Keulen an, die wir uns langsam und spielerisch zuwarfen. Luigi hatte die ehrenvolle Aufgabe, nach und nach jeweils eine weitere Keule in die Runde zu werfen. Dabei wurde das Tempo weiter erhöht, bis wir mit zwölf Keulen jonglierten. Dabei ließen wir nach und nach die Keulen zu Boden fallen, weil deren Anzahl mit Fackeln ersetzt wurde. Obwohl ich wusste, dass mein Vater mir dabei zusah, verdrängte ich diesen Gedanken, weil ich verhindern wollte, meinem Onkel die Halle abzufackeln. Zum Glück gelang die Nummer und nachdem wir uns verbeugten, bekamen wir angemessenen Applaus. Ich räumte den Weg mit Luigi frei, um Bento ausreichend Platz für seine Artistik-Nummer zu machen. Sobald ich mit dieser Tätigkeit fertig war, sollte ich ihn ablösen, damit er mit seinem Alter Ego für Lacher sorgen konnte, währenddessen ich auf den Händen lief und ein Tablett mit Weinkaraffe auf den Füßen balancierte. Derart lief ich vor der hohen Tafel auf und ab, und bediente sozusagen die Herren mit Getränken. Bento nahm sich derweil jeden Gast an der Tafel einzeln vor, bzw. seine Marotte. Bei dieser Nummer schwieg Galatea und begleitete ihn lediglich auf der Leier, die ein kleines, neckisches Liedchen spielte. Diese Spottdrossel-Bauchredner-Nummer war eine Sache an ihm, die ich nicht sonderlich schätzte, da ich sie immer als einen gewagten Tanz auf dem Vulkan betrachtete. Denn Bento schaffte es immerzu, die Menschen an deren Eitelkeit zu packen. Selbstverständlich beleidigte er sie wegen ihrer auffälligen Äußerlichkeiten. Wenn er das tat, hatte ich stets das Gefühl, er könnte irgendwann einmal damit an den Falschen geraten, der keinerlei Sinn für Humor besaß und nichts von Narrenfreiheit hielt. So etwas musste unweigerlich irgendwann einmal schief gehen und mich wunderte, dass er nicht schon längst dafür ein Messer in die Rippen bekommen hatte. Doch schien er das Glück gepachtet zu haben, was scheinbar für Narren obligatorisch ist. Denn wenn sich jemand zu arg von ihm beleidigt fühlte, und provoziert von seinem Platz aufsprang, zeigte Bento stattdessen unschuldig auf Alter Ego und sagte: »Hey, das habe ich nicht gesagt! Der da war´s!« Und das, obwohl auch niemand sah, dass sich der Mund der Marotte bewegte.

Als er meinen alten Herren ins Visier fasste, wurde dieser durch seine Einäugigkeit sogleich zu Bentos Spottobjekt. »Ah, ich hoffe doch, der edle Krieger kann auch mal ein Auge zudrücken? Nein, wohl eher nicht, sonst kann er ja gar nichts mehr sehen!«, scherzte Alter Ego, wofür ich diese dämliche Marotte noch viel mehr hasste, als ohnehin schon.

Mein Vater blieb jedoch recht cool, lächelte und sagte stattdessen: »Nun ja, ich selbst kann kein Auge zudrücken, aber nachdem ich dich getötet habe, kleiner Narr, verspreche ich dir hoch und heilig, werde ich deine beiden Augen zudrücken!«

Dafür bekam er mehr Lacher als der Narr Bento. Und ich war unheimlich stolz auf meinen Vater. Er hatte zwar in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Buch gelesen, dennoch war er in meinen Augen ein weiser und bewundernswerter Mensch.

Bento gab Ruhe und wir zeigten des Weiteren ein bisschen Akrobatik, machten Flick-Flacks, Salti und Purzelbäume und räumten anschließend die Bühne für den starken Luigi.

Dieser stemmte zuerst die schweren Gewichte, die niemand von uns hochheben konnte. Dann forderte er zwei Schankmädchen auf, sie sollen sich links und rechts auf seine Oberarme setzen, während er in die Knie ging. Die Maiden zierten sich nicht lange und kamen seiner Aufforderung nach. Mit Leichtigkeit erhob sich der Hüne und balancierte die beiden sitzenden Grazien elegant auf seinen Bizeps. Danach ließ er das Hufeisen durch die Reihe gehen, damit sich das Publikum überzeugen konnte, dass es ein völlig gewöhnliches Hufeisen sei. Jeder nahm es einmal in die Hand und versuchte daran zu ziehen, oder es zu biegen. Ich schaute derweil immer wieder zu meinem Vater, der mich jedoch offensichtlich wegen meiner Theaterschminke nicht erkannte. Ich war mir nicht schlüssig, ob ich darüber lachen, oder weinen sollte.

Während Luigi seine Eisenbieger-Darbietung vorführte, kam der Rüde Hati wieder zu mir und leckte meine Zehen, die aus meinen schmutzigen Fußlappen hervorschauten. Ich kraulte das gute Tier und als ich aufsah, bemerkte ich, wie mein Vater uns beobachtete. Schnell schickte ich den Hund wieder zurück zu seinem Herren. Doch dieser winkte mir zu, ich solle zu ihm kommen. Vor Schreck rutschte mir das Herz in die Hose.

Skryrmir öffnete seine Geldkatze, die er am Gürtel trug, und zählte mir drei Goldstücke in die Hand. »Hier Junge, davon kaufst du dir ein paar anständige Stiefel, ja? So etwas kann ich gar nicht mit ansehen, wenn ein armer Tropf mit solch fürchterlich schmutzigen Fußlappen herumläuft! Und hier, nimm eine Gänsekeule mit, du siehst hungrig aus«, drückte er mir den Gänseschlegel in die Hand.

»Grazie mille, mein Herr!«, sagte ich mit verstellter Stimme und italienischem Akzent, verbeugte mich tief und suchte vorerst das Weite, um mir in Ruhe den Schlegel mit Bento zu teilen.

»Was war das gerade eben?«, fragte der Narr neugierig.

»Er gab mir drei Goldmünzen, damit ich mir ein paar Stiefel machen lassen kann«, zeigte ich ihm das Geld. »Keine Bange, ich gebe es euch, wenn ihr wollt«, bot ich an. »Nur kann ich es hier und jetzt nicht tun, weil er mich trotz seiner Einäugigkeit sicherlich wie ein Luchs beobachtet.«

»Stimmt, er sieht rüber. Denkst du, er hat dich erkannt?«, fragte Bento, während er an dem Gänse-Stotzen knabberte.

»Nee, ich habe meine Stimme verstellt und mit eurem komischen Akzent gesprochen«, entgegnete ich grinsend.

»Gut, denn am Ende der Vorstellung werden wir ihn überraschen. Überlass alles Weitere mir. Ich versuche ihm zuvor das Versprechen abzuringen, dich nicht zu bestrafen. Lass mich nur machen!«, reichte er die Keule wieder an mich zurück. »Hier, iss auf, Junge. Du bist gleich dran!«, sagte der Narr und sprang wie ein Gummiball durch den Saal und erfreute das Publikum wieder mit seiner Akrobatik. Ich glaube nicht, dass Bento, so wie ich, dabei Zeuge wurde, wie mein Vater das verbogene Hufeisen unbemerkt wieder in Form bog und auf dem Tisch vor sich ablegte. Als ich das sah, schlug mein Herz bis zum Hals.

Galatea und Luigi brachten derweil die Gerätschaften für die nächste Vorführung in Position. Luigi griff sich auf dem Rückweg den Narren mühelos aus der Luft, als dieser einen Salto schlug und trug ihn, ohne mit der Wimper zu zucken davon, was dem Publikum herzhaftes Gelächter entlockte. Applaus und Münzen waren der Lohn.

Die schöne Galatea sammelte das Geld auf, verbeugte sich und zeigte dann geziert auf mich: »Hohes Publikum, der wahrscheinlich jüngste Messerwerfer der Welt. Dieser junge Mann ist erst acht Jahre alt und wird sein Können nun unter Beweis stellen! Applaus für den kleinen Luigi!«, sagte sie mit einem hinreißenden Lächeln, das mir galt. Ansonsten stellte sie mich dem Publikum mit meinem richtigen Namen vor. Doch da ich inkognito bleiben musste, nannte sie mich den kleinen Luigi, weil ich diesen Namen absolut nicht mochte, jedenfalls nicht nachdem, was heute vorgefallen war.

»Concentrazione! E tutta tranquillità!«, forderte Galatea das Publikum auf, während ich mich sammelte und mein Ziel ins Auge fasste. Schnell und kurz hintereinander, warf ich die Messer, die alle in dem inneren Kreis der Zielscheibe zitternd stecken blieben. Meine hinreißende Assistentin machte die Zuschauer mit eleganter Bewegung darauf aufmerksam, gleich so, als sei alles viel zu schnell gegangen, als dass sie es bemerkt haben könnten. Brav applaudierte das Publikum, obwohl ich mir nicht sicher sein konnte, ob mir der Applaus gehörte, oder eher dieser wunderschönen Frau. Sie zog die Messer aus der Holzwand und reichte sie mir mit einer neckischen Verbeugung.

Anschließend stellte sich Galatea vor die Holzwand und klemmte eine mit Luft gefüllte Schweinsblase zwischen ihre perlweißen Zähne. Ich zielte und brachte die Blase zum Platzen. Mein Herz schlug wie verrückt und zeitgleich bemerkte ich, wie der Schweiß in Strömen meinen Rücken hinunterlief. Plötzlich erschien mir die Luft in der Halle heiß und stickig. Meine reizende Assistentin balancierte jetzt einen Apfel auf dem Kopf, was ich sehr gewagt fand. Bento und ich waren beinahe gleich groß, Galatea hingegen war viel größer. Darum musste ich bei diesem Wurf einen viel steileren Winkel anvisieren als sonst. Damit war es für mich das erste Mal, was bedeutete, dass es auch ebenso gut ins Auge gehen konnte. Ich legte großzügig noch etwas drauf, auch wenn ich Gefahr laufen sollte, den Apfel nur noch knapp zu streifen. Ich ließ mir Zeit und wünschte, ein Trommelwirbel würde ertönen. Denn dieser Moment schien sich bis ins Unendliche auszudehnen. Mir war, als könnte ich in diesem Augenblick, ein Haar zu Boden fallen hören. Die Farben wurden intensiver, genauso wie die Gerüche im Raum. Es war ein seltsames Erlebnis der Meditation. Daraufhin schienen wieder Zeit und Raum synchron zu laufen und ich warf das Messer. Augenblicklich fielen zwei Apfelhälften von Galateas Kopf!

Ich vernahm, wie jemand erstaunt die Luft einzog. Und derjenige war niemand anderer als ich selbst, da mir gewahr wurde, was soeben geschehen war. Hätte ich nur ein bisschen tiefer gezielt, würde in Galateas hübscher Stirn ein Messer stecken. Wie konnte ich mich nur so verschätzen? Dem Publikum hingegen gefiel dieser Trick und die Schöne verteilte unbesorgt die Apfelhälften an zwei der johlenden Zuschauer. Und nun neigte sich die Darbietung ihrem Höhepunkt entgegen. Galatea verbeugte sich in Richtung des Publikums. Dann nahm sie ihre Position an der Holzwand ein. Obwohl ich mit Bento diese Nummer schon etliche Male aufgeführt hatte, bekam ich beinahe weiche Knie, denn diese Situation war doch ein wenig ungewohnt für mich. Mein Vater sah mir zu, und zugleich bot sich die in meinen Augen kostbare Galatea für diese Vorführung an. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Nerven zu verlieren. Bis die Gute jedoch so weit war, nutzte ich die Zeit, um ein wenig bewusster zum atmen. Ich redete mir zusätzlich ein, wir beide wären gänzlich allein und Bento stünde an ihrer statt vor der Holzkulisse. Ja, so klappte es dann einigermaßen. Ich atmete noch einmal tief durch und beim Ausatmen sausten dann die Messer um die Silhouette der Schönen herum. Beim letzten Messer sah ich, wie Galatea mit den Augen zuckte und die Lippen bewegte. Doch sie überspielte diesen Fauxpas, indem sie von der Wand Abstand nahm und lächelnd zu mir zeigte, zum Zeichen dafür, dass das Publikum jetzt applaudieren durfte. Sie wirkte dabei, wie ein Dirigent, der sein Orchester voll und ganz beherrschte, denn die Anwesenden reagierten sogleich auf ihre Geste und klatschten. Wahrscheinlich war ich der Einzige im Raum, dem es auffiel, wie eine kleine rote Linie Galateas Handgelenk herunter wanderte und einen Bluttropfen auf dem Boden hinterließ. Galatea bemerkte dies und leckte kurz an ihrem Handgelenk, als sie die Kulisse abbaute und mit sich nahm.

Schnell verbeugte ich mich brav und verließ mit Galatea die provisorische Bühne. Bento zeigte derweil mit Luigi Akrobatik, indem er den Hünen als Sprungbrett und Werfer benutzte. Eigentlich sollte ich in diese Nummer längst einsteigen, doch ich folgte stattdessen lieber Galatea.

»Galatea? Entschuldige. Es tut mir so leid, ich habe dich mit dem Messer verletzt! Das wollte ich nicht. Niemals würde ich dir ein Leid antun!«, gab ich mich bekümmert.

»Bitte?«, fragte sie. »Nein, du hast mich nicht getroffen!«, behauptete sie unterdessen.

»Doch! Ich habe selbst gesehen, wie du am Handgelenk geblutet hast!«, beteuerte ich voller Reue.

»Nein, Ragnor. Wie kommst du darauf? Mir ist nichts passiert. Da musst du dich geirrt haben«, wiegelte sie ab.

»Und was ist das?« Dreist hob ich ihre linke Hand an, um ihr zu beweisen, dass ich mich nicht irrte. Doch, was war das? Statt eines Schnittes, sah ich rein gar nichts, außer ihre weiße, unversehrte Haut.

»Das, mein Lieber, ist mein linkes Handgelenk. Gib es zu, du wolltest nur wieder meine Hand halten«, lächelte Galatea reizend. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Geh! Du verpasst sonst deinen Einsatz. Ach ja, Bento sagte, du sollst, während die Nummer läuft, auf den Wagenrad-Leuchter klettern und dort kopfüber herunterbaumeln. Alles klar?«, fragte sie, schaute mich ernst an und richtete mir das Kostüm.

»In Ordnung. Trotzdem bin ich ein wenig verwirrt, weil ich glaubte, du hättest am Handgelenk geblutet«, sagte ich und trollte mich, um Bento nicht zu verärgern.

Rad schlagend gesellte ich mich zur Truppe und wir führten unsere Ergötzlichkeiten auf wie gewohnt. Zuletzt stemmte Luigi die Beine fest gen Boden, machte für Bento eine Räuberleiter, die dieser dafür nutzte, einen Salto zu machen und damit auf Luigis Schultern zu landen. Danach war ich an der Reihe, machte meinen Salto, um auf Bentos Schultern meinen Halt zu finden. Luigi ging ein paar Schritte, damit ich an den Leuchter herankam, auf den ich kletterte, ein wenig auf ihm herum schaukelte und mich mit den Beinen kopfüber einhakte und so an ihm herabbaumelte. Allerdings war es nicht abgemacht, mich dort oben zu lassen. Offensichtlich hatte weder Luigi, noch Bento Lust, mich von dort wieder herunterzuholen.

»Hey!«, sagte ich. »Habt ihr mich vergessen?«

»Pssst! Der Krümel sollte schweigen, wenn der Kuchen redet!«, winkte der Possenreißer ab, der jetzt ein paar Schritte auf meinen Vater zuging, der sich sicherlich noch immer fragte, was der kleine Kerl dort oben auf dem Leuchter trieb. »Werter Herr!«, machte Bento eine tiefe und ebenso elegante Verbeugung. »Versprecht mir, diesen Burschen dort oben nicht zu bestrafen. Versprich es mir. Er ist ein guter Junge und auf dem besten Wege, ein hervorragender Artist zu werden.«

»Versprich mir, ihn nicht zu bestrafen!«, bettelte jetzt seine Marotte zunehmend theatralisch, was bei meinem Vater ein irritiertes Stirnrunzeln hervorrief, welches wiederum dafür sorgte, dass seine Augenklappe schief saß.

»Was soll das? Weshalb sollte ich ihn bestrafen?«, fragte er belustigt.

»Oh, er ist ungezogen, weil er nie das tut, was man ihm sagt!«, scherzte Alter Ego. »Versprich es!«, bettelte er.

»Na, schön. Ich verspreche, diesen Jungen nicht zu betrafen«, sagte mein Vater, der das wahrscheinlich alles nur für eine harmloses Posse hielt.

»Ach ja, übrigens, er gehört dir, Herr!«, sagte die Marotte mit zuckersüßer Stimme.

»Was soll ich mit diesem Burschen anfangen? Ich habe genug Personal und brauche keinen hüpfenden Sklaven, und erst recht keinen, der mit unserem Besteck herumwirft«, meinte Skryrmir amüsiert.

»Na gut. Wenn du ihn nicht willst, dann bring ihn deiner Frau mit. Ich bin mir sicher, sie will ihn bestimmt haben!«, schlug die Marotte vor.

»Hör mal, Narr. Was soll meine Frau Gemahlin mit diesem Jungen anfangen?«

»Keine Ahnung, das hättet ihr euch viel früher fragen sollen. Ich sagte doch bereits, dass das deiner ist!«, kicherte Alter Ego.

»Rutger, lass den Leuchter herab!«, befahl Skryrmir, dem diese ganze Geschichte ein wenig zu bunt wurde.

Rutger tat wie ihm befohlen und gemeinsam mit Luigi löste er das Seil, welches den Leuchter hielt. Langsam ließen sie mich herab, damit ich vor meinen Vater treten konnte.

Wie ein Büßer neigte ich meinen Kopf.

»Wie heißt du, Bengel?«, wollte er wissen und beobachtete die beiden Wolfshunde, die sofort wedelnd auf mich zukamen.

»Ragnor«, sagte ich und nahm die Narrenkappe ab. Mein unverkennbar dunkelrotes Haar fiel auf meine Schultern herab. »Bitte sei nicht böse auf mich, Papa!«, bat ich, während im Saal Unruhe ausbrach, was ich nicht verstand.

Sätze wie: »Er lebt!«, und: »Wie ist das möglich?!«, ertönten um mich herum. Das Murmeln und Brummen füllte den Saal.

Mein Vater dagegen wirkte seltsam blass. Zum ersten Mal hatte ich keine Angst vor der Bestrafung, sondern dass er möglicherweise tot von seinem Stuhl sinken könnte.

»Papa? Was ist denn? Bist du etwa doch böse auf mich?«, fragte ich verwirrt, weil er noch immer nichts sagte.

Dann schien er plötzlich wie aus einer Trance zu erwachen, stand auf, ging um die Tafel und streckte die Arme aus. »Komm her!« Er nahm mich in die Arme. »Mein kleiner Sohn! Bei Odin, dies ist ein Wunder! Wir hielten dich für tot!«

Während er mich innig umarmte, sah ich beschämt zu Boden und entdeckte dort einen geronnenen Tropfen Blut.

*

Das Schicksal lacht mit spitzen Zähnen

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