Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 19

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Die Rue Per­rin-Gas­se­lin ist eine der Gas­sen in dem La­by­rinth, das an den vier Sei­ten von dem Kai, der Rue Saint-De­nis, der Rue de la Fer­ron­ne­rie und der Rue de la Mon­naie um­schlos­sen wird, und ge­wis­ser­ma­ßen das Ein­ge­wei­de der Stadt dar­stellt. Hier wim­melt ein un­end­li­ches Ge­misch der he­te­ro­gens­ten Wa­ren durch­ein­an­der, übel­rie­chen­de und reiz­vol­le, He­rin­ge und Mus­se­li­ne, Sei­de und Ho­nig, But­ter und Tüll, vor al­lem eine Men­ge klei­ner Ge­schäf­te, von de­nen man in Pa­ris so we­nig eine Ah­nung hat wie die meis­ten Men­schen von dem, was in ih­rer Bauch­spei­chel­drü­se vor­geht, und de­ren Blut­sau­ger da­mals ein ge­wis­ser Bi­dault, ge­nannt Gi­gon­net, ein Ban­kier, war, der in der Rue Grenétat wohn­te. Hier sind ehe­ma­li­ge Pfer­de­stäl­le mit Öl­ton­nen an­ge­füllt, Re­mi­sen ent­hal­ten My­ria­den von baum­wol­le­nen St­rümp­fen. Hier be­fin­det sich auch der Groß­han­del mit Eß­wa­ren, die dann im De­tail in den Markt­hal­len ver­kauft wer­den. Frau Ma­dou war frü­her eine See­fisch­händ­le­rin ge­we­sen, hat­te sich dann vor zehn Jah­ren auf »ge­trock­ne­te Früch­te« ge­wor­fen, in­fol­ge ei­nes Ver­hält­nis­ses mit dem frü­he­ren Be­sit­zer ih­res Ge­schäfts, und war lan­ge Zeit die Ziel­schei­be des Klat­sches in den Markt­hal­len; sie be­saß eine männ­li­che, her­aus­for­dern­de Schön­heit, die jetzt aber in über­mä­ßi­gem Fett ver­sun­ken war. Sie be­wohn­te das Erd­ge­schoß ei­nes gel­ben, ver­fal­le­nen Hau­ses, des­sen sämt­li­che Stock­wer­ke nur noch durch Ei­sen­kreu­ze zu­sam­men­ge­hal­ten wur­den. Ihrem Ver­flos­se­nen war es ge­lun­gen, sich die Kon­kur­renz von Hal­se zu hal­ten und sich für sei­nen Han­del ein Mo­no­pol zu schaf­fen; trotz ih­rer et­was man­gel­haf­ten Er­zie­hung ver­moch­te sei­ne Er­bin doch, ihm an Ge­schäfts­ge­wandt­heit gleich zu kom­men; sie ging in sei­nen La­ger­räu­men, die aus Re­mi­sen, Stäl­len und frü­he­ren Ate­liers be­stan­den, aus und ein und führ­te einen er­folg­rei­chen Kampf mit den In­sek­ten. Sie hat­te we­der Kon­tor noch Kas­se, noch Ge­schäfts­bü­cher, denn sie konn­te nicht le­sen und schrei­ben; einen Brief be­ant­wor­te­te sie mit Faust­schlä­gen, weil sie ihn für eine Be­lei­di­gung hielt. Im üb­ri­gen war sie eine gute See­le, von ro­ter Ge­sichts­far­be, mit ei­nem Schal über der Hau­be; mit ih­rer Trom­pe­ten­stim­me hat­te sie sich die Ach­tung bei den Fuhr­leu­ten ver­schafft, die ihr ihre Wa­ren brach­ten und mit de­nen sie Zwis­tig­kei­ten mit ei­ner Fla­sche wei­ßen Krät­zers er­le­dig­te. Mit den Land­wir­ten, die ihr ihre Früch­te sand­ten, konn­te es kei­ne Dif­fe­ren­zen ge­ben; die Lie­fe­rung er­folg­te ge­gen Bar­zah­lung und die alte Ma­dou such­te sie im Som­mer per­sön­lich auf. Bi­rot­teau traf die­se wil­de Händ­le­rin in­mit­ten von Sä­cken voll Ha­selnüs­sen, Kas­ta­ni­en und Wallnüs­sen an.

»Gu­ten Tag, lie­be Frau«, sag­te Bi­rot­teau et­was un­ge­niert.

»Dei­ne lie­be?« sag­te sie. »He, mein Jun­ge, ha­ben wir uns schon mal nä­her­ge­stan­den? Ha­ben wir viel­leicht zu­sam­men die Schwei­ne ge­hü­tet?«

»Ich bin Par­füm­händ­ler und au­ßer­dem städ­ti­scher Bei­ge­ord­ne­ter des zwei­ten Pa­ri­ser Be­zirks; als Be­am­ter und als Kun­de darf ich wohl ver­lan­gen, daß Sie in ei­nem an­dern Ton mit mir re­den.«

»Ich hei­ra­te, wann es mir paßt«, er­wi­der­te das Mann­weib. »Ich habe mit dem Rat­haus nischt zu schaf­fen und von den Bei­ge­ord­ne­ten nischt zu bit­ten. Mei­ne Kund­schaft hab ich ger­ne, aber ich rede mit ihr auf mei­ne Art. Und wenn sie nich zu­frie­den ist, dann kann sie sich an­ders­wo be­schwin­deln las­sen.«

»Das kommt bei ei­nem Mo­no­pol her­aus!« sag­te Bi­rot­teau lei­se.

»Po­po­le? Der is mein Pat­chen, der wird was aus­ge­fres­sen ha­ben; kom­men Sie etwa sei­net­we­gen, ge­ehr­ter Herr Be­am­ter?« sag­te sie, in­dem sich ihre Stim­me mä­ßig­te.

»Nein; ich hat­te schon die Ehre, Ih­nen mit­zu­tei­len, daß ich als Kun­de kom­me.«

»Schön! Und wie heißt du, mein Jun­ge? Du bist noch nie bei mir ge­we­sen.«

»Bei sol­chem Be­neh­men müß­ten Sie ei­gent­lich Ihre Nüs­se bil­lig ab­ge­ben«, sag­te Bi­rot­teau und nann­te ihr sei­nen Na­men und sei­ne Adres­se.

»Ach, Sie sind der be­rühm­te Bi­rot­teau mit der schö­nen Frau. Und wie­viel wol­len Sie denn von die­sen zucker­sü­ßen Nüs­sen ha­ben, mein Ge­lieb­tes­ter?«

»Sechs­tau­send Pfund.«

»Das ist al­les, was ich habe«, sag­te die Händ­le­rin mit ei­ner Stim­me wie eine hei­se­re Flö­te. »Sie müs­sen mäch­tig hin­ter­her sein, die Mä­dels zu ver­hei­ra­ten und zu par­fü­mie­ren. Gott seg­ne Sie, Sie müs­sen viel zu tun ha­ben. Ent­schul­di­gen Sie schon. Sie wer­den ein an­stän­di­ger Kun­de und ein­ge­schrie­ben wer­den ins Herz von der Frau, die ich am liebs­ten in der Welt habe …«

»Wel­cher denn? …«

»Nu, der lie­ben Frau Ma­dou.«

»Und was sol­len die Nüs­se kos­ten?«

»Für Sie, mein Lie­ber, fünf­und­zwan­zig Fran­ken den Zent­ner.«

»Fün­f­und­zwan­zig Fran­ken?« sag­te Bi­rot­teau, »das macht ja fünf­zehn­hun­dert Fran­ken! Und ich wer­de viel­leicht Tau­sen­de von Zent­nern jähr­lich brau­chen.«

»Aber se­hen Sie sich doch bloß die schö­nen Früch­te an, die sind bar­fuß ge­pflückt!« sag­te sie und ver­senk­te ih­ren ro­ten Arm in einen Sack Ha­selnüs­se. »Und kei­ne tau­ben drun­ter, lie­ber Herr. Be­den­ken Sie doch, daß die Händ­ler ihre Bet­tel­wa­re für vier­und­zwan­zig Sous das Pfund ver­kau­fen, und da­bei tun sie auf vier Pfund mehr als ein Pfund tau­be drun­ter. Soll ich viel­leicht Ih­nen zu­lie­be bei mei­ner Ware zu­set­zen? Sie sind ja sehr nett, aber so schön ge­fal­len Sie mir doch noch nich! Wenn Sie aber so viel brau­chen, will ich auf zwan­zig Fran­ken run­ter­gehn, denn einen Bei­ge­ord­ne­ten kann ich doch nich wie­der weg­schi­cken, das könn­te ja den jun­gen Paa­ren Un­glück brin­gen! Füh­len Sie bloß mal, wie schön die Ware is und wie schwer! Noch nicht fünf­zig gehn aufs Pfund! Und al­les voll. Kein Wurm drin!«

»Also dann schi­cken Sie mir sechs­tau­send für zwei­tau­send Fran­ken, zahl­bar in drei Mo­na­ten, Rue Fau­bourg-du-Tem­ple, nach mei­ner Fa­brik, und zwar mor­gens ganz früh.«

»Man wird sich be­ei­len, wie ein frisch ver­hei­ra­te­tes Weib­chen. Also adieu, Herr Bür­ger­meis­ter, und sein Sie mir nich böse. Aber wenn es Ih­nen nischt aus­macht,« sag­te sie, als sie Bi­rot­teau in den Hof be­glei­te­te, »wärs mir lie­ber, wenn Sie in sechs Wo­chen zah­len woll­ten; ich hab Ih­nen so’­nen bil­li­gen Preis ge­macht, ich kann doch nich noch die Zin­sen ein­bü­ßen! Und der alte Gi­gon­net, mit sei­nem lie­be­vol­len Her­zen, der zieht uns die See­le aus­’m Lei­be, wie ne Spin­ne ne Flie­ge aus­saugt.«

»Also schön, in an­dert­halb Mo­na­ten. Aber wir wie­gen ge­nau nach, hoh­le kann ich nicht ge­brau­chen. Sonst wird nichts aus dem Ge­schäft.«

»Ach, der Hund, der ver­steht sich drauf«, sag­te Frau Ma­dou. »Dem kann man nischt vor­ma­chen. Das hat ihm si­cher die­se Ban­de aus der Rue des Lom­bards ver­ra­ten! Die­se Groß­koh­ze, die ver­stän­di­gen sich im­mer un­ter ein­an­der, da­mit sie so’n ar­mes Lamm ver­schlin­gen kön­nen.«

Das arme Lamm war fünf Fuß lang und drei Fuß breit und sah aus wie ein in ge­streif­te Baum­wol­le ge­klei­de­ter Grenz­stein, ohne je­den Tail­len­ein­schnitt.

In­zwi­schen ging der Par­füm­händ­ler in Ge­dan­ken ver­sun­ken die Rue Saint-Ho­noré ent­lang, mach­te Plä­ne für den Kampf ge­gen das Ma­kassar­öl, dach­te über die Eti­ket­ten und die Form der Fla­schen nach und über­leg­te, wie die Pfrop­fen be­fes­tigt wer­den und wel­che Far­be die An­zei­gen ha­ben soll­ten. Und da sagt man noch, daß dem Han­del die Poe­sie man­ge­le! New­ton hat sich über sei­nen be­rühm­ten bi­no­mi­schen Lehr­satz den Kopf nicht mehr zer­bro­chen als Bi­rot­teau über sei­ne Co­ma­gen-Es­senz, denn das Öl war in­zwi­schen zur Es­senz ge­wor­den, er kam von ei­ner Be­nen­nung auf die an­de­re, ohne ihre ei­gent­li­che Be­deu­tung zu ken­nen. Alle mög­li­chen Kom­bi­na­tio­nen dräng­ten sich in sei­nem Kop­fe, und die­ses Ar­bei­ten ins Lee­re hielt er für eine voll­wich­ti­ge Be­tä­ti­gung sei­ner Be­ga­bung. Er war so tief in Ge­dan­ken, daß er an der Rue des Bour­don­nais vor­bei­ging und wie­der um­keh­ren muß­te, als er sich an sei­nen On­kel er­in­ner­te.

Clau­de-Jo­seph Pil­ler­ault, ein ehe­ma­li­ger Ei­sen­wa­ren­händ­ler mit der Fir­ma »Zur gol­de­nen Glo­cke«, be­saß eine je­ner Phy­sio­gno­mi­en, die in Ih­rer Ei­gen­ar­tig­keit schön sind; al­les war bei ihm im Ein­klang, Äu­ße­res und In­ne­res, Ver­stand und Herz, Spra­che und Ge­dan­ke, Re­den und Han­deln. Als ein­zi­ger Ver­wand­ter der Frau Bi­rot­teau kon­zen­trier­te sich sei­ne gan­ze Lie­be auf sie und Cäsa­ri­ne, nach­dem er im Ver­lau­fe sei­ner Ge­schäftstä­tig­keit sei­ne Frau und sei­nen Sohn und dann noch ein Ad­op­tiv­kind, den Sohn sei­ner Kö­chin, ver­lo­ren hat­te. Die­se bit­te­ren Ver­lus­te hat­ten den bra­ven Mann zu ei­nem christ­li­chen Stoi­zis­mus ge­führt, ei­ner ed­len Den­kungs­art, die sein Le­ben ver­schö­ner­te und sei­ne letz­ten Jah­re mit ei­nem zu­gleich war­men und kal­ten Schim­mer über­goß, wie ein win­ter­li­cher Son­nen­un­ter­gang. Sein ha­ge­res, hoh­les Ant­litz von erns­tem Aus­druck, auf dem rote und dunkle Töne har­mo­nisch ver­ei­nigt wa­ren, hat­te eine frap­pan­te Ähn­lich­keit mit dem des Got­tes der Zeit, wie ihn die Ma­ler dar­stel­len, aber ins Ge­wöhn­li­che über­tra­gen; denn die täg­li­chen Ge­wohn­hei­ten des Kauf­manns hat­ten bei ihm des­sen mo­nu­men­ta­len, ab­wei­sen­den Cha­rak­ter, den die Ma­ler, die Bild­hau­er und die Bron­ze­gie­ßer bei der An­fer­ti­gung der Uhren zu über­trei­ben pfle­gen, ge­mil­dert. Von mitt­ler­er Grö­ße, war Pil­ler­ault eher un­ter­setzt als dick, von Na­tur für die Ar­beit und lan­ges Le­ben be­stimmt; sei­ne Schul­ter­brei­te ver­riet einen kräf­ti­gen Kno­chen­bau, sein Tem­pe­ra­ment war kühl, Er­re­gun­gen sah man ihm nicht an; aber des­halb war er doch nicht un­emp­find­lich. Wie sein be­däch­ti­ges We­sen und sein ru­hi­ges Ge­sicht zeig­ten, gab er sei­nem Ge­fühl nicht nach au­ßen hin Aus­druck; er war un­er­schüt­ter­lich und frei von je­der Phra­se und Em­pha­se. Sei­ne grü­nen, schwarz punk­tier­ten Au­gen fie­len durch ihre un­ver­än­der­li­che Leucht­kraft auf. Sei­ne von ge­rad­li­ni­gen Run­zeln durch­furch­te und vom Al­ter gelb ge­wor­de­ne Stirn war klein, schmal und hart, und sein kur­z­es, pelzar­ti­ges Haar sil­ber­grau. Der fein­ge­schnit­te­ne Mund ver­riet klu­ge Vor­sicht, aber kei­ne Hab­sucht. Sein leb­haf­ter Blick zeug­te von re­gel­mä­ßi­ger Le­bens­wei­se. Ehren­haf­tig­keit, Pf­licht­ge­fühl und ech­te Be­schei­den­heit lie­ßen sein Ge­sicht im Glan­ze der Ge­sund­heit leuch­ten. Sech­zig Jah­re lang hat­te er das har­te, nüch­ter­ne Le­ben ei­nes un­er­müd­li­chen Ar­bei­ters ge­führt. Es glich dem Cäsars, ab­ge­se­hen von des­sen Ge­schäfts­glück. Bis zu sei­nem drei­ßigs­ten Jah­re An­ge­stell­ter, hat­te er sein gan­zes Ver­mö­gen noch in sei­nem Ge­schäf­te ste­cken, als Cäsar schon sei­ne Er­spar­nis­se in Ren­ten an­le­gen konn­te; und schließ­lich hat­te ihn das Här­tes­te be­trof­fen, daß sei­ne Ha­cken und Ei­sen­wa­ren re­qui­riert wur­den. Sein ver­stän­di­ger und zu­rück­hal­ten­der Cha­rak­ter, sei­ne Vor­sicht und sei­ne rech­nen­de Über­le­gung be­stimm­ten sein ge­schäft­li­ches Ge­ba­ren. Sei­ne meis­ten Ge­schäf­te wur­den münd­lich ab­ge­schlos­sen und er hat­te da­bei sel­ten Dif­fe­ren­zen ge­habt. Wie alle nach­denk­li­chen Leu­te war er ein schar­fer Beo­b­ach­ter und stu­dier­te die Men­schen, in­dem er sie re­den ließ; dann lehn­te er es meist ab, sich, wie sei­ne Nach­barn, an schein­bar vor­teil­haf­ten Ge­schäf­ten zu be­tei­li­gen; wenn es de­nen nach­her leid tat, sag­ten sie, daß Pil­ler­ault eine fei­ne Wit­te­rung für Be­trü­ger habe. Er hielt sich lie­ber an den klei­nen, aber si­che­ren Ge­winn, als daß er große Be­trä­ge bei wag­hal­si­gen Ge­schäf­ten aufs Spiel ge­setzt hät­te. Er han­del­te mit Ka­min­plat­ten, Ros­ten, schwe­ren Feu­er­bö­cken, kup­fer­nen und ei­ser­nen Kes­seln, Ha­cken und land­wirt­schaft­li­chen Gerä­ten. Die­se we­nig ein­träg­li­che Ware er­for­der­te eine sehr an­stren­gen­de me­cha­ni­sche Ar­beit. Der Ge­winn stand in kei­nem Ver­hält­nis zu der An­stren­gung, es war nur we­nig Nut­zen bei die­sem schwe­ren Ma­te­ri­al, mit dem man so müh­sam han­tie­ren muß­te, und das sich so schwer un­ter­brin­gen ließ. Wie­viel Kis­ten hat­te er zu­na­geln, wie­viel ein- und aus­pa­cken, wie­viel Wa­gen­sen­dun­gen ab­neh­men müs­sen!

Kein Ver­mö­gen war so an­stän­dig, so recht­mä­ßig, so eh­ren­haft er­wor­ben wor­den wie das sei­ni­ge. Nie­mals hat­te er zu hohe Prei­se ge­for­dert, nie­mals sich zu Ge­schäf­ten ge­drängt. Zu­letzt sah man ihn vor sei­ner La­den­tür, wie er sei­ne Pfei­fe rauch­te, die Vor­über­ge­hen­den be­ob­ach­te­te und der Ar­beit sei­ner Kom­mis zu­sah. Als er sich im Jah­re 1814 zu­rück­zog, be­stand sein Ver­mö­gen ers­tens aus sechs­und­sech­zig­tau­send Fran­ken, die ins Staats­schuld­buch ein­ge­tra­gen wa­ren und ihm fünf­tau­send und ei­ni­ge hun­dert Fran­ken Ren­te brach­ten; dann aus vier­zig­tau­send Fran­ken, die, ohne Zin­sen zu brin­gen, in fünf Jah­ren zahl­bar wa­ren, dem Prei­se für sein Ge­schäft, das er an einen sei­ner Kom­mis ver­kauft hat­te. Drei­ßig Jah­re hin­durch hat­te er bei ei­nem Jah­res­um­sat­ze von hun­dert­tau­send Fran­ken sie­ben Pro­zent dar­an ver­dient und die Hälf­te des Ge­winns für sei­nen Le­bens­un­ter­halt ver­braucht. So war sein Ver­mö­gens­stand. Sei­ne Nach­barn, die ihn um die­ses mä­ßi­ge Ver­mö­gen nicht sehr be­nei­de­ten, rühm­ten sei­ne Ein­sicht, ohne Ver­ständ­nis da­für zu ha­ben. An der Ecke der Rue de la Mon­naie und der Rue Saint-Ho­noré be­fin­det sich das Café Da­vid, wo meh­re­re alte Kauf­leu­te eben­so wie Pil­ler­ault abends ih­ren Kaf­fee tran­ken. Hier war bis­wei­len die Ad­op­ti­on des Soh­nes sei­ner Kö­chin der Ge­gen­stand man­cher Ne­cke­rei­en ge­we­sen, aber nur sol­cher, wie man sie sich ge­gen eine ge­ach­te­te Per­sön­lich­keit er­laubt, denn der Ei­sen­wa­ren­händ­ler ge­noß eine re­spekt­vol­le Ach­tung, ohne eine sol­che je­mals er­strebt zu ha­ben, da ihm sei­ne Selb­st­ach­tung ge­nüg­te. Als Pil­ler­ault da­her je­nen jun­gen Men­schen ver­lor, ga­ben ihm mehr als zwei­hun­dert Per­so­nen das Ge­lei­te bis auf den Kirch­hof. In die­ser Zeit zeig­te er sich he­ro­isch. Sein be­herrsch­ter Schmerz, wie er für alle star­ken Män­ner, die ihn nicht zur Schau tra­gen, cha­rak­te­ris­tisch ist, ver­mehr­te noch die Sym­pa­thie des Vier­tels für die­sen ›bra­ven Mann‹, wie Pil­ler­ault mit be­son­de­rer Be­to­nung die­ses Wor­tes, die sei­ne Be­deu­tung un­ter­strich und er­höh­te, ge­nannt wur­de. Clau­de Pil­ler­aults zur Le­bens­ge­wohn­heit ge­wor­de­ne Mä­ßig­keit hielt ihn von den üb­li­chen Ver­gnü­gun­gen ei­nes un­tä­ti­gen Le­bens fern, als er nach dem Auf­ge­ben sei­nes Ge­schäfts in den Ru­he­stand ge­tre­ten war, der so vie­le Pa­ri­ser Bour­geois er­schlaf­fen läßt; er setz­te sei­ne ge­wohn­te Le­bens­wei­se fort und hielt auch im Al­ter an sei­nen po­li­ti­schen Über­zeu­gun­gen fest, die, wie wir sa­gen müs­sen, die­je­ni­gen der äu­ßers­ten Lin­ken wa­ren. Pil­ler­ault ge­hör­te je­ner Ar­bei­ter­par­tei an, die sich in­fol­ge der Re­vo­lu­ti­on an die Bour­geoi­sie an­ge­schlos­sen hat. Sein ein­zi­ger Cha­rak­ter­feh­ler war die Wich­tig­keit, die er die­ser Er­run­gen­schaft bei­leg­te; er hielt an sei­nen Rech­ten fest, an der Frei­heit, an den Früch­ten der Re­vo­lu­ti­on; er hielt sei­nen Wohl­stand und sei­ne bür­ger­li­che Si­cher­heit für be­droht von den Je­sui­ten, de­ren ge­hei­me Macht die Li­be­ra­len ver­kün­de­ten, die sich durch die An­schau­un­gen, die der »Con­sti­tu­tion­nel« dem Bru­der des Kö­nigs zu­schrieb, für ge­fähr­det hiel­ten. Wie in sei­ner Le­bens­wei­se so war er auch in sei­nen An­sich­ten kon­se­quent; aber sei­ne po­li­ti­sche An­schau­ung war nicht eng­her­zig, er be­schimpf­te sei­ne Geg­ner nicht, er fürch­te­te eine Höf­lings­wirt­schaft und glaub­te an re­pu­bli­ka­ni­sche Tu­gend; er hielt Ma­nu­el für frei von je­der Über­trei­bung, den Ge­ne­ral Foy für einen großen Mann, Ca­si­mir Péri­er für nicht ehr­gei­zig, Lafa­yet­te für einen po­li­ti­schen Pro­phe­ten und Cou­ri­er für einen gu­ten Kerl. So um­gab er sich mit idea­len Trug­bil­dern. Die­ser schö­ne alte Mann ge­noß das Fa­mi­li­en­le­ben, in­dem er bei den Ra­g­ons, sei­ner Nich­te, dem Rich­ter Po­pi­not, Jo­seph Le­bas und den Ma­ti­fats ver­kehr­te. Sei­ne sämt­li­chen Be­dürf­nis­se be­stritt er mit fünf­zehn­hun­dert Fran­ken. Sein üb­ri­ges Ein­kom­men ver­wen­de­te er auf Wohl­tä­tig­keit und auf Ge­schen­ke für sei­ne Groß­nich­te; vier­mal im Jah­re lud er sei­ne Freun­de zum Di­ner bei Ro­land, in der Rue du Ha­sard, und ins Thea­ter ein. Er führ­te das Le­ben der al­ten Jung­ge­sel­len, auf die die jun­gen Frau­en Sicht­wech­sel zie­hen, um ihre Wün­sche zu er­fül­len: eine Land­par­tie, einen Be­such der Oper, einen Aus­flug in die Ber­ge von Beau­jon. Pil­ler­ault war glück­lich, wenn er ein Ver­gnü­gen be­rei­ten und die Be­frie­di­gung der an­dern ge­nie­ßen konn­te. Als er sein Ge­schäft ver­kauft hat­te, woll­te er das Vier­tel, an das er ge­wöhnt war, nicht ver­las­sen und hat­te sich in der Rue des Bour­don­nais eine klei­ne Woh­nung von drei Zim­mern im vier­ten Stock ei­nes al­ten Hau­ses ge­mie­tet.

Genau so wie sich das We­sen Mo­li­neux’ in sei­nem ei­gen­ar­ti­gen Mo­bi­li­ar wi­der­spie­gel­te, so war Pil­ler­aults rei­ne und ein­fa­che Le­bens­wei­se an der in­ne­ren Ein­rich­tung sei­ner Be­hau­sung zu er­ken­nen, die aus ei­nem Vor­zim­mer, ei­nem Sa­lon und ei­nem Schlaf­zim­mer be­stand. Bis auf die Grö­ßen­ver­hält­nis­se hät­te man sie die Zel­le ei­nes Kart­häu­ser­mönchs nen­nen kön­nen. Das Vor­zim­mer mit ro­tem ge­bohn­tem Fuß­bo­den hat­te nur ein Fens­ter mit Vor­hän­gen aus Per­kal mit ro­tem Be­satz und Ma­hago­ni­stüh­le, die mit ro­tem Le­der be­zo­gen und mit ver­gol­de­ten Nä­geln be­schla­gen wa­ren; auf der oli­ven­grü­nen Ta­pe­te hin­gen »Der Eid der Ame­ri­ka­ner«, das Por­trät Bo­na­par­tes als Ers­ter Kon­sul und die »Schlacht bei Aus­ter­litz«. Der si­cher vom Ta­pe­zie­rer ar­ran­gier­te Sa­lon hat­te gel­be Mö­bel mit Ro­set­ten, einen Tep­pich, eine un­ver­gol­de­te bron­ze­ne Ka­min­gar­ni­tur, einen ge­mal­ten Ka­min­schirm, eine Kon­so­le mit ei­ner glas­über­deck­ten Blu­men­va­se und einen run­den Tisch mit ei­ner De­cke, auf dem ein Li­kör­kas­ten stand. Die Neu­heit die­ses Zim­mers zeig­te zur Ge­nü­ge, daß der alte Ei­sen­wa­ren­händ­ler, der sel­ten Be­such hat­te, den ge­sell­schaft­li­chen Ge­bräu­chen ein Op­fer ge­bracht hat­te. In sei­nem Schlaf­zim­mer, das so ein­fach aus­ge­stat­tet war wie das ei­nes Geist­li­chen oder ei­nes al­ten Sol­da­ten, die das Le­ben am rich­tigs­ten zu schät­zen wis­sen, über­rasch­te ein Kru­zi­fix mit ei­nem Weih­was­ser­be­cken, das in sei­nem Al­ko­ven auf­ge­stellt war. Die­ses Be­kennt­nis zu sei­nem Glau­ben war wahr­haft rüh­rend bei ei­nem re­pu­bli­ka­ni­schen Stoi­ker. Eine alte Frau be­sorg­te ihm die Wirt­schaft, aber sei­ne Ach­tung vor weib­li­chen We­sen war so groß, daß er sich nicht die Schu­he von ihr put­zen ließ, die im Abon­ne­ment von ei­nem Put­zer ge­rei­nigt wur­den. Sei­ne Klei­dung war ein­fach und im­mer die glei­che. Er trug stän­dig einen Über­rock und ein Bein­kleid von blau­em Tuch, eine bun­te baum­wol­le­ne Wes­te, eine wei­ße Kra­wat­te und sehr hoch hin­auf­ge­hen­de Schu­he; an Fei­er­ta­gen leg­te er einen Frack mit Me­tall­knöp­fen an. Sein Auf­ste­hen, sein Früh­stück, sei­ne Aus­gän­ge, sein Mit­ta­ges­sen, sei­ne Abend­be­su­che und sein Nach­hau­se­kom­men wa­ren auf das ge­naues­te ge­re­gelt, denn nur die Re­gel­mä­ßig­keit der Le­bens­ge­wohn­hei­ten ver­bürgt Ge­sund­heit und lan­ges Le­ben. Zwi­schen Cäsar, den Ra­g­ons, dem Abbé Loraux und ihm wur­de nie über Po­li­tik ge­spro­chen, denn die Mit­glie­der die­ser Ge­sell­schaft kann­ten ein­an­der zu ge­nau, als daß sie un­ter sich Pro­se­ly­ten zu ma­chen ver­sucht hät­ten. Wie sein Nef­fe und die Ra­g­ons hat­te er großes Ver­trau­en zu Ro­guin. Ein Pa­ri­ser No­tar war für ihn im­mer ein ver­eh­rungs­wür­di­ges We­sen, die le­ben­di­ge Per­so­ni­fi­ka­ti­on der Ehren­haf­tig­keit. Be­züg­lich des Ter­rain­ge­schäf­tes hat­te Pil­ler­ault eine Nach­prü­fung an­ge­stellt, die die Si­cher­heit, mit der Cäsar die Be­den­ken sei­ner Frau be­kämpft hat­te, recht­fer­tig­te.

Der Par­füm­händ­ler stieg die achtund­sieb­zig Stu­fen, die zu der klei­nen brau­nen Tür der Woh­nung sei­nes On­kels führ­ten, hin­auf und dach­te sich, daß der alte Herr noch recht rüs­tig sein müs­se, wenn er das täg­lich mach­te, ohne dar­über zu kla­gen. Er sah sei­nen Rock und sein Bein­kleid drau­ßen auf dem Klei­der­rie­gel hän­gen; Frau Vail­lant bürs­te­te und rei­nig­te sie, wäh­rend der alte Phi­lo­soph in sei­nem Mor­gen­rock aus grau­em Fla­nell am Ka­min­feu­er früh­stück­te und im »Con­sti­tu­tion­nel« oder im »Jour­nal du Com­mer­ce« die Par­la­ments­ver­hand­lun­gen las.

»Lie­ber On­kel,« sag­te Cäsar, »das Ge­schäft ist ab­ge­schlos­sen, die Ver­trä­ge wer­den schon auf­ge­setzt. Trotz­dem kön­nen Sie, wenn Sie ir­gend­wel­che Be­sorg­nis­se oder Be­den­ken ha­ben, im­mer noch zu­rück­tre­ten.«

»Wa­rum soll­te ich zu­rück­tre­ten? Das Ge­schäft ist gut, wenn die Rea­li­sa­ti­on auch lan­ge dau­ern wird, wie das üb­ri­gens bei al­len si­che­ren Ge­schäf­ten der Fall ist. Mei­ne fünf­zig­tau­send Fran­ken lie­gen auf der Bank be­reit, ich habe ges­tern das Rest­kauf­geld für mein Ge­schäft in Höhe von fünf­tau­send Fran­ken er­hal­ten. Die Ra­g­ons le­gen ihr gan­zes Ver­mö­gen hier­bei an.«

»Schön. Aber wo­von le­ben sie?«

»Sie wer­den zu le­ben ha­ben, be­ru­hi­ge dich.«

»Ich ver­ste­he Sie, lie­ber On­kel«, sag­te Bi­rot­teau tief be­wegt und drück­te dem erns­ten Al­ten die Hand.

»Und wie wird die Sa­che ver­teilt?« frag­te Pil­ler­ault ab­len­kend.

»Ich neh­me drei Ach­tel, Sie und Ra­gon je­der ein Ach­tel; ich kann Ih­nen den Be­trag vor­schie­ßen, bis der no­ta­ri­el­le Ver­trag ab­ge­schlos­sen ist.«

»Schön, mein Jun­ge! Bist du üb­ri­gens so reich, daß du da drei­hun­dert­tau­send Fran­ken hin­ein­ste­cken kannst? Ich glau­be, daß du dich hier­bei stark au­ßer­halb dei­nes Ge­schäf­tes en­ga­gierst; wird das nicht dar­un­ter lei­den? Aber das ist schließ­lich dei­ne Sa­che. Soll­test du in Ver­le­gen­heit kom­men – die Ren­ten ste­hen jetzt auf acht­zig, ich könn­te zwei­tau­send Fran­ken von mei­nen Kon­sols ver­kau­fen. Aber den­ke dar­an, mein Jun­ge: wenn du dich an mich wen­dest, so greifst du das Ver­mö­gen dei­ner Toch­ter an.«

»Wie Sie von so ed­len Din­gen re­den, lie­ber On­kel, als ob es die ein­fachs­ten Sa­chen wä­ren! Sie grei­fen mir ans Herz.«

»Der Ge­ne­ral Foy hat mir eben noch ganz an­ders das Herz be­wegt! Also geh und schlie­ße ab; die Ter­rains kön­nen uns nicht weg­flie­gen und wer­den uns zur Hälf­te ge­hö­ren; und wenn man auch sechs Jah­re ab­war­ten muß, wir wer­den im­mer ei­ni­gen Er­trag ha­ben, es sind da La­ger­plät­ze, die man ver­mie­ten kann; es ist also kein Ver­lust zu be­fürch­ten, es sei denn, was ja aber eine Un­mög­lich­keit ist, daß Ro­guin mit un­serm Gel­de da­von­geht …«

»Trotz­dem hat mei­ne Frau heu­te Nacht zu mir ge­sagt, daß sie das be­fürch­te.«

»Ro­guin soll­te mit un­serm Gel­de da­von­ge­hen?« sag­te Pil­ler­ault la­chend, »und warum das?«

»Weil er den üb­len Na­sen­ge­ruch hat, sagt sie, und wie alle Män­ner, von de­nen die Frau­en nichts wis­sen wol­len, wild ist hin­ter …«

Pil­ler­ault hat­te nur ein un­gläu­bi­ges Lä­cheln, riß von ei­nem Block einen klei­nen Bo­gen ab, schrieb die Sum­me auf und un­ter­zeich­ne­te.

»Hier ist ein Scheck auf die Bank über hun­dert­tau­send Fran­ken für Ra­gon und mich. Die ar­men Leu­te ha­ben die­sem üb­len Kerl, dei­nem du Til­let, ihre fünf­zehn Wor­schi­ner Mi­nen­ak­ti­en ver­kauft, um den Be­trag voll zu ma­chen. Es preßt ei­nem das Herz zu­sam­men, wenn man bra­ve Men­schen in Not sieht. Und das sind so wür­di­ge, vor­neh­me Men­schen, die Blü­te der al­ten Bour­geoi­sie! Ihr Bru­der, der Rich­ter Po­pi­not, ahnt nichts da­von. Sie hal­ten das vor ihm ge­heim, um ihn nicht an sei­ner sons­ti­gen Wohl­tä­tig­keit zu hin­dern. Und das sind Leu­te, die, wie ich, drei­ßig Jah­re lang ge­ar­bei­tet ha­ben.«

»Gebe Gott, daß das Co­ma­gen­öl ein­schlägt,« rief Bi­rot­teau aus, »ich wür­de in dop­pel­ter Be­zie­hung glück­lich dar­über sein. Adieu, lie­ber On­kel, ich er­war­te Sie am Sonn­tag zum Di­ner mit den Ra­g­ons, Ro­guin und Herrn Cla­paron, über­mor­gen wol­len wir un­ter­zeich­nen, mor­gen ist ja Frei­tag und da ma­che ich kei­ne Ge …«

»Bist du wirk­lich so aber­gläu­bisch?«

»Lie­ber On­kel, ich wer­de mich nie­mals über­zeu­gen las­sen, daß der Tag, an dem Got­tes Sohn von den Men­schen hin­ge­rich­tet wur­de, ein glück­li­cher Tag sein kön­ne. Wir kön­nen die Sa­che ganz gut auf den 21. Ja­nu­ar ver­schie­ben.«

»Also auf Sonn­tag«, sag­te Pil­ler­ault ab­bre­chend.

»Ab­ge­se­hen von sei­nen po­li­ti­schen An­schau­un­gen,« sag­te Bi­rot­teau zu sich, wäh­rend er die Trep­pe hin­ab­ging, »gibt es, glau­be ich, nicht sei­nes­glei­chen auf Er­den. Was geht ihn ei­gent­lich die Po­li­tik an? Er be­fän­de sich doch so wohl, wenn er gar nicht an so was däch­te. Sei­ne Ver­rannt­heit be­weist, daß es eben doch kei­nen ganz voll­kom­me­nen Men­schen gibt.«

»Schon drei Uhr«, sag­te Cäsar, als er nach Hau­se kam.

»Sol­len wir denn die­se Wech­sel neh­men, Herr Bi­rot­teau?« frag­te Cöles­tin, und zeig­te auf das Pa­ket des Schirm­händ­lers.

»Ja, zu sechs Pro­zent, ohne Kom­mis­si­ons­ge­büh­ren. Lie­be Frau, lege mei­ne Sa­chen zu­recht, ich will zu Herrn Vau­que­lin, du weißt wes­halb. Vor al­lem eine wei­ße Kra­wat­te.«

Bi­rot­teau gab sei­nen Kom­mis ei­ni­ge Be­feh­le; da er Po­pi­not nicht sah, nahm er an, daß sein künf­ti­ger So­zi­us sich an­klei­de, und ging sel­ber schnell in sein Schlaf­zim­mer, wo er den Stich der Dres­de­ner hei­li­gen Jung­frau vor­fand, der, sei­ner An­ord­nung ent­spre­chend, pracht­voll ge­rahmt war.

»Ei, das ist nett«, sag­te er zu sei­ner Toch­ter.

»Aber Papa, sag’ doch lie­ber, daß es schön ist, sonst mo­kiert man sich ja über dich.«

»Nun seh ei­ner die­ses Mä­del an, das sei­nen Papa aus­schilt … Na, nach mei­nem Ge­schmack ist Hero und Le­an­der eben­so schön. Die hei­li­ge Jung­frau, das ist ein re­li­gi­öses Su­jet, das ge­hört in eine Ka­pel­le; aber Hero und Le­an­der, die wer­de ich mir kau­fen, bei den Fla­schen für das Öl bin ich da auf Ide­en ge­kom­men …«

»Aber Papa, ich ver­ste­he kein Wort.«

»Vir­gi­nie, einen Wa­gen«, rief Cäsar mit schal­len­der Stim­me, wäh­rend er sich ra­sier­te und der ängst­li­che Po­pi­not, Cäsa­ri­nes we­gen den Fuß noch mehr schlep­pend, er­schi­en.

Der Lie­ben­de hat­te noch gar nicht be­merkt, daß sein kör­per­li­ches Ge­bre­chen für sei­ne Ge­lieb­te gar nicht vor­han­den war. Ein herr­li­cher Lie­bes­be­weis, den al­lein die­je­ni­gen, die un­glück­li­cher­wei­se mit ei­nem Kör­per­feh­ler be­haf­tet sind, zu wür­di­gen wis­sen.

»Herr Bi­rot­teau,« sag­te er, »die Pres­se kann mor­gen in Tä­tig­keit ge­setzt wer­den.«

»Was ist dir denn, Po­pi­not«, frag­te Cäsar, der An­selm er­rö­ten sah.

»Ach, lie­ber Herr, ich bin so glück­lich, ich habe einen La­den mit ei­nem Hin­ter­zim­mer, ei­ner Kü­che nebst ei­ni­gen Zim­mern dar­über und Ma­ga­zin­räu­men zum Prei­se von zwölf­hun­dert Fran­ken in der Rue des Cinq-Dia­mants ge­fun­den.«

»Du mußt se­hen, daß du einen Miet­ver­trag auf acht­zehn Jah­re durch­setzt«, sag­te Bi­rot­teau. »Aber jetzt müs­sen wir zu Herrn Vau­que­lin fah­ren, wir wer­den un­ter­wegs dar­über re­den.«

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

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